Übersichtsarbeiten - OUP 11/2016

Klassifikation von Azetabulumfrakturen und prinzipielle Zugangswege

Christoph J. Erichsen1, Mario Perl1, Alexander Woltmann1

Zusammenfassung: Die korrekte Klassifikation von Verletzungen der Hüftgelenkpfanne und die Wahl des Zugangswegs sind entscheidende Faktoren bei der operativen Versorgung von Azetabulumfrakturen. Die Zunahme von Frakturen der Hüftgelenkpfanne bei Patienten mit altersbedingt verminderter Knochenqualität aufgrund der demografischen Entwicklung stellen eine zunehmende Herausforderung für den Operateur dar. Ziel einer operativen Stabilisierung sollte immer die Wiederherstellung der anatomischen Verhältnisse sein, um einer posttraumatischen Früharthrose entgegenzuwirken oder um eine stabile Situation für die Implantation einer Endoprothese zu ermöglichen.

Ziel dieses Artikels ist es, dem Leser die gebräuchlichen Klassifikationen und Zugangswege zur Hüftgelenkpfanne sowie Versorgungsprinzipien bei Azetabulumfrakturen zu erläutern.

Schlüsselwörter: Hüftgelenk, Zugangswege, Klassifikation,
Azetabulumfraktur

Zitierweise

Erichsen C, Perl M, Woltmann A: Klassifikation von Azetabulumfrakturen und prinzipielle Zugangswege.
OUP 2016; 11: 612–615 DOI 10.3238/oup.2016.0612–0615

Summary: Correct classification of acetabular fractures and choice of the surgical approach are important factors in acetabular surgery. Increasing numbers of acetabular fractures especially in elderly patients with poor bone quality pose a challenge for the treating surgeon. The aim of operative care has to be the complete anatomical restoration of the acetabulum in order to avoid early posttraumatic arthritis or to create a stable situation to allow for later implantation of a prosthetic joint. This article will help the reader to understand the common classifications and surgical approaches to the acetabulum as well as principles of surgical treatment of acetabular fractures.

Keywords: Hip joint, surgical approach, classification,
acetabular fracture

Citation

Erichsen C, Perl M, Woltmann A: Classification of acetabular fractures and common surgical approaches.
OUP 2016; 11: 612–615 DOI 10.3238/oup.2016.0612–0615

Einleitung

Als Hüftgelenk wird die gelenkige Verbindung zwischen Oberschenkelknochen und Becken bezeichnet. Das Dach der Hüftgelenkpfanne wird hierbei durch das Darmbein, die vordere Begrenzung durch das Schambein und die hintere durch das Sitzbein gebildet. Die Pfanne besteht aus einem mit Knorpel überzogenen Anteil (Facies lunata) und der Fossa acetabuli. Als Facies quadrilateralis wird der dünnwandige Boden der Hüftgelenkpfanne bezeichnet, welcher die Begrenzung nach medial zum kleinen Becken hin darstellt (Abb. 1). Für die Klassifikation von Azetabulumfrakturen relevant ist die Unterscheidung zwischen vorderem Pfeiler, der die Kraftübertragung zwischen Scham- und Darmbein vermittelt, und dem hinterem Pfeiler, welcher die Kraftübertragung zwischen Sitzbein und Darmbein vermittelt.

Die A. iliaca interna (Aa. glutea interna und externa und A. obturatoria) und die A. iliaca externa/A. femoralis (A. circumflexa femoris medialis) bilden die Gefäßversorgung der Hüftgelenkpfanne.

Auf das Hüftgelenk wirken große Kräfte. Biomechanisch findet die größte Kraftübertragung am Dach der Pfanne statt, weshalb die Knorpelverhältnisse hier ausgeprägter sind.

Frakturen des Azetabulums treten in allen Altersgruppen mit einem Altersgipfel unter 40 Jahren sowie einem zweiten Altersgipfel bei geriatrischen Patienten auf. Ursächlich sind im jüngeren Alter zumeist Hochrasanztraumata [1]. Bei älteren Patienten reichen oft schon Stürze aus niedriger Höhe auf die Hüfte aus [2].

Klassifikation

Das Zweisäulenkonzept von Letournel und Judet stellt die am häufigsten verwendete Klassifikation von Azetabulumfrakturen dar [3].

