Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Die komplizierte Halswirbelsäule

Tobias Pitzen, Ute Heiler, Holger Meinig, Michael Ruf

Zusammenfassung:

Obwohl die Routineeingriffe an der Halswirbelsäule (ventrale Fusion, dorsale Dekompression
und Stabilisierung) weit verbreitet sind und meist sehr routiniert durchgeführt werden, können Indikationsstellung und Durchführung von Halswirbelsäuleneingriffen sehr kompliziert sein. Die Gründe dafür liegen in der komplexen Anatomie von Rückenmark und Gefäßen, die die Halswirbelsäule begleiten und in der Funktion der Halswirbelsäule. In diesem Kapitel wird anhand von Einzelfalldarstellungen beispielhaft aufgezeigt, warum Halswirbelsäulenchirurgie manchmal alles andere als einfach und einfach nur kompliziert ist.

Schlüsselwörter:
Halswirbelsäule, Chirurgie, Indikation, Myelopathie, Tumor

Zitierweise:
Pitzen T, Heiler U, Meinig H, Ruf M: Die komplizierte Halswirbelsäule.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Summary: Cervical spine surgery (anterior fusion, posterior decompression and fixation) may be considered to be daily business and is performed by many orthopedic and neurological surgeons. However, as well indications for surgery and surgery itself may be tricky sometimes due to complex anatomy of both spinal cord and spinal column, the course of the vertebral artery within the cervical spine and the function of this cervical spine. Here, we illuminate within different case reports, why cervical spine surgery may be tricky sometimes.

Keywords: cervical spine, surgery, indication, myelopathy, tumor

Citation: Pitzen T, Heiler U, Meinig H, Ruf M: The cervical spine – sometimes tricky.
OUP 2020; 9: 228–236 DOI 10.3238/oup.2020.0228–0236

Tobias Pitzen, Ute Heiler, Holger Meinig, Michael Ruf: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad

Einleitung

Die Halswirbelsäule ist ein kompliziert aufgebauter und komplex funktionierender Abschnitt der Wirbelsäule, obwohl ihre Aufgabe vergleichsweise einfach erscheint: Sie ist das Bindeglied zwischen Brustwirbelsäule und Kopf. Als solches aber muss sie

die Kopfhaltung und Kopfbewegung sicherstellen,

das zervikale Rückenmark schützen,

die Blutgefäße für das zervikale Rückenmark und den hinteren Hirnkreislauf schützen und sie von den großen thorakozervikalen Blutgefäßen zum Kopf führen.

Was einfach klingt, ist in der Summe der Anforderungen durchaus kompliziert und bedingt, dass die Diagnostik und Therapie von verschiedenen Krankheiten der Halswirbelsäule eine komplexe und komplizierte Aufgabe sein kann.

In diesem Artikel wird deshalb anhand typischer Symptome und Krankheitsbilder der Halswirbelsäule beschrieben, warum

  • 1. die Differentialdiagnostik von Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule,
  • 2. die Auswahl chirurgischer Zugänge an der Halswirbelsäule und
  • 3. die chirurgische Therapie verschiedener Pathologien der Halswirbelsäule

(sehr) kompliziert sein können.

Um noch einmal deutlich herauszustellen, was an der jeweiligen Situation besonders kompliziert ist/war, wird dies am Ende des Abschnittes unter „Was war hier kompliziert?“ noch einmal erklärt.

