Informationen aus der Gesellschaft - OUP 04/2018

Ein echter Knochenjob – damals und heute
Deutsches Orthopädiemuseum wurde nach zweijähriger Pause in neuen Räumen wiedereröffnet

Nicole Unruh1

Die bundesweite Museumslandschaft ist um eine Attraktion reicher: Nach zweijähriger Schließung, Umbau und Umzug wurde das Deutsche Orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum Mitte Januar 2018 in Frankfurt wiedereröffnet. Die Sammlung in den Räumen der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim spiegelt die rasante medizinische Entwicklung der Orthopädie in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts.

Löcher in der Schädeldecke, ein ausgekugelter Arm, Rippenbrüche und Knick-Plattfüße mit Arthrose: Dem Skelett in der Vitrine blieb nichts erspart. „Hier zeigt sich, welche Erkrankungen und Verletzungen an menschlichen Knochen möglich sind“, sagt Prof. Dr. Andrea Meurer. Daher zählt die Ärztliche Direktorin und Geschäftsführerin der Orthopädischen Uniklinik dieses Exponat der Paläopathologie zu ihren Lieblingsstücken. Der museumsreife „Patient“ in der Vitrine wurde aus Knochen frühhistorischer Funde zusammengesetzt. Dem gegenüber steht ein künstliches Skelett, das die modernen Behandlungsverfahren der Orthopädie illustriert – von der Schulter-, Hüft- oder Knieprothese über die gesamte Wirbelsäule bis hin zur Fußchirurgie. „Das ist für unsere Patienten sehr hilfreich“, weiß Andrea Meurer. So können sie sich je nach Erkrankung oder Verletzung bildlich vorstellen, was im Inneren ihres Körpers bei einer Operation passieren wird.

Mit rund 250 Original-Exponaten zeigt das wiedereröffnete Frankfurter Museum, wie sich die Diagnose und Behandlung von Erkrankungen im Bewegungsapparat im Laufe der Zeit gewandelt hat. Zu sehen sind unterschiedlichste technische Hilfsmittel, die in den vergangenen Jahrhunderten beeinträchtigten Menschen halfen, beweglich zu bleiben – vom Rollstuhl mit Handantrieb bis zum Dreirad, das speziell für Kinder mit Hüftdysplasie entworfen wurde. Eine „historische Muckibude“ stellt laut Meurer die Entwicklung der Heilgymnastik seit 1890 vor. Hinzu kommen seltene Kunstgelenke, Prothesen und Implantate, aber auch Geräte zum künstlichen Knochenbruch und einige skurrile Apparate, die Fehlstellungen der Extremitäten korrigieren sollten.

Kettensäge öffnete Schädel – ohne Narkose

Eines der herausragenden Exponate des Hauses mutet besonders gruselig an: Das von Bernhard Heine um 1830 erfundene, kompliziert konstruierte „Osteotom“ ist eine Art Kettensäge, mit der sich Knochen durchtrennen und Schädel öffnen ließen – und das rund 60 Jahre vor der glorreichen Entdeckung der Äthernarkose, die das Museum ebenfalls beleuchtet. „Da half dem Patienten nur eines: Alkohol trinken bis zur Bewusstlosigkeit“, berichtet die Pressesprecherin der Klinik, Dorothea Liesenberg. Diese allererste Knochensäge war auch schon im Senckenbergmuseum zu sehen, demnächst gehen einige Leihgaben des Hauses an die Berliner Charité.

Das Museum in Frankfurt ist in seiner Art einzigartig: Für kein anderes medizinisches Fachgebiet gibt es eine für Experten wie Laien „begehbare“ Dokumentation über die Entwicklung von Diagnose und Behandlung. Das Deutsche Orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum wurde bereits 1959 in Würzburg gegründet. Als es dort durch die wachsende Anzahl der Exponate an Platz mangelte, zog die Einrichtung 1995 in den Keller des Klinikums Friedrichsheim nach Frankfurt um. Wegen eines Wasserschadens blieb die Ausstellung rund zwei Jahre geschlossen. Mit einem zeitgemäßen Konzept bezog die Sammlung nun neue Räumlichkeiten nahe dem Haupteingang. Teile der Schau wurden zudem in die Wartebereiche integriert: So sind in der Röntgenabteilung historische Geräte und ein Foto der allerersten Röntgenaufnahme von 1895 (die Hand von Wilhelm Röntgens Frau samt Ehering) zu sehen. „Das kann Patienten wie Angehörigen die Angst nehmen und Wartezeiten verkürzen“, sagt Prof. Meurer.

Vom Holzbein zur
olympiareifen Prothese

Im eigentlichen Museum wird sich beim Blick auf historische Korsette und Prothesen manch einer glücklich schätzen, in der heutigen Zeit zu leben. Zu sehen sind „Blechpanzer“ von 1579, die es monatelang zu tragen galt, oder künstliche „Gebrauchshände“, die aus drei Greifhaken bestanden. „Gerade die Hände erfordern eine sehr spezielle Orthopädietechnik – der Erste Weltkrieg hat hier die Entwicklung von Prothesen enorm vorangetrieben“, erläutert Meurer. Heutzutage lässt sich beispielsweise beim Verlust eines Daumens ein anderer Finger dorthin versetzen, der dessen Funktion übernimmt. Modernste Prothesen arbeiten gar mit Nervenimplantaten: Ein Chip unter der Haut sendet ihnen Signale, wenn eine Bewegung ausgeführt werden soll.

„Ich finde es wirklich spektakulär, was alles möglich ist“, betont Andrea Meurer. Das gelte auch für die Unterschenkelprothesen aus karbonfaserverstärktem Kunststoff, die dem Südafrikaner Oscar Pistorius ungeahnte Sprints bis hin zu den Olympischen Sommerspielen 2012 ermöglichten – vor nicht allzu langer Zeit half bei solchen Versehrungen nur das Holzbein. Gerne würde die Ärztliche Direktorin derartige Errungenschaften in einer modernen Museumsabteilung präsentieren: „Doch dafür fehlt uns das Geld.“

Auf Unterstützung hofft Meurer auch im Hinblick auf die hauseigene Bibliothek: Fast 6.000 Bücher und Druckwerke dokumentieren knapp drei Jahrhunderte Orthopädiegeschichte. „Hier schlummern wahre Schätze, aber wir haben kaum Zeit, uns damit zu beschäftigen.“ Schließlich verbuchte die europaweit renommierte Klinik in Frankfurt allein 2017 mehr als 5.000 stationäre und 20.000 ambulante Patienten. Daher hofft Meurer auf Promovenden, „die unsere Schätze aufarbeiten“.

Noch in die Ausstellung integriert wird das Buch „Orthopädie, oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern“. In diesem Werk, das der französische Arzt Nicolas Andry 1741 veröffentlichte, taucht der Fachbegriff Orthopädie zum ersten Mal auf. Andry regte an, Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Beine durch Schienen zu korrigieren. Dieser Vorschlag war revolutionär, denn bis dato galten Verkrüppelungen als gottgegeben und kaum beeinflussbar. Seitdem sind viele Krankheiten verschwunden, und kein Kind muss heute noch an einer Hüftgelenkluxation oder einem Klumpfuß leiden. Das gilt zumindest für hiesige Breitengrade: „Durch die Flüchtlingsbewegungen sehen wir seit 2016 wieder Dinge, die man hier gar nicht mehr kennt“, berichtet Klinikdirektorin Meurer. „Das bringt uns ganz aktuell ein Stück Medizinhistorie vor die Haustür.“

Das Museum

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