Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Dissoziative Bewegungsstörungen in der Begutachtung des Stütz- und Bewegungsapparats*

Laura Hettfleisch1, Jürgen Hettfleisch2

Zusammenfassung: Seelische Gesundheitsstörungen finden ihren Ausdruck durchaus nicht selten in Beschwerden und Symptomen am Stütz- und Bewegungsapparat. Bislang existiert lediglich eine einzige, allgemein anerkannte Leitlinie zur Bewertung chronischer Schmerzen. Die Einschätzung anderer psychischer Phänomene erfolgt dagegen weiterhin uneinheitlich

Schlüsselwörter: Dissoziative Bewegungsstörung, Orthopädie und Unfallchirurgie, ärztliches Gutachten

Zitierweise
Hettfleisch L, Hettfleisch J: Dissoziative Bewegungsstörungen in der Begutachtung des Stütz- und Bewegungsapparats.
OUP 2017; 3: 172–174 DOI 10.3238/oup.2017.0172–0174

Summary: Psychiatric disorders may mimic orthopedic symptoms and diseases. Until today there is however only one single generally approved guideline – addressing the assessment of chronic pain. Other psychological issues in a medicolegal orthopedic setting are still neglected meanwhile.

Keywords: Dissociative movement disorder, orthopedic surgery, medical expert witness

Citation
Hettfleisch L, Hettfleisch J: Dissociative movement disorders in a
medicolegal orthopedic setting.
OUP 2017; 3: 172–174 DOI 10.3238/oup.2017.0172–0174

Einleitung

Beschwerden am Stütz- und Bewegungsapparat treten nicht selten gemeinsam mit psychischen Gesundheitsstörungen auf [1, 2]. Der Medizinische Sachverständige im Orthopädisch-Unfallchirurgischen Gebiet ist in der Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen hiermit durchaus vertraut. Schließlich existiert dazu eine fachübergreifende Leitlinie [6]. Die Begutachtung von Personen mit Dissoziativen Bewegungsstörungen stellt ihn dagegen immer wieder vor eine Herausforderung. Nicht selten gilt es dabei einzuschätzen, ob ein psychiatrisches Zusatzgutachten angeregt werden muss. Zudem ist es bereits wegen der hohen Qualitätsanforderungen an ein Gutachten angebracht, die Dissoziation von einem ihm durchaus geläufigen, bewusstseinsnahen Verdeutlichungsverhalten zu unterscheiden.

Die Gesundheitsstörung selbst ist nach der ICD-10 (F44.4) definiert als „vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder“. Dabei besteht große Ähnlichkeit mit fast jeder Form von Ataxie, Apraxie, Akinesie, Aphonie, Dysarthrie, Dyskinesie, Anfällen oder Lähmungen. Hintergrund ist in aller Regel ein für den/die Betroffene(n) ansonsten unerträglicher, seelischer Konflikt. Regelmäßig orientiert sich das Dargebotene am individuellen Krankheits- bzw. Anatomieverständnis – welches dem organmedizinischen Wissen des Sachverständigen oft zuwider läuft [4]. Charakteristisch ist zudem ein schlagartiger Beginn der Symptomatik im Anschluss an ein Bagatelltrauma. Oft sind Frauen mit medizinischen Kenntnissen betroffen.

Anhand zweier Fälle aus dem Begutachtungsalltag sollen die diesbezüglichen Besonderheiten vor Augen geführt werden:

Kasuistik 1

Eine 46-jährige Frau stellt sich zur orthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung vor. Sie hat ein Veterinärmedizinstudium abgebrochen und lebt mit ihrem 14-jährigen Sohn in einem Bauwagen. Dort versorgt sie zahlreiche Tiere (Hühner, Hunde, Ziegen usw.) und bezieht nun bereits seit einigen Jahren ALG II. Unmittelbar nach einer Lumbalpunktion 2012 kommt es zu einer rechtsseitigen Beinlähmung, wegen der sie nun einen Elektrorollstuhl begehrt. Sie klagt deshalb gegen ihre Krankenkasse (Sozialgesetzbuch SGB V). Eine organneurologische Lähmungsursache konnte bereits vor der orthopädisch-unfallchirurgischen Untersuchung ausgeschlossen werden.