Differentialdiagnostik von Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule

Symptomatische zervikale Bandscheibenvorfälle gehören zu den Erkrankungen in der orthopädischen Praxis, die relativ häufig vorkommen und entsprechend von hoher Relevanz sind. Die Initialsymptomatik zervikaler Bandscheibenvorfälle ist in der Regel eine Sequenz von Nackenschmerz zu Armschmerz, dieser ist dann in der Regel dermatomal. Häufig entwickelt sich – oder ist bereits initial vorhanden – eine Sensibilitätsstörung oder auch eine Lähmung, die dem Myotom entsprechen sollte/muss, das auch schmerzhaft und sensibilitätsgestört ist. Es ist überaus wichtig, die Dermatome der zervikalen Wurzel zu kennen und Grundkenntnisse zu besitzen über die Innervation der Muskeln der Arme. Nur wenn die klinische Symptomatik erklärt werden kann durch ein klares radiologisches Bild, kann chirurgisch erfolgreich therapiert werden; man kann nicht erwarten, gute Erfolge durch eine Operation zu erzielen, wenn der Bandscheibenvorfall nicht kausal einem Segment zuzuordnen ist. Anders herum gesagt, man darf nicht operieren, wenn die klinische Symptomatik nicht genau durch die Größe, Seite, segmentale Lokalisation des Bandscheibenvorfalls oder eines Spondylophyten erklärt wird. Dies ist ein komplexer und manchmal wirklich sehr komplizierter Aspekt in der Diagnostik, der wie kaum ein anderer den Erfolg der Operation bedingt. Zwei klinische Fälle sollen erläutern, warum es manchmal wirklich schwierig ist, die entsprechende Diagnose zu stellen:

Zervikaler Bandscheibenvorfall mit Radikulopathie/
Myelopathie versus

Encepahalomyelitis disseminata

Fall 1

Eine 42-jährige Patientin erlitt ein Trauma des rechten Knies mit Ruptur des vorderen Kreuzbandes beim Skifahren. Die sehr sportliche Patientin konnte es sich selbst nicht recht erklären, wie es zu dem Sturz kam. Monate später verspürte sie ein Kribbeln im rechten Daumen und bei längerem Laufen „schlappte“ ihr rechter Fuß. Da die Patientin mit mir (TP) gut bekannt ist, fragte sie mich um Rat während eines gemeinsamen Urlaubes. Neurologisch fand sich eine Daumenhypästhesie rechts, eine spinale Ataxie (Hinweis: der Sturz beim Skifahren wird plötzlich erklärbar!) und eine Spastik des rechten Beines, was die Fußheberparese vortäuschte. Ich stellte die Verdachtsdiagnose einer zervikalen Myelopathie. In der Kernspintomographie fand sich ein kleiner Spondylophyt an der Halswirbelsäule in Höhe C6/7 (Abb. 1), der aber keine raumfordernde Wirkung hatte. Insgesamt schien mir die Situation ungeklärt, Symptomatik und radiologische Befunde waren für mich nicht übereinstimmend. Vor allem fehlte ein Symptom, das bei Nervenwurzelreizung nahezu immer nachweisbar ist: der segmentale Schmerz. Deshalb wurde letztendlich eine Lumbalpunktion durchgeführt, die zur Diagnose einer Encephalomyelitis disseminata führte, was dann die richtige Therapie ermöglichte.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war hier, dass das vorliegende klinische Bild eine zervikale Radikulopathie/Myelopathie vortäuschte und ein Spondylophyt im Bereich der Halswirbelsäule vorlag. Was aber völlig fehlte, war eine Raumforderung gegen das Rückenmark und vor allem der segmentale Schmerz. Diese Kombination MUSS aufmerksam machen und darauf weisen, dass auch andere differentialdiagnostisch abzuklärende Krankheitsbilder ursächlich sein können, so wir hier die Encephalomyelitis disseminata.

