Übersichtsarbeiten - OUP 05/2017

Die Rolle des Weichteilschadens bei der Frakturbehandlung

zusätzliche Literatur finden Sie unter diesem Link

Christian von Rüden1,2 Jan Friederichs1, Sebastian Zipplies1, Severin Langer1, Mario Morgenstern3, Volker Bühren1

Zusammenfassung: Die Behandlung des Weichteilschadens bei der Frakturbehandlung erfordert neben chirurgischer Erfahrung höchste Sorgfalt und sollte einem etablierten Therapiekonzept folgen. Nur so lässt sich bei Erwachsenen wie Kindern gleichermaßen das Risiko potenzieller Extremitäten- oder gar lebensbedrohender Komplikationen wie des Kompartmentsyndroms, der tiefen Weichteilinfektion oder der Osteitis minimieren. Über die grundsätzlichen Maßnahmen wie Wundinspektion, frühzeitige Antibiotikumgabe und chirurgisches Débridement besteht allgemeiner Konsens. Basierend auf der korrekten Klassifizierung der Fraktur und des korrespondierenden Weichteilschadens sollte die Therapie stets an den jeweiligen Patienten und dessen Allgemeinzustand bzw. sein Nebendiagnosen-Spektrum angepasst sein und alle derzeit verfügbaren Behandlungsoptionen wie die Niederdruck-Wundtherapie und die dem aktuellen Stand der Wissenschaft folgende Antibiotikum-Anwendung beinhalten.

Schlüsselwörter: Weichteilschaden, geschlossene/offene Fraktur, chirurgische Behandlung, Antibiotikum, Kompartmentsyndrom, Niederdruck-Wundtherapie

Zitierweise
von Rüden C, Friederichs J, Zipplies S, Langer S, Morgenstern M,
Bühren V: Die Rolle des Weichteilschadens bei der Frakturbehandlung. OUP 2017; 5: 259–264 DOI 10.3238/oup.2017.0259–0264

Summary: Treatment of soft tissue damage during operative fracture management requires surgical experience as well as careful handling in accordance with established therapy concepts to minimize the risk for potentially limb or life threatening complications in adults and children such as compartment syndrome, deep soft tissue infection, or
osteitis. Basic principles include wound inspection, early use of antimicrobial agents, and surgical debridement. Based on the correct classification of the fracture and the corresponding soft tissue damage surgical therapy is adapted to patients’ general condition and side effects and involves currently available treatment options such as low pressure wound therapy and up-to-date antibiotic therapy.

Keywords: soft tissue damage, closed/open fracture, surgical treatment, antibiotics, compartment syndrome, low pressure wound therapy

 

 

 

Citation
von Rüden C, Friederichs J, Zipplies S, Langer S, Morgenstern M, Bühren V: The role of soft tissue damage in fracture treatment.
OUP 2017; 5: 259–264 DOI 10.3238/oup.2017.0259–0264

Einleitung

Die Kombination schwerer Knochen- und Weichteilverletzungen ist eine große Herausforderung für alle Chirurgen. Jede Verletzung eines Knochens führt zu einer Verletzung bestimmten Grades der umgebenden Weichgewebe. Sobald eine „Kommunikation“ des Knochens durch die Wunde nach außen besteht, wird die Verletzung gemeinhin als offene Fraktur beschrieben. Eine geschlossene Fraktur dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Fraktur nicht mit dem äußeren Umfeld in Verbindung tritt. Diese Kommunikation mit der Umgebung kann auf verschiedene Weise geschehen. Hochenergietraumata resultieren häufig in Durchspießungsverletzungen des Weichgewebes durch Knochen. Schussverletzungen dagegen verursachen erst Weichteilverletzungen und danach Schäden des darunterliegenden Knochens, wobei häufig zusätzlich kontaminiertes Material der Umgebung in die Wunde getragen wird. Kontaminationen sind insbesondere auch bei Bissverletzungen zu erwarten, die zu ausgedehnten Weichteil- und Knochenläsionen führen können. Somit sind offene Verletzungen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass eine Kontamination von außen stattfindet, die das Ausmaß und das funktionelle Langzeitergebnis der Knochen-Weichteil-Verletzung maßgeblich beeinflusst [1, 2]. Die langfristige Morbidität des Weichteilschadens ergibt sich insbesondere aus tiefer Weichteilinfektion, verzögerter Frakturheilung oder Pseudarthrosenentwicklung, Osteitis oder sogar notwendiger Amputation [3]. Die Frakturheilung ist signifikant von der Qualität des umgebenden Weichgewebemantels und dessen Durchblutung abhängig [4].

