Informationen aus der Gesellschaft - OUP 07-08/2014

Eröffnungsrede von Prof. Andrea Meurer
62. Jahrestagung der VSOU in Baden-Baden

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

... genau 22 Jahre ist es her, dass ich zum ersten Mal nach Baden-Baden kam. Der Kongress fand damals hier im Kurhaus statt, da das Kongresshaus noch im Bau stand. Meine Stimmung war ehrfurchtsvoll bis verschüchtert, und ich war nervös, denn ich sollte meinen ersten Vortrag halten, genau hier in diesem Saal.

Man rief mich auf als Herr Meurer, ansonsten war man nett zu mir. Bei diesem Kongress waren außer mir nur 2 weitere Referentinnen, wir waren absolut in der Minderheit. Zur Diskussion rief mich der Vorsitzende, anders als die anderen Referenten, wieder hinauf auf die Bühne mit der Bemerkung: „So was sieht man hier nicht alle Tage.“

Heute stehe ich hier vor Ihnen als erste Präsidentin dieses Kongresses nach seiner über 60-jährigen Geschichte. Sie werden mir glauben, dass ich niemals damit gerechnet hätte und es bewegt mich tief.

Dir, lieber Thomas Möller, und dem gesamten Vorstand der VSOU möchte ich an dieser Stelle ganz besonders danken, dass Ihr ein solches Zeichen gesetzt habt.

Sicherheit

Als Hauptthema zu diesem Kongress habe ich „Sicherheit“ gewählt. Sicherheit ist eines der Grundbedürfnisse von uns Menschen, wenn nicht gar jeder denkenden und fühlenden Kreatur. Und das Bedürfnis nach ihr ist so alt wie die Menschheit und reicht in alle Bereiche unseres Daseins. Eng verbunden damit ist der Begriff der Geborgenheit, das Gefühl des Aufgehobenseins, dass keine Gefahr droht.

Gerade auch im Kontakt zur Medizin gerät das Bedürfnis nach Sicherheit ins Wanken, vielleicht besonders in der Chirurgie. Da ist die Integrität des Körpers bedroht, da droht ein verlässlicher Partner zu versagen, da geraten überkommene Sicherheiten ins Wanken, man fühlt sich unwissend und hilflos, da ist die Intimsphäre verletzt. Dass hier der Wunsch nach einem Arzt besteht, der Geborgenheit , Sicherheit vermittelt, steht außer Frage.

  • Die Sicherheit, dass er profund ausgebildet ist und die Diagnose klar erkennt ohne allzu viel Gerätemedizin, die Angst macht.
  • Die Geborgenheit, dass er sich Zeit nimmt, einfühlend die Problematik analysiert und die Intimsphäre respektiert.
  • Die Sicherheit, dass die empfohlene Therapie auch sicher die richtige ist, um die Krankheit zu heilen und nicht, weil sie neu ist und probiert werden will oder gar, weil sie sich besonders rechnet.

Ausbildung

Zur Ausbildung unserer Ärzte lassen Sie mich sagen, dass ich bei allen Anfeindungen an das deutsche Bildungswesen glaube. Ja, wir werkeln alle Jahre wieder an Lehrplänen der Schulen herum, die Approbationsordnung ist in der x-ten Novelle, die Facharztinhalte werden immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Dass das Wissen zu breit und zu wenig tief sei, wird beklagt. Zu theoretisch und nicht praktisch genug. So mancher Fehlschuss war und ist dabei, zugegeben. Und ob es für die erforderliche Menschenbildung des Arztes hilfreich ist, dass sich – G8-bedingt – bereits 17-Jährige immatrikulieren können, steht zu bezweifeln. Und so ist denn auch zu lesen von steigendem Zulauf an studentischen Beratungsstellen, weniger als Ausdruck einer möglichen generellen Sinnfrage, sondern mehr aus Orientierungslosigkeit, da selbst die stark verschulten Lehrpläne der Medizin noch mehr Freiheit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zulassen, als die gerade abgeschlossene Schule.

Dennoch: Deutschland hat eine lange und unvergleichliche Bildungstradition, und auch wenn der Zeitgeist es gerne anders souffliert: Wir haben, auch und gerade in der Medizin, eine solide, vielfältige und im internationalen Vergleich respektable Ausbildung.

Der Trend zu privaten medizinischen Hochschulen, die gegen horrende Gebühren kürzere Ausbildungszeiten versprechen, ist angesichts der Not deutscher Universitätskliniken durchaus verständlich.

Er orientiert sich in einer Zeit der zunehmenden Ökonomisierung der Gesundheit im Grunde folgerichtig an den Elite-Business-Schools, die einer privilegierten Minderheit vorenthalten sind. Allerdings geht es an der Sache völlig vorbei. Sicher – wir müssen die Zulassungsbedingungen zum Studium dringend überdenken. Der mäßige Abiturient ist nicht zwingend der schlechtere Arzt.

Wir haben nicht zu wenige Ausbildungsstandorte, sondern zu schlecht finanzierte. Dass Lehre und Forschung auf der Strecke bleiben, resultiert daraus, dass angesichts der unglaublichen finanziellen Schieflage jede verfügbare Personalressource in die klinische Patientenversorgung gesteckt wird.

Das ganze firmiert unter der Überschrift „Bildungsexpansion“ – ich bin nicht sicher, dass es die Bildung ist, die hier expandiert.

Zu Geborgenheit und Zeit für den Patienten lassen sie mich eine Episode im Umgang mit einer Unternehmensberatung berichten: Die Analyse einer Poliklinik ergab die Vorgabe, dass die Patientenkontaktzeit maximal – nicht durchschnittlich – 7 Minuten betragen dürfe, um effizient sein zu können. Der Vorschlag zur Erreichung des Ziels war u.a., dass der Patient bereits entkleidet warten könne, um die Umkleidezeit einzusparen. Es mag ja durchaus Patienten geben, bei denen so etwas geht, wie immer man sich auch dabei fühlen mag – Patient wie Arzt. Aber stellen wir uns den Tumorpatienten vor, den multimorbiden alten Menschen, das syndromale Kind.

Gleich perfide ist die Berechnung von Pflegeminuten und die sich daraus ergebende Zahl an Pflegenden – kein Raum zum Sprechen und Innehalten. Kann man Empathie in Minuten ausdrücken?

Woher das kommt, ist uns allen klar: Das Gespräch mit dem Patienten rechnet sich nicht. Wir leben in einem System, das sich, so zumindest erscheint es mir, ausschließlich ökonomisch ausgerichtet hat, wir erhalten betriebswirtschaftliche Zielvorgaben oder sind eigenverantwortliche Unternehmer, mit Kosten, die zu erwirtschaften sind. Dazu kommen Gewinnerwartungen und daraus resultierende Leistungssteigerungen.

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