Zervikaler Bandscheibenvorfall mit Radikulopathie/
Myelopathie versus
Motoneuronerkrankung

Fall 2

Eine 33-jährige Patientin wurde zugewiesen, da sie eine zunehmende Ungeschicklichkeit der Hände bemerkt hatte. In ihrem Beruf als Kellnerin war das auch besonders unangenehm, weil sie mehrfach bereits Teller hatte fallen lassen und entsprechend nicht mehr servieren konnte. Es fanden sich Lähmungen der Handmuskeln, der Mm. Triceps und Bizeps brachii, jeweils beidseits. Vom zuweisenden Orthopäden war ein Kernspintomogramm der Halswirbelsäule veranlasst worden, das eine diskrete Vorwölbung der Bandscheiben C4/5/6 zeigte (Abb. 2). Diese erklärte die diffusen Lähmungen im Bereich der Hände aber auf keinen Fall, diese Bandscheibenvorfälle führten nicht zu einer Kompression des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln. Die Untersuchung der Patientin zeigte zudem spastische Reflexe an den Beinen, schlaffe Reflexe an den Armen und im Rahmen des neurologischen Konsils wurden Fibrillationen an der Zunge festgestellt. Letztendlich wurde die Diagnose einer Motoneuronerkrankung gestellt, die Patientin entsprechend nicht operiert.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war nach Meinung der Autoren hier, dass das klinische Bild einer zervikalen Radikulopathie/Myelopathie vorgetäuscht wurde und auch eine geringe Vorwölbung von Bandscheiben zu sehen war. Was aber wieder völlig fehlte war, eine Raumforderung gegen das Rückenmark oder die Nervenwurzeln und vor allem der segmentale Schmerz. Weiterhin konnten die Lähmungen durch eine Kompression nicht erklärt werden, da eben keine Kompression vorlag.

Die Auswahl chirurgischer Zugänge an der
Halswirbelsäule

Am Beispiel: Auswahl der
Zugänge bei zervikaler
spondylogener Myelopathie

Die zervikale spondylogene Myelopathie (CSM) ist eine chronisch progrediente Erkrankung des Rückenmarks durch eine chronisch progrediente Raumforderung. Die Erkrankung verläuft schleichend, initial schmerzfrei oder zumindest schmerzarm, begleitet von initial geringen neurologischen Defiziten. Oft erfährt sie eine akute Progredienz durch ein oft geringfügiges Trauma der Halswirbelsäule und wird erst dann diagnostiziert. Häufig „drückt“ die Erkrankung Patienten im Verlauf in den Rollstuhl und wird selbst dann noch nicht erkannt, weil das neurologische Bild nicht uniform, sondern variabel und eben oft schmerzarm ist.

Das wesentliche Prinzip zur chirurgischen Therapie der Myelopathie ist die suffiziente Dekompression und Stabilisierung. Der ideale Zugang zum Erreichen dieser beiden Ziele bei Myelopathie wird oft diskutiert und es gibt Literaturbelege dafür, dass die „Vertrautheit“ des Operateurs mit dem von ihm „traditionell“ bevorzugten Zugang für den letztendlich gewählten Zugang entscheidend ist [1, 2]. In die Wahl des Zugangs zur Operation der Halswirbelsäule bei Myelopathie fließen eine Vielzahl von Faktoren ein, wie:

die Anzahl der Segmente mit Raumforderung,

die Lokalisation der Raumforderung,

das sagittale Profil (insbesondere fixierte Kyphose versus Lordose),

die erforderliche Stabilität,

Begleiterkrankungen (Osteoporose, rheumatoide Arthritis) [5] und

zu erwartende Komplikationen (Beruf unbedingt berücksichtigen!) [3].

Die Notwendigkeit, all diese Einzelfaktoren entsprechend des klinischen Bildes und unter Berücksichtigung des Einzelschicksals zu würdigen, macht eine Entscheidung für einen bestimmten Zugang schwierig. Papavero et al. haben 2019 hierfür eine interessante Entscheidungshilfe angeboten, den 7 Letter Code [5].