Chirurgen sollten nicht nur mit der Pathophysiologie des mit einer Fraktur einhergehenden Weichgewebeschadens vertraut sein, sondern vor allem auch mit Vor- und Nachteilen sowie notwendigem Zeitmanagement verschiedener Therapieoptionen. Dabei sollten sie sowohl den Lokalbefund als auch den ganzen Patienten berücksichtigen [5].

Die Inzidenz offener Frakturen liegt bei gut 3 % aller Frakturen und betrifft etwa 11,5 pro 100 000 Einwohner [2]. Gerade bei den Tibiafrakturen finden sich in fast 25 % offene Frakturen, was vermutlich mit dem – verglichen mit anderen Knochen – dünneren umgebenden Weichgewebemantel zusammenhängt [6]. Betroffen sind vor allem jüngere Männer infolge Hochenergietraumata (vor allem Verkehrs- und Sportunfälle) sowie ältere Frauen mit osteoporotischem Knochen infolge Niedrigenergietraumata (Sturz aus dem Stand) [6]. Die mit offenen Frakturen verbundene Wundinfektionsrate beträgt bis zu 25 % [7].

Klassifizierung
des Weichteilschadens

Der Schlüssel zu einem modernen Wundmanagement beinhaltet neben der sorgfältigen Untersuchung der Wunde die Klassifizierung des Weichgewebe- und des knöchernen Schadens vor dem ersten chirurgischen Débridement, um ein Behandlungskonzept festlegen und die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen anfordern zu können.

Die Klassifizierung des geschlossenen Weichgewebeschadens wird nach Tscherne und Oestern durchgeführt [8]. Sie reicht von der Stufe G0 mit fehlender oder unbedeutender Weichteilverletzung über die Stufe G1 mit oberflächlicher Schürfung oder Kontamination durch Fragmentdruck von innen und der Stufe G2 mit tiefer kontaminierter Schürfung sowie Haut- und Weichteilkontusion durch direkte Krafteinwirkung (Abb. 1) bis zu der Stufe G3 mit ausgedehnten Hautkontusionen, Quetschungen oder Zerstörung der Muskulatur sowie subkutanem Décollement mit manifestem Kompartmentsyndrom und Verletzung eines Hauptgefäßes.

Zur Klassifizierung offener Frakturen bestehen verschiedene Systeme bzw. Scores (MESI, MESS, PSI, LSI, NESSSA, AO, Byrd-Spicer) [9, 10, 11, 12, 13, 14, 15]. In späteren Untersuchungen wurde die Effektivität dieser Scores in der klinischen Anwendung infrage gestellt [16]. Durchgesetzt hat sich das Klassifikationssystem von Gustilo und Anderson von 1976 [17], welches das Ausmaß des knöchernen und des Weichteilschadens sowie die Kontamination der Wunde berücksichtigt [7]. Die Klassifikation offener Frakturen nach Gustilo und Anderson umfasst den Typ I mit Hautläsionen unter 1 cm und geringer oder fehlender Wundkontamination, hervorgerufen durch eine Durchspießung von innen. Diese Verletzungen sind mit einem Infektionsrisiko von 0–2 % behaftet. Der Typ II beschreibt eine Hautläsion über 1 cm Durchmesser mit moderatem Weichteilschaden und geringer bis mäßiger Muskelquetschung und einem Infektionsrisiko von 2–5 %. Beim Typ III besteht ein allgemein ausgedehnter Weichteilschaden mit grober Wundkontamination, zusätzlicher Verletzung von neurovaskulären Strukturen und einem beschriebenen Infektionsrisiko zwischen 5 und 50 % [17]. Die Frakturen des Typs III lassen sich hinsichtlich der Verletzungsschwere weiter in die Subtypen A–C unterteilen (Abb. 2) [7, 18].

