Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Die komplizierte Halswirbelsäule

Tobias Pitzen, Ute Heiler, Holger Meinig, Michael Ruf

Zusammenfassung:

Obwohl die Routineeingriffe an der Halswirbelsäule (ventrale Fusion, dorsale Dekompression
und Stabilisierung) weit verbreitet sind und meist sehr routiniert durchgeführt werden, können Indikationsstellung und Durchführung von Halswirbelsäuleneingriffen sehr kompliziert sein. Die Gründe dafür liegen in der komplexen Anatomie von Rückenmark und Gefäßen, die die Halswirbelsäule begleiten und in der Funktion der Halswirbelsäule. In diesem Kapitel wird anhand von Einzelfalldarstellungen beispielhaft aufgezeigt, warum Halswirbelsäulenchirurgie manchmal alles andere als einfach und einfach nur kompliziert ist.

Schlüsselwörter:
Halswirbelsäule, Chirurgie, Indikation, Myelopathie, Tumor

Zitierweise:
Pitzen T, Heiler U, Meinig H, Ruf M: Die komplizierte Halswirbelsäule.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Summary: Cervical spine surgery (anterior fusion, posterior decompression and fixation) may be considered to be daily business and is performed by many orthopedic and neurological surgeons. However, as well indications for surgery and surgery itself may be tricky sometimes due to complex anatomy of both spinal cord and spinal column, the course of the vertebral artery within the cervical spine and the function of this cervical spine. Here, we illuminate within different case reports, why cervical spine surgery may be tricky sometimes.

Keywords: cervical spine, surgery, indication, myelopathy, tumor

Citation: Pitzen T, Heiler U, Meinig H, Ruf M: The cervical spine – sometimes tricky.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Tobias Pitzen, Ute Heiler, Holger Meinig, Michael Ruf: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Einleitung

Die Halswirbelsäule ist ein kompliziert aufgebauter und komplex funktionierender Abschnitt der Wirbelsäule, obwohl ihre Aufgabe vergleichsweise einfach erscheint: Sie ist das Bindeglied zwischen Brustwirbelsäule und Kopf. Als solches aber muss sie

die Kopfhaltung und Kopfbewegung sicherstellen,

das zervikale Rückenmark schützen,

die Blutgefäße für das zervikale Rückenmark und den hinteren Hirnkreislauf schützen und sie von den großen thorakozervikalen Blutgefäßen zum Kopf führen.

Was einfach klingt, ist in der Summe der Anforderungen durchaus kompliziert und bedingt, dass die Diagnostik und Therapie von verschiedenen Krankheiten der Halswirbelsäule eine komplexe und komplizierte Aufgabe sein kann.

In diesem Artikel wird deshalb anhand typischer Symptome und Krankheitsbilder der Halswirbelsäule beschrieben, warum

  • 1. die Differentialdiagnostik von Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule,
  • 2. die Auswahl chirurgischer Zugänge an der Halswirbelsäule und
  • 3. die chirurgische Therapie verschiedener Pathologien der Halswirbelsäule

(sehr) kompliziert sein können.

Um noch einmal deutlich herauszustellen, was an der jeweiligen Situation besonders kompliziert ist/war, wird dies am Ende des Abschnittes unter „Was war hier kompliziert?“ noch einmal erklärt.

Differentialdiagnostik von Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule

Symptomatische zervikale Bandscheibenvorfälle gehören zu den Erkrankungen in der orthopädischen Praxis, die relativ häufig vorkommen und entsprechend von hoher Relevanz sind. Die Initialsymptomatik zervikaler Bandscheibenvorfälle ist in der Regel eine Sequenz von Nackenschmerz zu Armschmerz, dieser ist dann in der Regel dermatomal. Häufig entwickelt sich – oder ist bereits initial vorhanden – eine Sensibilitätsstörung oder auch eine Lähmung, die dem Myotom entsprechen sollte/muss, das auch schmerzhaft und sensibilitätsgestört ist. Es ist überaus wichtig, die Dermatome der zervikalen Wurzel zu kennen und Grundkenntnisse zu besitzen über die Innervation der Muskeln der Arme. Nur wenn die klinische Symptomatik erklärt werden kann durch ein klares radiologisches Bild, kann chirurgisch erfolgreich therapiert werden; man kann nicht erwarten, gute Erfolge durch eine Operation zu erzielen, wenn der Bandscheibenvorfall nicht kausal einem Segment zuzuordnen ist. Anders herum gesagt, man darf nicht operieren, wenn die klinische Symptomatik nicht genau durch die Größe, Seite, segmentale Lokalisation des Bandscheibenvorfalls oder eines Spondylophyten erklärt wird. Dies ist ein komplexer und manchmal wirklich sehr komplizierter Aspekt in der Diagnostik, der wie kaum ein anderer den Erfolg der Operation bedingt. Zwei klinische Fälle sollen erläutern, warum es manchmal wirklich schwierig ist, die entsprechende Diagnose zu stellen:

Zervikaler Bandscheibenvorfall mit Radikulopathie/
Myelopathie versus

Encepahalomyelitis disseminata

Fall 1

Eine 42-jährige Patientin erlitt ein Trauma des rechten Knies mit Ruptur des vorderen Kreuzbandes beim Skifahren. Die sehr sportliche Patientin konnte es sich selbst nicht recht erklären, wie es zu dem Sturz kam. Monate später verspürte sie ein Kribbeln im rechten Daumen und bei längerem Laufen „schlappte“ ihr rechter Fuß. Da die Patientin mit mir (TP) gut bekannt ist, fragte sie mich um Rat während eines gemeinsamen Urlaubes. Neurologisch fand sich eine Daumenhypästhesie rechts, eine spinale Ataxie (Hinweis: der Sturz beim Skifahren wird plötzlich erklärbar!) und eine Spastik des rechten Beines, was die Fußheberparese vortäuschte. Ich stellte die Verdachtsdiagnose einer zervikalen Myelopathie. In der Kernspintomographie fand sich ein kleiner Spondylophyt an der Halswirbelsäule in Höhe C6/7 (Abb. 1), der aber keine raumfordernde Wirkung hatte. Insgesamt schien mir die Situation ungeklärt, Symptomatik und radiologische Befunde waren für mich nicht übereinstimmend. Vor allem fehlte ein Symptom, das bei Nervenwurzelreizung nahezu immer nachweisbar ist: der segmentale Schmerz. Deshalb wurde letztendlich eine Lumbalpunktion durchgeführt, die zur Diagnose einer Encephalomyelitis disseminata führte, was dann die richtige Therapie ermöglichte.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war hier, dass das vorliegende klinische Bild eine zervikale Radikulopathie/Myelopathie vortäuschte und ein Spondylophyt im Bereich der Halswirbelsäule vorlag. Was aber völlig fehlte, war eine Raumforderung gegen das Rückenmark und vor allem der segmentale Schmerz. Diese Kombination MUSS aufmerksam machen und darauf weisen, dass auch andere differentialdiagnostisch abzuklärende Krankheitsbilder ursächlich sein können, so wir hier die Encephalomyelitis disseminata.

Zervikaler Bandscheibenvorfall mit Radikulopathie/
Myelopathie versus
Motoneuronerkrankung

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