Zur groben Orientierung bei der Planung des Zuganges können zunächst einmal folgende Regeln gelten:

Ventrale Zugänge, entsprechende Übung und Erfahrung vorausgesetzt, sind wenig traumatisierend und verursachen postoperativ wenig Schmerzen und haben eine niedrige Infektionsrate. Dorsale Zugänge an der Halswirbelsäule erfordern zur Dekompression bei Myelopathie die Ablösung der Muskulatur, sind somit eher traumatisierend im Vergleich zu ventralen Zugängen, verursachen postoperativ mehr Schmerzen und tendieren eher zu Wundheilstörungen.

Dorsale Fixationen sind in der Regel stabiler als ventrale [6, 7].

Eine Dekompression ist von ventral wie von dorsal gut machbar, hier gibt es aber eine wirklich wichtige Regel: Sobald eine nicht korrigierbare, also rigide Kyphose vorliegt, die bei dorsaler Dekompression verbleibt und als Hypomochlion gegen das Rückenmark drückt, MUSS von ventral dekomprimiert und das Hypomochlion entfernt werden [5].

Schwere Komplikationen bei ventralen Zugängen sind unter anderem die permanente Heiserkeit (als Komplikation nochmals schwerer zu werten bei z.B. Lehrern und Sängern), Schluckstörungen (als Komplikation nochmals schwerer zu werten bei z.B. Köchen) und Ösophagusverletzungen, die vor allem bei bestrahlten und mehrfach voroperierten Patienten drohen. Eine schwere Komplikation der dorsalen Zugänge bei weiter Dekompression ist die Insuffizienz der Faszienadaptation. Diese bedingt dann eine Insuffizienz der dorsalen Nackenmuskulatur, was vor allem bei Sportlern zu beachten ist.

Berücksichtigt man diese Eckpunkte, dann kann man folgende Empfehlungen zur Zugangswahl bei Myelopathie nachvollziehen:

  • 1. Liegt eine mono- oder bisegmentale Raumforderung durch einen Bandscheibenvorfall oder Spondylophyten vor, ist eine ventrale Dekompression durch Entfernung der Pathologie, Insertion eines Cages mit Knochenfüllung und eine ventrale Plattenapplikation in der Regel ausreichend. Bei einer solchen Situation ist dies wahrscheinlich die geeignetere Operation, weil die Dekompression von ventral gut machbar ist, die Komplikationsrate niedrig und die Stabilität mit einer Cage-Plattenkonstruktion absolut ausreichend ist.

  • 2. Betrifft die Raumforderung mehr als 3 Segmente, die im idealen Fall neutral oder lordotisch gestellt sind, ist eine dorsale Dekompression sinnvoll, eine Stabilisierung (mit Massa lateralis und/oder Pedikelschrauben, die durch Stäbe verbunden werden) Pflicht und die Anlagerung von Knochen (gemacht aus der Resektion der Laminae) zur dauerhaften Stabilisierung durch die (hoffentlich) eintretende Fusion sehr empfohlen. Warum die dorsale Operation bei 3 und mehr Segmenten? Die Fixation von dorsal ist stabiler und ab 3 Segmenten ist die Komplikationsrate nach internationalen Arbeiten niedriger als bei ventralen Operationen [3].
  • 3. Liegt eine rigide, d.h. sich unter Funktion nicht ausgleichende Kyphose mit Druck gegen das Rückenmark vor, dann MUSS diese von ventral entfernt werden. Sie wird komplett reseziert, der Defekt durch einen Korb mit Knochenfüllung überbrückt und ventral mit einer Platte stabilisiert.
  • 4. Ist es erforderlich, mehr als 1 Wirbelkörper zu resezieren und zu ersetzen, sollte, nach Meinung der Autorengruppe sogar MUSS, zusätzlich von dorsal stabilisiert werden, denn die ventrale Stabilisierung reicht häufig bei Resektion von mehr als einem Wirbelkörper nicht aus, um eine dauerhafte Fixation zu ermöglichen.
  • 5. Schlechte Knochenqualität, vor allem in Kombination mit rheumatoider Arthritis sprechen für eine dorsale Dekompression und Stabilisierung. Die Fixation von dorsal ist einfach deutlich stabiler [6, 7].
  • 6. Liegt die Pathologie bei z.B. einem Sänger vor, sollte man aber, wenn irgendwie machbar, nicht ventral operieren, s.o.. Umgekehrt sollte man bei einem Sportler unbedingt die dorsale Nackenmuskulatur schonen und entsprechend ventral operieren.