Zum Untersuchungstermin erscheint die Probandin an 2 Unterarmgehstützen. Ein Indiz für die Schonung des rechten Beins ist die Minderbeschwielung ihrer gleichseitigen Fußsohle (Abb. 1). Der aufrechte Gang ist ihr aufgrund der Bewegungsstörung oft nicht möglich, sodass sie häufig auf allen Vieren durch ihren Bauwagen kriecht. Belege dafür sind eine Bursitis praepatellaris rechts sowie eine kräftige Schwiele an gleicher Stelle links (Abb. 2). Der Muskelmantel ihrer beiden Beine ist dennoch symmetrisch und unauffällig.

Auch ohne eingehende psychiatrische Kenntnisse vermag der orthopädisch-unfallchirurgische Sachverständige ihre dissoziative Gangstörung also zu erfassen. Ist das begehrte Hilfsmittel jedoch medizinisch notwendig? Ursachenunabhängig ist die Krankenkasse für den Ausgleich einer Behinderung verantwortlich – die vorliegend aufgrund der Bewusstseinsferne des Vorgangs auch tatsächlich besteht. Ein Elektrorollstuhl ist allerdings wegen der örtlichen Gegebenheiten in und vor einem Bauwagen nicht zweckmäßig.

Kasuistik 2

Eine 44-jährige Physiotherapeutin stellt sich zur Begutachtung vor. 2010 erleidet sie mit ihrem Fahrrad einen Wegeunfall (SGB VII). Dabei stürzt sie auf ihre rechte Körperhälfte. Beschwerden aufgrund unfallbedingter Prellungen gehen nach einigen Wochen schleichend in eine Lähmung des rechten Beins über. Im daraufhin angefertigten MRT zeigen sich eine symptomlose Syringomyelie von Hals- und Brustwirbelsäule (Abb. 3) sowie eine Bandscheibenraumforderung C6/7. Nach deren Operation 2011 (Interkorporelle Spondylodese mit stand-alone Cage) kommt es nicht zu einer funktionellen Verbesserung. Zwei weitere Operationen von dorsal bei C6/7 folgen, jeweils unter der Diagnose eines „Traumatischen tethered-cord-Syndroms“ – wobei freilich im Wesentlichen Verwachsungen infolge der vorangegangenen Spondylodese gelöst werden. Zum Untersuchungszeitpunkt sitzt die Probandin mit einer inkompletten, funktionellen Querschnittlähmung ab C4 im Rollstuhl (Abb. 4), mit Ihrem Ehemann als Hilfsperson – ebenfalls Physiotherapeut. Elektrophysiologie durchgehend ohne pathologischen Befund.

Bei diesem Beispiel stellt sich die Frage, ob die beschriebene Lähmung als Unfallfolge zu werten ist. Bei entsprechender Disposition kann freilich ein noch so geringes und unbedeutendes Trauma für die Manifestation eines Seelenleidens, wie vorliegend, ausreichen [5]. Jenes ist demnach austauschbar und allenfalls Gelegenheitsursache – unfallrechtlich also nicht wesentlich und demnach auch nicht kausal für die tragische Entwicklung der Probandin.

Zusammenfassung

Seelische Gesundheitsstörungen gehen vielfach mit Beschwerden und Symptomen am Stütz- und Bewegungsapparat einher, worauf Schiltenwolf bereits 2002 hingewiesen hat [3]. Dennoch hat bislang lediglich die Bewertung chronischer Schmerzen Eingang in eine fachübergreifende Begutachtungsleitlinie gefunden [6]. Dissoziative Bewegungsstörungen, mit denen sich ein Orthopäde und Unfallchirurg zuweilen ebenfalls auseinanderzusetzen hat, werden dagegen bislang lediglich kasuistisch erfasst. „Psycho“-Zusatzgutachten können dennoch vermeidbar sein. Dazu wäre es freilich hilfreich, wenn auch zu jenem Sachverhalt belastbare und konsentierte Vorgaben verfügbar wären.

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