Chirurgische Therapie
des Weichteilschadens

Erstmaßnahmen

Es besteht allgemeine Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer Initialtherapie offener Frakturen, die ein notfallmäßiges Wunddébridement mit ausgiebiger Spülung sowie die Einleitung einer flankierenden intravenösen antibiotischen Therapie beinhaltet [7, 17, 19, 20]. Entscheidend ist eine standardisierte Behandlung mithilfe eines etablierten Protokolls [21]. Im Rahmen der Behandlung Schwerverletzter bietet sich das Advanced Trauma Live Support Protokoll (ATLS) an [22]. In Punkt C (= engl. circulation; Zirkulation) des ATLS-Protokolls findet eine Untersuchung hinsichtlich einer Störungen der Durchblutung statt, wozu auch offene frakturassoziierte Wunden gehören. Falls noch nicht geschehen, ist eine Reposition von Luxationsfrakturen erforderlich. Die initiale Schienung hilft, die Durchblutung zu normalisieren und Schmerzen zu reduzieren. Die Initialdiagnostik umfasst die klinische Untersuchung inklusive Überprüfung der peripheren Pulse, ggf. unter Nutzung eines Handdopplergeräts, die Röntgendiagnostik des Knochens in 2 Ebenen sowie evtl. eine ergänzende CT-Diagnostik und bei Verdacht auf eine Gefäßbeteiligung eine CT-Angiographie [22]. Der Weichgewebeschaden sollte, begleitet von ausreichender Analgesie, systematisch hinsichtlich Größe, Tiefe und aktiver Blutung untersucht werden. Dazu gehört die Untersuchung der gesamten Zirkumferenz der betroffenen Extremität. Die Beweglichkeit der Extremität lässt sich in der Regel gut prüfen, die Sensibilität dagegen zeigt oft eine große Variabilität des Befunds, da Nerven eine hohe Toleranz gegenüber Dehnung haben und hinsichtlich des resultierenden klinischen Bilds somit oft eine erhebliche Varianz besteht [2]. Handelt es sich um eine Luxation bzw. Luxationsfraktur, so ist die umgehende Reposition noch vor der initialen Bildgebung durchzuführen und ermöglicht die Schmerzreduktion, die Verbesserung der Durchblutungssituation und die Vermeidung von Drucknekrosen.

Direkter Druck auf die Wunde und die Anlage eines Tourniquets als Ultima Ratio stoppt zwar in der Regel zuverlässig die Blutung, ist aber nur bei potenziell letaler Blutung aus der Wunde indiziert [23]. Zu diesem frühen Zeitpunkt empfehlen die etablierten Protokolle zunächst eine ausgiebige Wundreinigung und ausführliche Fotodokumentation, gefolgt von einer sterilen Abdeckung der Wunde [21]. Das Fotografieren der Wunde ermöglicht die Informationsweitergabe an den weiterbehandelnden Unfallchirurgen und vermeidet ein notwendiges repetitives Öffnen des sterilen Wundverbands. Für den Wundverband sollten sterile Kompressen verwendet werden, die ggf. mit steriler Ringer-Lösung getränkt werden [24]. Nachdem die grobe Wundkontamination entfernt worden ist, sollte keine provisorische Wundreinigung oder -exploration mehr stattfinden, bis das unfallchirurgische Team hinzugezogen worden ist [21].

Dreistufenkonzept zur Behandlung offener Frakturen

Es besteht mittlerweile allgemeiner Konsens, dass Hochenergietraumata des Weichteilgewebes ein chirurgisches Débridement erfordern, um dem Risiko einer tiefen Weichteilinfektion vorzubeugen [25], und dass von den Erstmaßnahmen das klinische Langzeitergebnis abhängt [26].