Zur Illustration, wie diese Regeln zur Operationsplanung bei Myelopathie Anwendung finden, sollen die beiden
folgenden Fälle dienen:

Fall 3

Ein 62–jähriger Kaufmann im Einzelhandel litt seit vielen Jahren unter einer zervikalen Myelopathie, die aber nicht diagnostiziert wurde. Erst die Unfähigkeit, wenige Schritte geradlinig zu laufen und eine ganz erhebliche Einschränkung der Motorik der Hände, führte zur Kernspin- und Computertomographie der Halswirbelsäule und zur Diagnose (Abb. 3, 4). Man erkennt auf diesen Darstellungen die Raumforderung von C3–T1, die erhebliche kyphotische Fehlstellung C3/4, die entsprechend auch zu einer Raumforderung führt (Hypomochlion). Schließlich fällt die Olisthese C7/T1 auf. In dieser Höhe findet sich auch ein im Kernspintomogramm signalintensiver Herd. Nach den oben erklärten Prinzipien fordert diese Situation eine dorsale Dekompression und Stabilisierung von C2–T1 sowie eine Wirbelkörperresektion, den Ersatz der Wirbelkörper mit Cage und Knochen sowie eine Platte. Berücksichtigt man noch, dass das Segment C3/4 knöchern fixiert ist, ist im ersten dorsalen Schritt hier dann noch eine Osteotomie der dorsalen Strukturen nötig. Das postoperative dreidimensionale Computertomogramm mit Implantaten zeigt Abbildung 5. Der Patient hat sich langsam, aber stetig erholt, ist heute 12 Jahre nach der Operation ohne Hilfsmittel gehfähig und hat eine gute Feinmotorik der Hände.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war es zunächst für den Zuweiser, die Diagnose zu stellen. Wie bereits oben erwähnt, werden Patienten mit Myelopathie zu spät diagnostiziert. Für den Behandler war es schwierig, zu realisieren, dass eine äußerst komplexe, langstreckige und zirkumferente Operation erforderlich war, um eine suffiziente Dekompression und Stabilisierung zu erreichen, die den Patienten nicht überfordert und gleichzeitig eine suffiziente Dekompression und Fixation gewährleistet. Schließlich war auch die Durchführung der Operation technisch nicht einfach und die Erholung des Patienten dauerte lang.

Fall 4

Ein 67-jähriger Patient stellte sich vor mit einer Störung der Fingerfeinmotorik. Die Kernspin- und Computertomographie zeigten eine erhebliche Raumforderung hinter C2 und C3 (Abb. 6, 7), die Halswirbelsäule befand sich in einem neutralen Alignement, das heißt es lag keine Kyphose und somit kein Druck durch ein Hypomochlion gegen das Rückenmark vor. Entsprechend konnte auf ein ventrales Vorgehen verzichtet werden (was in diesem Fall bedeutet hätte, die Raumforderung durch einen transoralen oder sogar transmandibulären Zugang zu entfernen). Insofern begannen wir von dorsal, dekomprimierten von C1–C4 und führten eine Instrumentation von C1–C5 durch, postoperatives Röntgenbild ap und seitlich in Abbildung 8. Die Myelopathie des Patienten besserte sich erheblich. Es trat auch keine Progredienz im weiteren Verlauf auf, wir überblicken derzeit bei ihm 4 Jahre postoperativen Verlauf.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war auch hier die Diagnose; es wurde bei Störung der Fingerfeinmotorik lange keine Verbindung zur Halswirbelsäule hergestellt. Für den Behandler war es schwierig, umzudenken; obwohl die Raumforderung ventral des Rückenmarks liegt, sollte hier von dorsal dekomprimiert werden. Ein ventraler Zugang hätte von transoral durchgeführt werden müssen und die Stabilisierung von ventral wäre nicht so suffizient und einfach gewesen wie von dorsal.