Hier werden primär 5 einfache von 5 komplexen Frakturen unterschieden (Abb. 2). Die einfachen Frakturen betreffen die vordere oder hintere Wand, den vorderen oder den hinteren Pfeiler und schließen die quer verlaufende Fraktur mit ein. Letztere werden weiter unterteilt in Abhängigkeit ihres Bezugs zur Fossa acetabuli bzw. zum Pfannendach. Komplexe Frakturen sind Kombinationen der oben genannten einfachen Formen. Hier sind zunächst die Querfrakturen kombiniert mit einer vertikalen Frakturlinie (T-Fraktur) oder mit einer Fraktur der Hinterwand beschrieben. Hinzu kommen Frakturen des vorderen Pfeilers mit der hinteren Hemitransversfraktur. Wenn kein gelenkbildender Anteil mehr mit dem Os ilium verbunden ist, wird dies als 2-Pfeiler-Fraktur bezeichnet (Abb. 3).

Die Operationsindikationen richten sich nach der Instabilität und dem Grad der Dislokation. Luxationsfrakturen, entweder nach zentral oder nach dorsal, stellen eine absolute Operationsindikation dar (Abb. 4), genauso wie Frakturen, bei denen der Hüftkopf oder der Schenkelhals beteiligt sind, sowie Fragmentinterpositionen in der Pfanne.

Neurologische Ausfälle betreffen in der Regel den Nervus ischiadicus und hier seinen peronealen Anteil. Bei massiver Dislokation und progressiver Neurologie ist von einer Notfallsituation auszugehen [4]. Liegt keine Dislokation oder Instabilität vor, muss nicht operiert werden.

Zugangswege

Abbildung 5 zeigt die am häufigsten gebräuchlichen Zugangswege zum Azetabulum. Der ilioinguinale, oder auch Letournel-Zugang genannt, der Kocher-Langenbeck-Zugang sowie der Stoppa-Zugang werden im Folgenden detailliert beschrieben.

Letournel-Zugang

Der Zugang ist erstbeschrieben von Letournel [3] und wird in Rückenlage durchgeführt. Günstig ist es, einen Carbontisch zu verwenden, um in allen Ebenen durchleuchten zu können. Das betroffene Bein wird beweglich abgedeckt. Der Zugang gibt einen guten Überblick über den vorderen Pfeiler und den anterioren Pfannenrand und ist besonders geeignet für Azetabulumfrakturen mit Dislokation nach vorne oder zentral. Liegt eine komplexe Fraktursituation vor, kann es erforderlich sein, durch eine auxilläre Cerclage den vorderen Pfeiler an den hinteren heran zu reponieren und ggf. auch die Facies quadrilateralis mit zu fassen [5].

Der Zugang beginnt mit dem Hautschnitt vom Tuberculum pubicum Richtung Spina iliaca anterior superior und weiter nach cranial entlang der Crista iliaca (Abb. 5a) Nach Inzision des subkutanen Fettgewebes wird die Externusaponeurose gespalten, beim Mann der Samenstrang identifiziert und angeschlungen und das laterale Fenster durch Ablösung des Musculus obliquus internus und transversus abdominis von der Crista iliaca sowie des Iliopsoas von der Fossa iliaca dargestellt. Um Blutungen aus dem Knochen zu stillen, können hier zunächst temporär ein Bauchtuch eingelegt und zwischenzeitlich das zweite und dritte Fenster präpariert werden. Hierzu wird die Faszie des Musculus obliquus internus und transversus abdominis entlang des Leistenbands inzidiert, der Nervus cutaneus femoris lateralis knapp distal von der Spina iliaca anterior superior dargestellt und angeschlungen und dann der Musculus iliopsoas mit dem Nervus femoralis mobilisiert und unterfahren. Die Lacuna musculorum wird so von der Lacuna vasorum getrennt, die weiter medial liegt. Um die Lacuna vasorum dann anzuschlingen, ist es notwendig, den Arcus iliopectineus scharf am Knochen zu durchtrennen und dann auch die Lacuna vasorum mit einem Zügel anzuschlingen. Nunmehr sind alle 3 Fenster geschaffen und die Fraktur kann eingesehen werden (Abb. 6). Der Zugang ermöglicht eine Übersicht über die Fossa iliaca bis zur Iliosakralfuge, den gesamten vorderen Pfeiler und den oberen Schambeinast sowie die Symphyse.

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