Arzt und Recht - OUP 12/2015

Das Zweitmeinungs-Verfahren ab 01.01.2016*

Sozialversicherte Patienten haben bei der Indikationsstellung zu bestimmten planbaren Eingriffen das Recht, eine unabhängige Zweitmeinung einzuholen. Der Beitrag stellt die Einzelheiten gem. Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) dar.

Das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz — VSG) vom 16. Juli 2015, BGBl I, S. 1211, 1212 hat in § 27b SGB V die Möglichkeit zur Einholung einer Zweitmeinung bei bestimmten planbaren Eingriffen eingeführt. Im Einzelnen:

1. Recht oder Pflicht
zur Einholung?

Das Gesetz spricht in § 27b Abs. 1 Satz 1 davon, dass Versicherte einen Anspruch auf eine unabhängige Zweitmeinung haben. Die Versicherten sind somit berechtigt, nicht jedoch verpflichtet, eine Zweitmeinung einzuholen. Inwieweit dieses Recht zur — moralischen — Pflicht konterkariert werden wird, bleibt abzuwarten.

2. Bei welchen Eingriffen
findet das Zweitmeinungs-Verfahren Anwendung?

Versicherte, bei denen die Indikation zu einem planbaren Eingriff gestellt wird, bei dem insbesondere im Hinblick auf die zahlenmäßige Entwicklung seiner Durchführung die Gefahr einer Indikationsausweitung nicht auszuschließen ist, haben einen Anspruch auf Einholung einer Zweitmeinung (§ 27b Abs. 1 Satz 1). Um diesen Rechtssatz zu konkretisieren, hat der Gesetzgeber den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ermächtigt, in Richtlinien festzulegen, für welche planbaren Eingriffe der Anspruch auf Einholung der Zweitmeinung im Einzelnen besteht (§ 27b Abs. 2 Satz 1).

3. Die Aufgabe des GBA

Neben der Festlegung derjenigen planbaren Eingriffe, bei denen ein Anspruch auf Einholung einer Zweitmeinung besteht, hat der GBA folgende zusätzliche Aufgaben.

Der GBA legt indikationsspezifische Anforderungen an die Abgabe der Zweitmeinung zum empfohlenen Eingriff und an die Erbringer einer Zweitmeinung fest, um eine besondere Expertise zur Zweitmeinungserbringung zu sichern (§ 27b Abs. 2 Satz 2). Nach der Definition des Gesetzes sind die Kriterien für die besondere Expertise gem. § 27b Abs. 2 Satz 3:

  • 1. eine langjährige fachärztliche Tätigkeit in einem Fachgebiet, das für die Indikation zum Eingriff maßgeblich ist,
  • 2. Kenntnisse über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung zur jeweiligen Diagnostik und Therapie einschließlich Kenntnissen über Therapiealternativen zum empfohlenen Eingriff.

Darüber hinaus kann der GBA weitere Anforderungen mit zusätzlichen Kriterien festlegen. Solche zusätzlichen Kriterien sind — nach dem Wortlaut des Gesetzes (§ 27b Abs. 2 Satz 5) — insbesondere:

  • 1. Erfahrungen mit der Durchführung des jeweiligen Eingriffs,
  • 2. regelmäßige gutachterliche Tätigkeit in einem für die Indikation maßgeblichen Fachgebiet oder
  • 3. besondere Zusatzqualifikationen, die für die Beurteilung einer ggf. interdisziplinär abzustimmenden Indikationsstellung von Bedeutung sind.

Diese zusätzlichen Kriterien sind nicht etwa abschließend aufgeführt, sondern sollen „insbesondere“ zusätzlich festgelegt werden. Welche Konsequenzen sich aus solchen zusätzlichen Kriterien ergeben können, bleibt der Fantasie überlassen. So kann z. B. das Kriterium der „regelmäßigen gutachterlichen Tätigkeit“ zur Konsequenz haben, dass ein exzellenter Operateur für eine Zweitmeinung nicht infrage kommen kann, weil er aufgrund seiner Arbeitsbelastung nicht in der Lage ist, neben seiner beruflichen Tätigkeit eine gutachterliche Tätigkeit auszuüben, schon gar nicht eine regelmäßige. Angesichts der in den meisten Krankenhäusern recht knapp bemessenen Stellenpläne sehen sich viele operativ tätige Chefärzte nicht dazu in der Lage, eine Gutachtertätigkeit in nennenswertem Umfang auszuüben.