Die chirurgische Therapie verschiedener Pathologien der Halswirbelsäule am
Beispiel von Tumoren im kranio-zervikalen Übergang und von zervikaler Kyphose

Tumore im Bereich der Halswirbelsäule stellen aufgrund der anatomischen Besonderheiten und aufgrund der Tatsache, dass man manche Tumore radikal operieren muss, eine ganz besondere Herausforderung dar. Es gibt sehr viele Aspekte, die zu beachten sind. Im Einzelfall von ganz besonderer Bedeutung ist die Lagebeziehung der A. vertebralis zur Halswirbelsäule. Sie tritt in der Regel bei C6 seitlich in die Halswirbelsäule ein, begleitet sie dann bis C2 seitlich durch die Foramina transversaria, windet sich bei C2 nach dorsal und tritt am Oberrand des C1 nochmals nach medial, perforiert die Dura von außen und läuft nach kranial intradural weiter, um sich mit der Gegenseite zur A. basilaris zu vereinigen. Da die A. basilaris den Hirnstamm versorgt, MUSS vor einer Tumoroperation an der Halswirbelsäule, wenn auch nur die geringste Gefahr besteht, dass die A. vertebralis verletzt werden könnte, ein Test unternommen werden um zu checken, ob beide Aa. vertebralis erforderlich sind, um den Hirnstamm zu versorgen. Meist ist nur eine A. vertebralis erforderlich, um eine suffiziente Durchblutung des Hirnstamms zu gewährleisten, aber dies ist zum einen nicht immer so und es kann zum anderen nicht aus dem jeweiligen Kaliber des Gefäßes abgeleitet werden, welches das Hauptversorgende ist. Ein Okklusionstest kann hier das entscheidende Plus an Information bringen [4, 8]. Hat man herausgearbeitet, welches Gefäß okkludiert werden kann, muss man alles daran setzen, das kontralaterale zu erhalten.

Fall 5

Eine 43-jährige Patientin stellte sich mit einer zunehmenden Nackenschmerzhaftigkeit und einer Kopfschiefhaltung vor. Als Ursache fand sich in der Computertomographie der Halswirbelsäule ein knöcherner Tumor im Atlas auf der rechten Seite (Abb. 9). Die A. vertebralis auf dieser Seite war schon deutlich okkludiert, deutlich kaliberschwächer als die Gegenseite und auch im Okklusionstest (Abb. 10) gab es Hinweise darauf, dass das Gefäß geopfert werden kann, um den Tumor komplett zu entfernen. Es wurde geplant, von dorsal zu beginnen, Okziput und C2 zu präparieren, den Tumor Stück um Stück zu entfernen (es handelte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein Osteom) und den Defekt zwischen Okziput und C2 mit einem Korb nach Harms mit Füllung aus autologem Beckenknochen zu überbrücken. Die Instrumentation wurde geplant, da die Operation im mobilsten Teil der Halswirbelsäule stattfand, der jetzt zusätzlich durch die Resektion des Atlas auf der rechten Seite nochmals destabilisiert wurde. Es erfolgte eine Instrumentation in C0, C1 kontralateral und C2 bilateral. Spezielle Sorgfalt war darauf zu legen, die A. vertebralis der Gegenseite NICHT zu verletzen. Die Operation wurde genauso gemacht. Ergebnis: Computertomogramm mit Implantaten in Abbildung 11, Patientin (mit Vater) in Abbildung 12 mit perfekter Lebensqualität.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war vor allem, dass die Patientin in mehreren Kliniken in Deutschland und Nordamerika beraten worden war in dem Sinn, dass eine Operation nicht möglich sei, da schwerste Komplikationen durch die höchstwahrscheinliche Verletzung der A. vertebralis sicher seien. Eine Patientin vor diesem Hintergrund im Sinne einer operativen Therapie zu beraten, ist schwierig. Zum anderen war es sehr wahrscheinlich, dass es sich um einen gutartigen Tumor (Osteom) handelte und diese Diskrepanz zwischen “gutartiger Tumor – schwerste Komplikationen“ die Entscheidung für einen komplexen Eingriff nicht leichter macht. Erst die exakte Analyse des Leidensdrucks („Mein Kopf ist schief und der Nackenschmerz nicht auszuhalten.“) in Kombination mit einem Okklusionstest der A. vertebralis, der Hinweise gibt für eine komplikationsfreie Resektion des Gefäßes, ermöglichten die Planung wie oben beschrieben. Die Operation war dagegen vergleichsweise einfach, die Erholung unproblematisch.