Dieses Vorgehen wurde auch für Niedrigenergietraumata überprüft. Yang et al. haben 2003 empfohlen, dass erstgradig offene Frakturen wie geschlossene Frakturen behandelt werden dürfen [27], obwohl dies aktuell eher als Ausnahme von der Regel gilt, bis weitere Evidenz nachgewiesen worden ist. In der täglichen Praxis empfehlen wir das umgekehrte Vorgehen, nämlich geschlossene Frakturen mit Hautabschürfungen wie erstgradig offene Frakturen zu behandeln (Abb. 1). Für zweit- und höhergradig offene Frakturen besteht Einigkeit, dass sie in aller Regel operativ versorgt werden müssen. Das chirurgische Wunddébridement ist der Schlüssel zum Management offener Frakturen [28].

Unser Behandlungsprotokoll sieht ein Dreistufenkonzept mit zweistufigem Débridement der Weichgewebe und Frakturstabilisierung in der 3. Stufe vor (Abb. 3 und 4). Zunächst wird ein Wundabstrich aus dem Wundgrund entnommen. Dann wird die notfallmäßig geschiente Extremität mit steril angerichteter Braunol-Lösung und sterilen Handschuhen, Bürste und Bauchtüchern gereinigt.

Das chirurgische Débridement der Stufe II wird im Operationssaal unter sterilen Kautelen durchgeführt. Dabei wird die Weichteilwunde mit Ringer-Lösung ausgiebig gespült und die Vitalität des Gewebes anhand der sog. „4 K“ (Konsistenz, Kolorit, Kontraktilität, Kapillarblutung) überprüft (Abb. 5). Nekrotische Areale werden ebenso wie der Wundrand exzidiert (Abb. 6). In Stufe III wird die Fraktur über ein passageres oder definitives geschlossenes oder offenes Verfahren stabilisiert. In der Regel bietet sich bei offenen Frakturen zur primären Stabilisierung die passagere Fixierung über einen externen Fixateur an (Abb. 7) [29, 30, 31, 32], gefolgt von einer abschließenden Duplexsonografie der peripheren Pulse. Daran schließt sich ein permanentes Monitoring der Durchblutungssituation an (Abb. 8). Bei höhergradigen Gewebeschädigungen ist zudem eine konsequente Kompartmentüberwachung erforderlich.

Zeitmanagement der operativen Maßnahmen

Nachdem lange Zeit die sog. „6-Stunden-Regel“ unangetastet blieb, in der das initiale chirurgische Débridement des Weichteildefekts bei offenen Frakturen durchgeführt werden sollte [33], konnten Untersuchungen der vergangenen Jahre keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der klinischen Resultate und des Infektionsrisikos nach verzögertem Wunddébridement (meist innerhalb von 24 Stunden) im Vergleich zum frühzeitigen Débridement innerhalb von 6 Stunden nach Trauma zeigen [34, 35, 36, 37, 38]. Interessant ist, dass dieses Vorgehen auch für Gustilo und Anderson Typ-III-Läsionen bestätigt wurde [37, 38, 39]. Eine Studie konnte bei Kindern keinen Vorteil eines sofortigen chirurgischen Débridements innerhalb von 6 Stunden posttraumatisch zeigen, solange eine hochdosierte intravenöse Antibiotikumgabe sofort begonnen worden war [40]. Diesen Untersuchungen folgend gilt derzeit der weltweit anerkannte Behandlungsstandard, alle offenen Wunden innerhalb von 24 Stunden posttraumatisch zu explorieren. Die sofortige Exploration ist bei allen stark kontaminierten, devaskularisierten oder kompartmentgefährdeten Wunden sowie grundsätzlich bei polytraumatisierten Patienten indiziert [21, 41, 42].

Definitive Weichteil- und
Frakturbehandlung

Die definitive Weichteildeckung reduziert genauso wie die definitive Osteosynthese die Infektionsrate und die Langzeitmorbidität. Durch die korrekte Frakturreposition wird eine Wiederherstellung des Alignements der Extremität erreicht. Es besteht jedoch nach wie vor eine Kontroverse, ob dies über interne oder externe Fixierungsmethoden erreicht werden sollte. Welche Methode auch immer gewählt wird, sollte sie eine weitere Kompromittierung der Weichteile verhindern und gleichzeitig weitere Débridements mit Überprüfung der Wunde sowie den späteren Wundverschluss ermöglichen.

