Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Alternative Zugänge zur internen Stabilisierung von Acetabulumfrakturen

Der Franzose Stoppa beschrieb Anfang der 1970er Jahre eine Erweiterung des bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Hernien- und Tumorchirurgie bekannten Pfannenstiel-Zugangs um die Ablösung des Ansatzes des Musculus rectus abdominis [32]. Anfang der 1990er Jahre wurden die erweiterten Einsatzmöglichkeiten des Stoppa-Zugangs zur internen Osteosynthese des vorderen Beckenrings und der anterioren und medialen Anteile des Acetabulums, insbesondere im osteoporotischen Knochen, beschrieben (Abb. 2a-b) [11, 29, 34]. Der Stoppa-Zugang ermöglicht die Darstellung der Strukturen vom kleinen Becken bis hin zum Iliosacralgelenk und wird insbesondere bei wenig dislozierten Acetabulumfrakturen des vorderen Pfeilers und bei bilateralen Acetabulumfrakturen verwendet. Die quadrilaterale Fläche kann durch diesen Zugang ebenso adressiert werden [23]. Mögliche Komplikationen des Stoppa-Zugangs können eine Blutung aus der Corona mortis, eine Verletzung der Blase, der Vasa femoralia, des Nervus obturatorius und/oder der Obturator-Gefäße oder eine Bauchwandhernie bei unzureichender Refixierung des Musculus rectus abdominis sein [19].

Pararectus-Zugang

Der ursprünglich in der Wirbelsäulenchirurgie eingesetzte pararektale Zugang wurde erst kürzlich für die Beckenchirurgie als alternativer direkter Zugang zum Acetabulum erschlossen [13]. Er hat sich insofern rasch als optimal zur Versorgung von Acetabulumfrakturen mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche erwiesen, da er die Vorteile des zweiten und dritten Fensters des ilioinguinalen Zugangs mit der medialen Ansicht des Stoppa-Zugangs verbindet und die direkt der Dislokationsrichtung der Fraktur entgegenwirkende Reposition ermöglicht (Abb. 3a-d). Im Gegensatz zum ilioinguinalen Zugang, bei dem vorwiegend Kompression und Zug eingesetzt werden, bietet der Pararectus-Zugang die Option, durch den von medial entwickelten und zwischen Peritoneum und lateraler Bauchmuskulatur ziehenden Verlauf direkt über dem Gelenk unter direkter Sicht, die nach zentral gerichteten Frakturkräfte zu neutralisieren. Die dadurch erleichterte Reposition führte in den ersten vorliegenden Studien in über 90 % der Fälle zu stufenfreien Repositionsergebnissen bei signifikant kürzerer Operationsdauer im Vergleich zum ilioinguinalen Standardzugang [2, 17, 27, 36, 42, 43]. Mit zunehmender Alterung der Gesellschaft fanden sich in den letzten Jahren immer mehr Frakturen mit Beteiligung des vorderen Pfeilers, Dislokation der quadrilateralen Fläche und Impaktion des Acetabulumdachs. Vor allem eine superomediale Domimpression gilt als prädisponierend für ein späteres Osteosyntheseversagen im älteren Patientenkollektiv [1, 15]. Der Pararectus-Zugang ermöglicht eine hervorragende Visualisierung des vorderen Pfeilers, der vorderen Wand und insbesondere der quadrilateralen Fläche sowie des zentralen Dom-Fragments. Eine Limitierung ist in hohen vorderen Pfeilerfrakturen zu sehen, bei denen es ab und an notwendig sein kann, die Beckenschaufel lateral des Musculus iliopsoas über eine kleine Zusatzinzision am Beckenkamm darzustellen [14]. Durch Erweiterung des Pararectus-Zugangs nach dorsal kann bei Acetabulumfrakturen mit gleichzeitiger Iliosacralgelenk-Dislokation auch dessen vorderer Anteil dargestellt werden. Bei Patienten mit bekannter Leistenhernie und peritonealer Netzeinlage empfiehlt sich der Pararectus-Zugang, da das Netz im Gegensatz zum ilioinguinalen Zugang allenfalls minimal inzidiert werden muss, ohne umfassend Vernarbungen lösen zu müssen. Als weitere Indikation für den Pararectus-Zugang gilt die Revisionssituation, nachdem initial ein ilioinguinaler Zugang durchgeführt wurde. Als Komplikationen können eine Eröffnung des Peritoneums und Verletzung intrapelviner Strukturen oder eine Verletzung direkt im Zugangsweg liegender Strukturen, insbesondere des Nervus obturatorius, auftreten.