Fall 6

Eine 54-jährige Patientin wurde in einem auswärtigen Krankenhaus an einem Tumor in Höhe C2/3 operiert. Es wurde eine Tumorteilresektion, Cage/Plattenplastik durchgeführt. Die histologische Untersuchung des Präparates führte zur Diagnose einer aneurysmatischen Knochenzyste. Fünfzehn Monate später fand sich erneut ein Tumorrezidiv mit radiologisch durch das Tumorwachstum bedingter beginnender spinaler Kompression, klinisch mit Zeichen der Ataxie und Spastik, Kernspin in Abbildung 13, koronare CT mit Lage des ventralen Implantates und links davon liegender Knochendestruktion durch den Tumor in Abbildung 14. Aufgrund des jungen Alters und des perfekten klinischen Zustandes wurde die Indikation zur Revisionsoperation gestellt. Ziele dieser erneuten Operation waren: 1. Die komplette Resektion des Tumors, möglichst en bloc. 2. Die stabile Rekonstruktion des Defektes. 3. Die Vermeidung neurologischer Defizite. Diese Ziele erforderten zunächst die Testokklusion der linksseitigen A. vertebralis. Der Okklusionstest zeigte, dass eine Resektion der A. vertebralis im Rahmen der Resektion des Tumors möglich sein sollte. Zur radikalen Resektion erschien es uns unumgänglich, über 2 Zugänge zu operieren, und zwar zunächst dorsal mit Isolation des Tumors, Umlegung mit einer Goretex-Patch (zur Erleichterung der Entnahme des Tumorpräparates bei der ventralen OP), Unterbindung der A. vertebralis dorsal in Höhe C1, Instrumentation der nicht befallenen knöchernen dorsalen Anteile. Dann nach Erholung ventrale Operation über einen transoralen Zugang mit Unterkieferspaltung, Unterbindung der A. vertebralis von ventral in Höhe C4, Isolation des Tumors, Entfernung en bloc. Abbildung 15 zeigt in der sagittalen Rekonstruktion der CT nach der dorsalen Operation die Lage der dorsalen Implantate und die Umlegung des Tumors (schwarze Linie) mit einer Goretex-Membran. Abbildung 16 zeigt (dreidimensionale Rekonstruktion der CT) das en bloc entnommene Präparat mit Einschluss der initialen Instrumentation. Der postoperative Verlauf war kompliziert, u.a. durch eine lange Zeit auf der Intensivstation aufgrund einer Pilzpneumonie. Die Patientin erholte sich, fühlte sich wohl und hatte kein neurologisches Defizit. Nach 6 Monaten trat allerdings eine Rachenperforation durch den Cage auf, weshalb der ventrale Teil der Operation noch einmal wiederholt wurde. Letztendlich wurde das ventrale Implantat bei der Revision gewechselt (Abb. 17) und ein gefäßgestielter Lappen aus Haut/Subcutis zur Defektdeckung verwendet. Die Patientin ist nach wie vor ohne neurologisches Defizit, fühlt sich extrem wohl, wurde vor kurzem Großmutter und ist mit ihrer Tochter gezeigt in Abbildung 18.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war nach Meinung der Autoren hier einfach alles. Von der Entscheidung nach der ersten Operation zu revidieren über die Diagnostik, die Planung, die technische Durchführung, die Beherrschung der postoperativen Komplikationen, die Revision der Revision – hier war nichts einfach, aber einfach alles kompliziert.

