Übersichtsarbeiten - OUP 02/2017

Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen

Henning Ott1, Anja Hirschmüller1,2, Lukas Weisskopf1

Zusammenfassung: Muskelverletzungen gehören im Sport zu den häufigsten Verletzungen und haben eine beträchtliche Zahl an Ausfalltagen zur Folge. Die Länge der Ausfallzeit variiert mitunter deutlich und wird maßgeblich durch die Schwere der Verletzung selbst, die Erstversorgung und deren Behandlung bzw. Rehabilitation bestimmt. Die Ursachen von Muskelverletzungen sind verschieden und nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Deren Mitbehandlung ist aber entscheidend für einen nachhaltigen Therapieerfolg. Die betroffenen Regionen unterscheiden sich je nach Sportart. Die genaue Kenntnis der sportartspezifischen Belastung der verschiedenen Muskelgruppen ist daher für die Diagnostik, Therapie und Prävention unerlässlich. Dieser Artikel soll eine einleitende Übersicht von Muskelverletzungen darstellen, anhand derer ein Bogen von der Einteilung bis hin zur möglichen Therapie gespannt werden soll.

Schlüsselwörter: Muskelverletzung, Muskelverhärtung, Zerrung, Hamstring-Verletzungen, Muskelfaserriss, Muskelbündelriss

Zitierweise
Ott H, Hirschmüller A, Weisskopf L: Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen.
OUP 2017; 2: 69–74 DOI 10.3238/oup.2017.0069–0074

Summary: Muscle injuries are among the most frequent sport-related injuries often leading to absence from training or competition. A number of factors have been proposed as being indicators of time taken to return to play including the type of injury, primary care and rehabilitation protocols.
Beside the number of previous injuries, muscle strength
capacities and range of motion deficits are among the factors associated with (re-)injury. The assessment and therapy of those factors, therefore, is essential to achieve sustained success. Injury sites differ considerably among sports. Having detailed notice on the sport-specific muscle loading profiles is essential for diagnosis, therapy and prevention. This article provides an overview on muscle injuries, including their classification and clinical management.

Keywords: muscle injuries, muscle strain, hamstring injuries, minor partial muscle tear, moderate partial muscle tear

Citation
Ott H, Hirschmüller A, Weisskopf L: Epidemiology, diagnostic and classification of muscle injuries.
OUP 2017; 2: 69–74 DOI 10.3238/oup.2017.0069–0074

Einleitung

Die Behandlung von Muskelverletzungen stellt sowohl im Amateur- als auch Leistungs- und Profisport eine Herausforderung dar. Ihre Behandlung sollte sehr differenziert und interdisziplinär erfolgen, um eine schnelle und sichere Rückkehr in den Sport zu garantieren. Insbesondere das Erkennen und Mitbehandeln von (meist funktionellen) Begleitpathologien ist entscheidend, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen.

Im Rahmen der UEFA-Studie konnte Ekstrand für den Profifußball zeigen, dass ein Drittel aller Verletzungen im Fußball Muskelverletzungen sind [1]. Ein Team mit 25 Spielern muss von etwa 10 Muskelverletzungen pro Saison ausgehen. Allein diese Tatsache kann den Saisonverlauf einer Mannschaft oder des Einzelathleten mitunter maßgeblich beeinflussen. Eine differenzierte Diagnostik sowohl klinisch als auch bildgebend ist notwendig, um eine eindeutige Diagnose zu stellen, denn von dieser ausgehend, kann die spezifische Therapie und eine Prognose über die Ausfallszeit gegeben werden, die meist Athlet und Verein unmittelbar verlangen.

Die Bildgebung mittels MRT und Sonografie ist sinnvoll und lässt eine bessere Prognose hinsichtlich der Ausfallzeit zu [2]. Allerdings entgehen viele Verletzungen ohne Strukturschaden der Bildgebung, machen aber zugleich sowohl einen Großteil der Verletzungen hinsichtlich der absoluten Zahl als auch der Ausfallzeit aus. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der klinischen Untersuchung.

Eine Einteilung in die einzelnen Verletzungen ist nicht immer einfach, da die Übergänge zwischen den verschiedenen Schweregraden der Muskelverletzungen häufig fließend sind, mitunter weder klinisch noch bildgebend sicher unterschieden werden können, und die Veränderungen auf mikroskopischer Ebene stattfinden. Dennoch ist eine Klassifikation sehr hilfreich und notwendig. Um eine Anwendbarkeit in der klinischen Praxis zu bekommen, ist es wichtig, die Verletzungen sowohl anhand ihrer Physiologie als auch ihrem klinischen Erscheinungsbild zu kategorisieren. Durchgesetzt hat sich hier die Klassifikation von Müller-Wohlfahrt und Kollegen [3], auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird.

Epidemiologie

Verletzungen, die die Muskulatur betreffen, stellen in den meisten Sportarten die häufigste Verletzungsform dar. Je nach Sportart unterscheiden sich diese jedoch deutlich.

Über 30 % aller Verletzungen im Fußball sind Muskelverletzungen, mehr als die Hälfte davon sind Verletzungen des Oberschenkels. In zwei Drittel der Fälle sind dabei die Hamstrings und nur in 1/3 der Quadrizeps betroffen. Weitere häufige Lokalisationen sind die Hüft-Leisten-Region mit 23 % und die Waden mit 13 % [1]. So muss eine Profifußballmannschaft mit 10–15 Muskelverletzungen pro Saison rechnen. Alleine die Hamstring-Verletzungen haben ca. 80 Ausfalltage pro Saison und Mannschaft zur Folge. Die Ausfallzeit variiert dabei, abhängig von der Art und Schwere der Verletzung von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen, bei Rupturen sogar mitunter einige Monate. Während rund die Hälfte der Verletzungen eine Ausfallzeit von 1–4 Wochen zur Folge hat, liegt diese bei 13 % der Fälle bei über 28 Tagen. Das Verletzungsrisiko im Spiel ist 6-mal höher als im Training und steigt für Oberschenkel- und Leisten-/Hüftverletzungen über die Dauer der Belastung an. Gleichzeitig finden sich in diesen Regionen auch die schwersten Verletzungen. Nahezu alle indirekten Muskelverletzungen (Abb. 1) entstehen ohne Gegnerkontakt und nur 5 % im Rahmen eines Fouls.

Ein weiteres Problem stellen die Rezidiv-Verletzungen dar, die in bis zu 16 % der Fälle auftreten [1] und überdurchschnittlich häufig die Leisten-/Hüftregion betreffen. Die zu erwartende Ausfallzeit ist dann ca. 30 % länger als bei der Primärverletzung.

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