Medien - OUP 09/2015

Das Kreuz mit dem Kreuz
R. Mathias Dunkel: Das Kreuz mit dem Kreuz. Rückenschmerzen psychosomatisch verstehen und behandeln. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Ernst Reinhardt Verlag, München Basel, 2007; 147 Seiten. 9 Abb., 16,90 Euro, ISBN 9783497019120

Dieses Buch stellt den Rückenschmerz aus biopsychosozialer Sicht dar. Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. med. Dunkel schildert, wie die Menschen in unserer Kultur lernen, ihre Gefühle zurückzuhalten, insbesondere die Aggressionen. Das vegetative Äquivalent der Aggressionen mit der Ausschüttung von Stresshormonen läuft unbewusst ab. Fight, Flight or Freeze: Das sind die Grundmuster unseres Verhaltens. Die Affekte sind in der Skelettmuskulatur gleichsam geronnen! Als vornehmlich mental tätige Menschen müssen wir den Bewegungsdrang zurückhalten. Durch diese Dauerhaltung versteift und verhärtet die Skelettmuskulatur und es werden Trigger- und Tenderpoints entwickelt, die dann furchtbarste Schmerzen verursachen, wenn aus latenten Trigger- und Tenderpoints manifeste komplexe „Schmerzherde“ werden. Es entwickelt sich ein Circulus vitiosus: Affekthemmung – Bereitstellung zu Kampf und Flucht – Anspannung – Schmerz. Und nun kommt das eigentliche Dilemma der Chronifizierung: Schmerz wird gelernt – aber kann ebenso verlernt werden, wie es Dunkel am Beispiel der Fakire und Shaolin-Mönche psychosomatisch darstellt.

Im Sinne einer biopsychosozialen Auffassung der Krankheit schlägt Dunkel eine ganzheitliche Behandlung vor. Dem chronischen Schmerzpatienten verordnet er weniger Medikamente als vielmehr sinnvolle Bewegung, physikalische Therapie und Lockerungsübungen. Parallel dazu soll die Psychotherapie dem Patienten nicht nur die unbewussten Affekte und Konflikte bewusst machen, sondern ihm auch helfen, Stresssituationen überhaupt zu erkennen und besser zu handhaben als bisher.

Die Schmerzbewertung geschieht zeitlich parallel mit der Verarbeitung der 4 Schmerzkomponenten (sensorisch, affektiv, vegetativ und motorisch) und kann daher vorbewusst, langsam bewusst und auch unbewusst erfolgen. Das Ergebnis dieses kognitiven Prozesses beeinflusst alle 4 Schmerzkomponenten und führt zu entsprechenden Schmerzäußerungen. Wir leiden mehr an einem Schmerz, den wir im Hinblick auf unser Wohlergehen als wichtig einschätzen, als an einem, der uns (bei gleicher Intensität) als unbedeutend erscheint.

Die häufigste Konsequenz, die den Schmerz erhöht, ist im Allgemeinen soziale Zuwendung. Diese soziale Zuwendung kann innerhalb der Familie, durch Ärzte oder durch schmerzlindernde Medikamente erfolgen, aber vor allem auch dadurch, dass sich der Betreffende sich selbst zuwendet.

In unserer leistungsorientierten Gesellschaft haben es sehr viele Menschen verlernt, sich selbst wahrzunehmen und auf sich zu achten, da Pflicht und Leistung im Vordergrund stehen und nicht mehr der Mensch selbst. Erst über den Umweg Schmerz können sich manche Menschen wieder ihrem eigenen Selbst zuwenden. Somit meint der Autor, dass der chronische Schmerz ein guter Freund sei, der einem unangenehme Wahrheiten mitteile. Mithilfe der psychosomatischen Psychotherapie könne es der Patient lernen, sich zu verändern und zu verstehen, was er sich mit seiner Symptomatik mitteilen wolle, um sich dann vom chronischen Schmerz befreien.

Im Anhang finden sich praktische Hinweise, wie Patienten zu einer geeigneten Behandlung finden können. Ein Glossar erklärt die wichtigsten Fachbegriffe, die auch im Text sehr umfassend dargestellt werden. Die Literaturliste ist interdisziplinär und weckt Interesse. Denn neben naturwissenschaftlicher Literatur finden sich Goethe, Nietzsche, Adorno, etc. sowie Psychoneuroimmunologie, Neurobiologie und psychoanalytische Literatur.

Das Buch ist eine komplexe Fundgrube für jeden, der sich mit dem Phänomen des Schmerzes –- gleichgültig aus welcher Perspektive – beschäftigt.

Beate Schneider

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