Fall 7

Ein 13-jähriger Junge wurde auswärts operiert aufgrund einer Neurofibromatose via Laminektomie C3–C5. Nach Monaten entwickelte er allerdings eine halbseitige Lähmung, die letztendlich, wenn auch verzögert, auf eine schwere Kyphose nach Laminektomie (Swan-Neck-Deformität) zurückgeführt werden konnte (Abb. 19, 20), denn der kernspintomographische Befund des Gehirns war normal. Als ersten Schritt der Therapie führten wir die Anlage eines Halo-Ringes und die allmähliche Halo-Traktion durch, wodurch sich die Kyphose bereits deutlich besserte (Abb. 21). Im nächsten Schritt führten wir dann unter MEP/SSEP Monitoring eine dorsale Instrumentation von C2–T1 durch, begleitet von einem dorsalen Release der knöchernen und bindegewebigen Strukturen [7]. Das war so gut möglich, dass sich gegen Ende der Operation ein perfektes Alignement der HWS durch Einlage der vorgebogenen Stäbe erzielen ließ (Abb. 22). Neurologisch bildete sich das halbseitige Defizit innerhalb weniger Tage zurück. Die ventrale Operation von C2–C6 mit Entfernung der Bandscheiben, Insertion von Harms-Cages, gefüllt mit Eigenknochen, wurde nur noch durchgeführt, um den Erfolg der Reposition zu sichern.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war auch hier, den Zusammenhang zwischen – untypischer – neurologischer Symptomatik und dem radiologischen Befund an der Halswirbelsäule herzustellen. Es war auch nicht unproblematisch, Eltern und Kind zu erklären, dass zunächst ein Ring an den Kopf angelegt und ein Zug auf die Halswirbelsäule ausgeübt wird, um eine Vorkorrektur zur Operation zu erreichen. Die Operation selbst war dann aber unproblematisch.

Fazit

Indikationsstellung und Durchführung von Halswirbelsäuleneingriffen können sehr kompliziert sein. Gründe hierfür sind: die komplexe Anatomie von Halswirbelsäule, Rückenmark und Gefäßen, die die Halswirbelsäule begleiten, die Funktion der Halswirbelsäule. Ein zentrales Problem ist die Schwierigkeit, zu analysieren, ob klinische Symptome durch Veränderungen der Halswirbelsäule bedingt sind. Zur Planung und Durchführung der Versorgung ist deshalb eine individualisierte Betrachtung der Symptome und klinischen Befunde vor dem Hintergrund der radiologischen Befunde zwingend erforderlich. Der Verlauf der Arteria vertebralis in Bezug zu Resektionslinien und Operationsfeld muss unbedingt sorgfältig analysiert, die Mechanik der Halswirbelsäule bei Instrumentationen beachtet werden.

Interessenkonflikte:

Tobias Pitzen: Honorare für Vorträge und Hospitantenbetreuung von BBraun, DePuy, Medtronic, Nuvasive

Ute Heiler: keine angegeben

Holger Meinig: keine angegeben

Michael Ruf: Honorare für Vorträge von DePuy, Medtronic, Nuvasive, Stryker

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Tobias Pitzen

SRH Klinikum
Karlsbad-Langensteinbach

Guttmannstraße 1

76307 Karlsbad-Langensteinbach

tobias.pitzen@srh.de

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