Die verzögerte definitive Weichteildeckung stellt heute das weltweit akzeptierte Standardverfahren dar. Anzustreben ist der definitive Wundverschluss bzw. die definitive Weichteildeckung innerhalb von 7 Tagen posttraumatisch [43], jedoch ist dies von weiteren Faktoren wie der chirurgischen Erfahrung und Verfügbarkeit, dem gegenwärtigen Zustand des Patienten und dem Grad der Verletzung abhängig. Auch der grundsätzliche Zustand des Patienten ist im Behandlungskonzept zu berücksichtigen. Nebenerkrankungen wie Diabetes mellitus können das Risiko einer Entzündung des Wundgrunds erhöhen und die chirurgische Behandlung erschweren, was in früheren Untersuchungen zu einer erhöhten Amputationsrate in dieser Patientengruppe führte [44]. Ebenso können ein reduzierter Allgemeinzustand, eine verringerte Immunabwehr oder Nikotinabusus zu einem größeren Wundinfektionsrisiko, einer vermehrten Pseudarthrosebildung oder einer erhöhten Versagensrate der definitiven Weichteildeckung führen [43].

Behandlung von
Gefäßverletzungen

Gefäßverletzungen treten bei bis zu 4 % aller offenen Frakturen auf und benötigen häufig schnelle chirurgische Intervention, ggf. durch Shunts oder Interposition eines Venentransponats [45]. Neben der klinischen Überprüfung der Fußpulse können Gefäßläsionen am besten mittels Dopplersonografie ermittelt werden und zeigen sich durch Zeichen der Ischämie mit pulsloser Extremität und neurologischen Defiziten [46]. Insbesondere nach Gelenkluxationsverletzungen ist die zusätzliche Durchführung einer CT-Angiografie erforderlich, um Intimaläsionen auszuschließen, die zu einer Folgeschädigung der Extremität führen können [47]. Die CT-Angiografie kann außerdem angewendet werden, um eine Ischämie der Extremität zu bilanzieren und im Zweifelsfall Grundlage für die Entscheidung zu sein, ob eine erhaltungswürdige Operation oder eine Amputation (Abb. 2) erforderlich wird [46, 48]. Die Wiederherstellung der Durchblutung sollte innerhalb von 6 Stunden nach Trauma erfolgen, obwohl der Gewebeuntergang schon nach 3 Stunden posttraumatisch beginnt [21].

Kompartmentsyndrom

Das akute Kompartmentsyndrom ist eine schwerwiegende Komplikation auch bei offenen Frakturen, da hier die Kompartimente nicht automatisch eröffnet sein müssen. Auch Patienten mit offenen Frakturen können diese gravierende Komplikation entwickeln [49]. Insbesondere bei intubierten und beatmeten Patienten oder bei Bewusstlosen muss sehr sorgfältig auf die Ausbildung einer Kompartmentsymptomatik geachtet werden [50]. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass es grundsätzlich besser ist, eine traumatisch eröffnete Wunde nach dem initialen Débridement offen zu belassen [20]. Mittlerweile besteht allerdings ein Trend zum frühzeitigen Wundverschluss [51].

Niederdruck-Wundtherapie

Nach Einleitung einer offenen Wundbehandlung sollte ein erneutes Débridement (sog. Second Look) nach 24–48 Stunden in Vollnarkose durchgeführt werden, um nochmals eine vollständige und systematische Untersuchung der Wunde von der Oberfläche bis zum Wundgrund durchführen zu können. Frakturfragmente in der Wunde, die potenziell noch durchblutet sind, werden dabei belassen.

