Originalarbeiten - OUP 12/2012

Kreuzschmerzen – Epidemiologie, Klassifizierung und
ein Überblick über die aktuellen Leitlinienempfehlungen

A. Eckardt1

Zusammenfassung: Kreuzschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden in der primärärztlichen Versorgung. Fast jeder von uns ist im Laufe seines Lebens betroffen. Eine Annäherung an das Problem geschieht somit konsequenterweise nicht nur durch Orthopäden, sondern zunehmend auch durch Hausärzte, Allgemeinmediziner und Schmerztherapeuten. Für den Verlauf der Erkrankung ist es von evidenter Bedeutung, sogenannte „unspezifische“ Rückenschmerzen von Krankheitsbildern zu unterscheiden, die einer gezielten Therapie zugeführt werden müssen. Es gilt, Chronifizierung von Schmerzen zu vermeiden, nachdem schwerwiegende Erkrankungen als Ursache für die Rückenschmerzen ausgeschlossen wurden. Evidenzbasierte Leitlinien und Empfehlungen wurden erarbeitet, um die Versorgungsqualität der Patienten zu verbessern. Unspezifische Kreuz- oder Rückenschmerzen heilen in 85 % der Fälle spontan, die Ursachen bleiben oft unklar. Spezifische Kreuzschmerzen haben eine klar definierte Ursache und müssen entsprechend gezielt behandelt werden. Wichtig ist es, eine lumbale Radikulopathie von pseudoradikulären Schmerzsyndromen zu unterschieden. Im Rahmen einer diagnostischen „Triage“ werden also Patienten mit Alarmzeichen und Belastungsfaktoren für eine mögliche Chronifizierung diagnostiziert und der entsprechenden Therapie zugeleitet. Die wichtigsten Ideen der gängigen Leitlinien zur Behandlung unspezifischer akuter und chronischer Rückenschmerzen werden vorgestellt.

Schlüsselwörter: Kreuzschmerz, Leitlinien, Epidemiologie,
Klassifizierung

Abstract: Back pain is among the most frequent medical conditions in primary care. Almost everybody is affected once in life. Consequently this has to be addressed not only by the orthopaedics but also by general practitioners and pain specialists.

For the course of the disease it is crucial to differentiate unspecific back pain from diagnoses requiring specified treatment. After serious underlying diseases have been excluded, chronification of pain has to be avoided. Evidence based guidelines and recommendations have been developed to improve the treatment quality for the patients. In 85 % of the cases unspecific back pain resolves spontaneously, the reasons remaining often unclear. Specific back pain has a clearly defined root cause and needs to be treated accordingly. It is important to differentiate between a lumbar radiculopathy and pseudo-radicular pain. During a triage-process patients with alarming symptoms and stress factors for a potential chronification are identified and allocated to the appropriate therapy. Key ideas of the most common guidelines for treatment of unspecific acute and chronic back pain are presented.

Key words: low back pain, epidemiology, classification,
guidelines

Epidemiologie

Die Diagnose „Rückenschmerz“ führt weiterhin die Morbiditätsstatistiken an und in der primärärztlichen Praxis gehören Rückenschmerzen zu den am häufigsten von den Patienten berichteten Beschwerden. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Punktprävalenz beträgt 33 %, die Einjahresprävalenz 65 % und die Lebenszeitprävalenz 84 % [1].

An intensiven oder gar mit Funktionsbeeinträchtigungen einhergehenden Rückenschmerzen leiden 20 % der deutschen Erwachsenen, 10 % geben Schmerzen hoher Intensität und Beeinträchtigung an [2, 3, 4].

Man darf von einer Volkskrankheit sprechen, die auch nicht unerhebliche Kosten verursacht. In Deutschland belaufen sich die jährlichen Kosten pro Person mit Kreuzschmerzen auf 1322 € [5], Juniper et al. [6] geben die direkten Kosten mit 7000 € pro Patient an. Wenig et al. [5] extrapolieren die Kosten für die Behandlung von Rückenschmerzen im Alter zwischen 18 und 75 Jahren auf knapp 50 Mrd. Euro pro Jahr. Das Robert – Koch – Institut [7] schätzt die direkten Kosten im Jahre 2002 auf 8,3 Mrd. Euro. 85 % der wesentlich höheren indirekten Kosten entstehen durch arbeits- und erwerbsunfähigkeitsbedingten Produktionsausfall. Hierbei entfällt ein Großteil der Kosten auf einen relativ kleinen Anteil chronisch Kranker, weshalb neben den behandelnden Ärzten auch Gesundheitsökonomen bemüht sind, zur Vermeidung von Chronifizierung von Rückenschmerzen beizutragen.

Obwohl die meisten Menschen ihren Rückenschmerz zunächst selbst behandeln und bekanntermaßen 80–90 % aller Rückenschmerzen mit und ohne Behandlung innerhalb von 6–8 Wochen abklingen [8,9], sucht jeder 2. Orthopädie-Patient und mindestens jeder 10. Allgemeinmedizin-Patient die Praxis wegen Rückenschmerzen auf.

8–10 % der Patienten erleben eine Chronifizierung. Wenn also die Schmerzen nicht binnen 12 Wochen abklingen, droht ein langer Leidensweg. Eine hohe Komorbidität mit psychischen Erkrankungen (insbes. Depression und Angstneurosen) und anderen Erkrankungen des Bewegungsapparates oder kardiovaskulären Erkrankungen ist bekannt [10].

Zu Beginn der Erkrankung ist es deshalb von großer Bedeutung, den unspezifischen Rückenschmerz möglichst rasch von Krankheitsbildern zu unterscheiden, die einer gezielten Therapie zugeführt werden müssen [11].

Hierbei muss darauf geachtet werden, dass nicht bereits der Arzt iatrogen durch übertriebene Diagnostik und Bewertung durchaus auch altersentsprechender Veränderungen im Röntgenbild zur Chronifizierung beiträgt [12]. Durch sorgfältige Anamneseerhebung und einen wenn möglich auch multidisziplinären Diagnostik- und Therapieansatz können Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko erkannt und entsprechend frühzeitig multimodal behandelt werden.

Die Voraussetzungen hierfür sind leider nicht flächendeckend gegeben, obwohl auch die Leistungsträger zunehmend von der Problematik Kenntnis nehmen.

Leitlinien

Verschiedene Verbände in Deutschland und Europa haben evidenzbasierte Leitlinien und Empfehlungen erarbeitet, um die Versorgungsqualität der Patienten mit Rückenschmerzen zu verbessern.

Besonders zu erwähnen an dieser Stelle natürlich die Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz, die im November 2010 veröffentlicht wurde [13].

Die Empfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft [14] und die der AG Kurative Versorgung der Bertelsmann-Stiftung, Experten-Panel Rückenschmerz [15], geben wichtige Hinweise zur Identifikation gefährdeter Patienten („Flaggen“). Für Europa erwähnenswert die Leitlinien für akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerz [16, 17].

Einteilung von
Rückenschmerzen

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