Übersichtsarbeiten - OUP 11/2014

Extremitätenspätfolgen nach Gliedmaßenamputation
Nach einem Poster für die 62. Jahrestagung der VSOUBased on a scientific poster for the 62nd VSOU-Congress

J. Hettfleisch1, L. Hettfleisch2

Zusammenfassung: Jahrzehnte im Anschluss an die schwere Schädigung einer paarigen Gliedmaße oder deren Amputation sind überlastungsbedingte Phänomene zu erwarten – auch auf der Gegenseite, was die deutsche Gutachtenliteratur bislang nicht angemessen würdigt.

Schlüsselwörter: Gliedmaßenamputation, Überlastung, Folgeschaden

Zitierweise
Hettfleisch J., Hettfleisch L: Extremitätenspätfolgen nach Gliedmaßenamputation.
OUP 2014; 11: 554–557 DOI 10.3238/oup.2014.0554–0557

Abstract: Contralateral damage and overuse phenomena in the remaining arm or leg may occur several decades after severe injury to an upper or lower extremity – despite the fact that this is not generally accepted in German literature.

Keywords: limb amputation, overuse, subsequent damage

Zitierweise
Hettfleisch J., Hettfleisch L: Late complications of severe limb injuries. OUP 2014; 11: 554–557 DOI 10.3238/oup.2014.0554–0557

Einleitung

In der deutschen Gutachtenliteratur, die letztlich einen wissenschaftlichen Konsens widerspiegeln soll, wird unter Bezug auf Arbeiten von Arens [1, 2] postuliert, Amputationsfolgeschäden kämen an einer verbliebenen, paarigen Gliedmaße nicht zustande [3, 4]. Arens hat seine Beobachtungen allerdings nur wenige Jahre nach einer erlittenen Schädigung an Heimkehrern aus dem 2. Weltkrieg gemacht, weshalb zu prüfen ist, ob dessen Erkenntnisse selbst nach einem inzwischen erheblich längeren Beobachtungszeitraum weiterhin Bestand haben.

Kasuistiken

Fall 1: G. R., geb. 20.04.1928 (Abb. 1-2); Von Granate verursachter Weichteilschaden am rechten Unterarm durch einen „Rohrkrepierer“ mit dauerhafter, kompletter Parese von N. medianus und N. ulnaris; Zeitraum zwischen Gliedmaßenschädigung und Begutachtung: 65 Jahre. Geltend gemachter Sekundärschaden: Rhizarthrose links.

Arens [1, 2] hat seine Befunde an Beinamputierten erhoben, weshalb sie auf den massiven Mindergebrauch einer oberen Gliedmaße nicht ohne Weiteres übertragbar sind. Eine umfassende Recherche – sowohl in der gängigen Deutschen Gutachtenliteratur als auch in der Internationalen Medizindatenbank MEDLINE – offenbart keine einzige, belastbare Aussage zu Schädigungsfolgen an einem verbliebenen Hand-Arm-System bei einer massiven Gebrauchsminderung oder Amputation der Gegenseite. In Anbetracht der radiologisch erkennbaren Mindermineralisation (Inaktivitätsosteoporose) besteht im vorliegenden Fall kein Zweifel an einem dauerhaft reduzierten Gebrauch der rechten Hand. Datta und Kollegen [5] haben Personen nach dem Verlust eines Arms nachuntersucht und an der nicht betroffenen, gegenseitigen Gliedmaße häufiger Überlastungsbeschwerden festgestellt, als in der Normalbevölkerung. Über die Arthrosehäufigkeit an den oberen Extremitäten wird allerdings weder in jener Studie noch in einer anderen Veröffentlichung berichtet. Jones und Davidson [6] kommen anhand von 46 Fällen zu der Aussage, dass bei der Hälfte aller von einer Arm-Amputation betroffenen Personen „gesundheitliche Schwierigkeiten“ im verbliebenen Arm bestünden. McComas und Kollegen [7] haben die elektrophysiologischen Konsequenzen einer Amputation auf die gegenseitige, verbliebene Extremität untersucht und dort gleichfalls Auffälligkeiten festgestellt, die sie als überlastungsbedingt interpretieren. Ähnliches berichten Harden und Mitarbeiter [8].