Eine hervorragende Alternative zur offenen Wundbehandlung stellt die Vakuumversiegelung der Wunde dar. Diese sog. Niederdruck-Wundtherapie (alternativ verwendete Begriffe: Vakuumtherapie, VAC-Therapie) hat die Behandlung offener Frakturen gewissermaßen revolutioniert und wird mittlerweile standardmäßig zum passageren Wundverschluss angewendet [52]. Diese Therapieoption hilft, die Keimbelastung der kontaminierten Wunde zu reduzieren und die Wundoberfläche bis zum definitiven Wundverschluss bzw. zur definitiven Deckung zu verkleinern. Sie fördert die lokale Durchblutung und die Bildung von Granulationsgewebe und reduziert die Gewebeschwellung [52, 53, 54]. Aktuell gilt die Empfehlung, die Niederdruck-Wundtherapie bei jeder Wunde, die nach dem initialen Débridement offen belassen wird, bis zur definitiven chirurgischen Intervention anzuwenden [21].

Antibiotikumeinsatz

Die Diskussion über den Einsatz eines Antibiotikums reicht von der Auswahl des Antibiotikums, seiner Darreichungsform und seiner Dosierung sowie dem Zeitpunkt seines Einsatzes bis hin zur Grundsatzdebatte, ob oder ob nicht die Antibiotikumgabe in der Initialtherapie offener Frakturen indiziert ist. Mittlerweile ist es allgemein anerkannt, dass der Einsatz von Antibiotika bei der Behandlung offener Frakturen erforderlich ist [7, 17, 55]. Es konnte gezeigt werden, dass bei offenen Frakturen, die ausschließlich chirurgisch behandelt wurden, die Infektionsrate bei 14 % lag, während sie nach zusätzlichem Einsatz von Antibiotika auf unter 3 % abfiel [55]. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass die Infektionsrate bei offenen Frakturen direkt vom Zeitpunkt der sterilen Wundabdeckung und dem Beginn einer antibiotischen Therapie abhängig ist [56]. Den aktuellen Richtlinien der Paul-Ehrlich-Gesellschaft folgend ist die Gabe von Antibiotika bei offenen Frakturen indiziert und sie werden in unserem Protokoll bei offenen Frakturen so früh wie möglich eingesetzt, wenn möglich innerhalb von 3 Stunden nach dem Trauma [57]. Dabei wird ein Kombinationspräparat aus Aminopenicillin und ?-Laktamase-Inhibitor alle 8 Stunden intravenös gegeben. Gegenüber den Cephalosporinen der 2. Generation hat es den Vorteil, dass es mit weniger Komplikationen wie einer Clostridium-difficile-assoziierten Colitis verbunden ist. Je nach Verschmutzungsgrad wird bei der Anwendung eines Cephalosporins der 2. Generation dieses mit einem anaerob wirksamen Antibiotikum kombiniert. Bei einer echten Penicillinallergie wird der Einsatz von Clindamycin empfohlen.

Zu unterscheiden ist grundsätzlich zwischen prophylaktischer und therapeutischer Antibiotikumtherapie. Bei Gabe über 24 Stunden handelt es sich definitionsgemäß um eine Antibiotikumtherapie. Bei stark verschmutzten offenen Wunden (Gustilo und Anderson Typ III) ist die zusätzliche Gabe eines anaerob wirksamen Antibiotikums für maximal 72 Stunden bzw. nicht länger als 24 Stunden nach Wundverschluss erforderlich [5]. Hinsichtlich der Dauer der Antibiotikumgabe sieht unser Schema, angelehnt an die Empfehlungen von Südkamp et al. 2006 [5], eine sog. Single-Shot-Gabe im Sinne einer Prophylaxe bei offenen Frakturen des Typs I nach Gustilo und Anderson vor, während das Antibiotikum bei Frakturen des Typs II über 48 Stunden gegeben wird. Danach werden die Abstriche erstmals abgefragt. Sind diese negativ, wird das Antibiotikum abgesetzt, andernfalls wird die prophylaktische Gabe in eine resistenzgerechte therapeutische Gabe umgewandelt. Bei drittgradig offenen Frakturen handelt es sich grundsätzlich um eine antibiotische Therapie, die über 10 Tage geführt wird. Eine Anpassung erfolgt ebenfalls nach Erhalt der ersten Abstriche (nach 48 Stunden) sofern erforderlich. Ist das Langzeitergebnis der intraoperativ entnommenen Abstriche nach 10 Tagen negativ, wird die antibiotische Therapie abgesetzt.