4. Sonstige Aufgaben des GBA

Der GBA soll bei der Festlegung der indikationsspezifischen Anforderungen an die Abgabe der Zweitmeinung zum empfohlenen Eingriff und an die Erbringung einer Zweitmeinung die Möglichkeiten einer telemedizinischen Erbringung der Zweitmeinung berücksichtigen (§ 27b Abs. 2 Satz 6). Und schließlich muss der GBA die Festlegung zu den Anforderungen, zur besonderen Expertise der Zweitmeinungserbringung sowie die zusätzlichen Kriterien erstmals bis zum 31. Dezember 2015 beschließen (§ 27b Abs. 2 Satz 7).

5. Wer ist zur Erbringung
einer Zweitmeinung
berechtigt?

Gemäß § 27b Abs. 3 SGB V sind zur Erbringung einer Zweitmeinung berechtigt, soweit sie die Anforderungen nach Abs. 2 Satz 2 (indikationsspezifische Anforderungen an die Abgabe der Zweitmeinung) erfüllen:

  • 1. zugelassene Ärzte,
  • 2. zugelassene Medizinische Versorgungszentren (MVZ),
  • 3. ermächtigte Ärzte und Einrichtungen,
  • 4. zugelassene Krankenhäuser sowie
  • 5. nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte, die nur zu diesem Zweck an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.

Es kann sicherlich schon heute unschwer prognostiziert werden, dass sich aufgrund der neuen gesetzlichen Regelung der Beruf des „Zweitmeiners“ etablieren wird.

In jedem Fall muss die Zweitmeinung bei einem Dritten eingeholt werden. So schreibt § 27b Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich vor, dass die Zweitmeinung nicht bei einem Arzt oder einer Einrichtung eingeholt werden kann, durch den oder durch die der Eingriff durchgeführt werden soll. Man sollte denken, dass dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist und sich bereits aus dem Wesen des Instituts der Zweitmeinung ergibt. Aufgrund dieser Bestimmung ist es aber auch z.B. nicht zulässig, dass die Zweitmeinung in einer anderen Abteilung des Krankenhauses eingeholt wird, wenn die Indikation zu dem geplanten Eingriff in einer Abteilung des gleichen Krankenhauses gestellt worden war. Denn in § 27b Abs. 1 Satz 2 wird nicht nur auf einen bestimmten Arzt, sondern auch auf eine bestimmte Einrichtung abgestellt. Letztlich erfolgt die Behandlung des Patienten durch das Krankenhaus, also durch die „Einrichtung“.

6. Die Aufgabe von KV und Landeskrankenhaus-
gesellschaft

Gemäß § 27b Abs. 4 SGB V informieren KV und Landeskrankenhausgesellschaft inhaltlich abgestimmt über Leistungserbringer, die unter Berücksichtigung der vom GBA festgelegten Anforderungen zur Erbringung einer unabhängigen Zweitmeinung geeignet und bereit sind. Wie diese Informationspflicht umgesetzt wird, bleibt offen. Möglich ist sowohl eine Information aufgrund einer gezielten Anfrage, aber auch die Veröffentlichung einer entsprechenden Liste im Internet.

7. Die Aufgaben des die
Indikation zum Zweit-
meinungs-Eingriff
stellenden Arztes

  • a) Der Arzt, der die Indikation für einen Zweitmeinungs-Eingriff stellt, muss den Versicherten über sein Recht, eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung einholen zu können, aufklären und ihn auf die Informationsangebote geeigneter Leistungserbringer nach Abs. 4 (siehe vorstehend Ziff. 6.) hinweisen (§ 27b Abs. 5 Satz 1 SGB V).
  • b) Die Aufklärung muss mündlich erfolgen. Ergänzend kann auf Unterlagen Bezug genommen werden, die der Versicherte erhält (§ 27 b Abs. 5 Satz 2).
  • c) Der Arzt hat dafür Sorge zu tragen, dass die Aufklärung über die Möglichkeit zur Einholung einer Zweitmeinung in der Regel mindestens 10 Tage vor dem geplanten Eingriff erfolgt (§ 27b Abs. 5 Satz 3). In jedem Fall hat die Aufklärung so rechtzeitig zu erfolgen, dass jeder Versicherte seine Meinung über die Einholung einer Zweitmeinung wohlüberlegt treffen kann (§ 27b Abs. 5 Satz 4).
  • d) Der Arzt hat den Versicherten auf sein Recht auf Überlassung von Abschriften der Befundunterlagen aus der Patientenakte gemäß § 630g Abs. 2 BGB, die für die Einholung der Zweitmeinung erforderlich sind, hinzuweisen (§ 27b Abs. 5 Satz 5).
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