Fall 2: H. S., geb. 02.10.1926 (Abb. 3-4); Unterschenkelamputation rechts nach massiver Schädigung des Beins durch eine Artilleriegranate; Zeitraum zwischen Gliedmaßenschädigung und Begutachtung: 68 Jahre. Geltend gemachter Sekundärschaden: Gonarthrose links.

Schönberger, Mehrtens und Valentin [3] (2010) stellen ebenfalls auf die Ergebnisse von Arens ab, wenn sie ausführen, dass „in früheren Untersuchungen ... bei Amputierten weniger Arthrosen ... am unfallverletzten Bein, als bei Nichtamputierten gefunden“ worden seien. Dies solle daran liegen, „dass der Amputierte nur etwa ein Drittel (Oberschenkel) bzw. die Hälfte (Unterschenkel) der Zeit eines Gesunden geht und steht ....“. Zum Beleg dafür wird auf inzwischen mehr als 30 Jahre alte Arbeiten von Rompe und Niethard [9] verwiesen. Jene haben allerdings im Kern lediglich die Argumentation Arens‘ aufgegriffen und vertieft – ohne ihr eigene, neue Erkenntnisse hinzuzufügen.

Ähnliches wird in dem Standardwerk Orthopädisch-Unfallchirurgische Begutachtung [4] formuliert. Dort wird zudem auf eine Arbeit von Burke und Mitarbeitern [10] Bezug genommen. Jene hatten bei 42 Unterschenkelamputierten weniger Kniegelenkarthrosen auf der geschädigten als auf der ungeschädigten Gegenseite vorgefunden. Zudem wies die amputierte Seite charakteristischerweise eine Mindermineralisation auf.

Burke und Mitarbeiter postulierten deshalb, dass jene Inaktivitätsosteoporose der amputierten Gliedmaße einen schützenden Effekt für das gleichseitige Kniegelenk habe. Es sei eher von einem verringerten Risiko für die Entwicklung eines Knieverschleißes am betroffenen Bein, als von einer Risikoerhöhung für die Entwicklung einer Kniearthrose auf der Gegenseite auszugehen. Die Autoren verglichen ihre Ergebnisse mit der Arthrosehäufigkeit in der Durchschnittsbevölkerung. In jenem Normalkollektiv waren Kniearthrosen zwar häufiger als am amputierten Bein der Betroffenen – jedoch seltener, als auf deren unverletzter Gegenseite. Diese Arbeit ist inzwischen ebenfalls mehr als 30 Jahre alt.

Für die Bewertung von Langzeitfolgen besitzen jene wissenschaftlichen Untersuchungen eine besondere Relevanz, die erst während der letzten Jahre erfolgten und nicht zuletzt deshalb bislang keinen Eingang in die deutschsprachige, medizinische Gutachtenliteratur finden konnten. Inzwischen werden deutlich längere Zeiträume überblickt, als zu Arens‘ Zeiten (1956, 1957).

So haben Gailey und Kollegen [11] eine umfassende Metaanalyse zu den körperlichen Folgen einer Beinamputation bzw. eines Langzeitprothesengebrauchs vorgelegt. In jene sind alle wissenschaftlichen Studien eingegangen, die zwischen 1970 und 2006 zu diesem Themenkomplex veröffentlicht wurden. Die Autoren fassen zusammen, dass das Gangbild bei amputierten Personen – sowohl mit Blick auf die betroffene Seite als auch hinsichtlich der verbliebenen Gliedmaße – nachweislich anders sei, als bei gesunden Individuen. Unterschenkelamputierte seien diesbezüglich weniger auffällig als Oberschenkelamputierte. Neben Burke und Mitarbeitern [10] haben auch andere Arbeitsgruppen zeigen können, dass Beinamputierte in großem Umfang Verschleißumformungen an Hüft- und Kniegelenk der Gegenseite aufweisen. Für Unterschenkelamputierte gilt dies zwar in geringerem Maße als für Oberschenkelamputierte, das Risiko für die Entwicklung einer derartigen Gesundheitsstörung sei jedoch – so Hungerford und Cockin [12] und entgegen der Darstellung von Burke und Kollegen (1978) [10] – höher als in der Normalbevölkerung.

SEITE: 1 | 2