Zur Tetanusgabe besteht Einigkeit, dass eine Auffrischung vorgenommen werden sollte, wenn die letzte Impfung mehr als 10 Jahre zurückliegt oder die Anamnese nicht eindeutig ist [58, 59].

Zusammenfassung

Die Behandlung des Weichteilschadens bei der Therapie geschlossener und offener Frakturen erfordert neben chirurgischer Erfahrung höchste Sorgfalt und sollte einem etablierten Therapiekonzept folgen. Nur so lässt sich das Risiko potenzieller Extremitäten- oder gar lebensbedrohlicher Komplikationen wie eines Kompartmentsyndroms, einer tief reichenden Weichteilinfektion oder einer Osteomyelitis reduzieren. Dies gilt für die Behandlung von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen. Über die grundsätzlichen Maßnahmen wie Wundinspektion, frühzeitiger Antibiotikumeinsatz und chirurgisches Débridement besteht allgemeiner Konsens. Ausgehend von einer korrekten Klassifizierung des Weichteilschadens und der Fraktur sollte die Therapie immer auch an den jeweiligen Patienten und dessen Allgemeinzustand bzw. sein Vorerkrankungsspektrum angepasst sein. Von diesen Grundsätzen ausgehend entwickeln sich die modernen Behandlungsstrategien stetig weiter, wie es das Beispiel der Niederdruck-Wundtherapie zeigt, die in den vergangenen Jahren die operative Behandlung offener Frakturen revolutioniert hat.

 

Interessenkonflikt: Keine angegeben

 

Korrespondenzadresse

Dr. med. Christian von Rüden

BG Unfallklinik Murnau

Professor-Küntscher-Str. 8

82418 Murnau

christian.vonrueden@bgu-murnau.de

Literatur

1. Tu YK, On Tong G, Wu CH, Sananpanich K, Kakinoki R: Soft-tissue injury in orthopaedic trauma. Injury 2008; 39 Suppl 4: 3–17

2. Jordan DJ, Malahias M, Khan W, Hindocha S: The ortho-plastic approach to soft tissue management in trauma. Open Orthop J 2014; 8: 399–408

3. Rittmann WW, Schibli M, Matter P, Allgower M: Open fractures. Long-term results in 200 consecutive cases. Clin Orthop Relat Res 1979; 138: 132–140

4. Harry LE, Sandison A, Pearse MF, Paleolog EM, Nanchahal J: Comparison of the vascularity of fasciocutaneous tissue and muscle for coverage of open tibial fractures. Plast Reconstr Surg 2009; 124: 1211–1219

5. Jaeger M, Maier D, Kern WV, Südkamp NP: Antibiotics in trauma and orthopedic surgery – a primer of evidence-based recommendations. Injury 2006; 37 Suppl 2: S74–80

6. Court-Brown CM, Rimmer S, Prakash U, McQueen MM: The epidemiology of open long bone fractures. Injury 1998; 29: 529–534

7. Gustilo RB, Mendoza RM, Williams DN: Problems in management of type III (severe) open fractures a new classification of type III open fractures. J Trauma 1984; 24: 742–746

8. Tscherne H, Oestern HJ: Die Klassifizierung des Weichteilschadens bei offenen und geschlossenen Frakturen. Unfallheilkunde 1982; 85: 111–115

9. Gregory RT, Gould RJ, Peclet M, Wagner JS et al.: The mangled extremity syndrome: a severity grading system for multisystem injury of the extremity. J Trauma 1985; 25: 1147–1150

10. Johansen K, Daines M, Howey T, Helfet D, Hansen ST Jr: Objective criteria accurately predicts amputation following lower extremity trauma. J Trauma 1990; 30: 568–573

Fussnoten

1 Abteilung Unfallchirurgie, BG Unfallklinik Murnau, Deutschland

2 Universitätsinstitut für Biomechanik, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich

3 Abteilung Traumatologie, Universitätsspital Basel, Schweiz

 

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