Kocher-Langenbeck-Zugang

Der Kocher-Langenbeck-Zugang in Bauch- oder Seitenlage empfiehlt sich für Frakturen mit Hauptbeteiligung am dorsalen Pfeiler und der dorsalen Wand bzw. dem dorsalen Pfannenrand (Abb. 4a–b) [9, 24]. Zur Entlastung des Nervus ischiadicus sollte auf eine Beugung im Kniegelenk geachtet werden. Auch vordere Pfeiler- und hintere Hemiquerfrakturen mit Hauptdislokationsrichtung nach dorsal können im Einzelfall über den Kocher-Langenbeck-Zugang adressiert werden. Die Möglichkeit der Darstellung des Nervus ischiadicus kann gerade bei neurologischen Symptomen sinnvoll sein. Alternativ lässt sich über einen modifizierten Zwei-Portal-Zugang der hintere Pfannenrand bei Bedarf bis zum Tuber ischiadicum darstellen. Durch Abtrennung einer Trochanter major Schuppe (sog. Trochanter flip Osteotomie) lassen sich – bedarfsweise auch in Kombination mit einer chirurgischen Hüftluxation – ventrale Pfannenanteile adressieren. Mögliche Komplikationen des Kocher-Langenbeck-Zugangs betreffen eine Verletzung des Nervus ischiadicus und die Entwicklung heterotoper Ossifikationen.

Erweiterte Zugänge

Neben den Standardzugängen sind verschiedene erweiterte Zugänge zum Acetabulum wie beispielsweise der modifizierte Smith-Petersen-Zugang verfügbar [6, 31, 37, 38, 39]. Vor allem infolge der zunehmenden Zahl geriatrischer Patienten sinkt die Anwendungsrate dieser erweiterten Zugänge zunehmend zugunsten gewebeschonenderer Zugänge. Sie kommen heute im Prinzip nur noch bei speziellen Einsatzindikationen wie beispielsweise der primären Hüftendoprothetik in Verbindung mit einer Osteosynthese zum Einsatz [32].

Minimal-invasive Zugänge

Da nicht jede Acetabulumfraktur offen adressiert werden muss, kann im Einzelfall wie zum Beispiel bei einer nicht oder nur gering dislozierten Fraktur alternativ auch ein minimal-invasives Verfahren angewandt werden. Hierbei kommen Groß- oder Kleinfragmentschrauben, konventionell-radiologisch kontrolliert oder navigiert, über Stichinzisionen oder sog. „mini-open“-Zugänge zum Einsatz. Bei erheblich geringerer Zugangsmorbidität im Vergleich zu den invasiven Standardzugängen und -verfahren stellt die minimal-invasive Schraubenosteosynthese gerade beim geriatrischen Patientenkollektiv eine geeignete Alternative dar. Speziell auch bei dorsalen Acetabulumfrakturen können perkutane („gedeckte“) Schraubenosteosynthesen eingesetzt werden. Kürzlich wurden auch arthroskopisch gestützte Zugänge zum Acetabulum beschrieben, die in einem gesonderten Beitrag dieses Themenheftes abgehandelt werden [22].

Zusammenfassung

Während der Kocher-Langenbeck-Zugang das Standardverfahren zur Darstellung des hinteren Acetabulums darstellt, bleibt der ilioinguinale Zugang weiterhin der vordere Standardzugang zum Acetabulum und sollte von allen, die sich mit der operativen Beckenchirurgie beschäftigen, sicher beherrscht werden, bevor sie an Modifikationen oder Alternativen denken [4, 30]. Korrekt durchgeführt, ist er nach wie vor ein gewebeschonender Zugang. Er ermöglicht einen guten Überblick über die vorderen Anteile des Acetabulums und die Palpation zusätzlicher Regionen, um das Repositionsergebnis intraoperativ zu überprüfen. Limitierungen sind vor allem in der fehlenden Möglichkeit zur vollständigen Darstellung der quadrilateralen Fläche zu sehen. Über den Stoppa-Zugang lassen sich dagegen vor allem tiefere Anteile der vorderen Säule und auch die quadrilaterale Fläche darstellen. Bei deutlicher Dislokation und entsprechend erforderlichen umfangreichen Repositionsmanövern ist allerdings zusätzlich zum Stoppa-Zugang häufig das erste Fenster des ilioinguinalen Zugangs notwendig. Der Pararectus-Zugang ist aufgrund seiner hervorragenden Exposition und Zugänglichkeit des Bereiches unterhalb des Beckenrandes insbesondere bei Acetabulumfrakturen mit einer vollständig mobilen quadrilateralen Fläche eine sinnvolle Alternative, die in unserer Klinik mittlerweile das Standardverfahren darstellt.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4