Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016

Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?

Das DRUG bedarf aufgrund der eher inkongruenten Flächenverhältnisse der knöchernen Strukturen (distaler Radius und Caput ulnae) einer guten ligamentären Stabilisation. Als passive Stabilisatoren wirken unter anderem die dorsalen und palmaren Ligamente, der distale Anteil der Membrana interossea und der TFCC. Der M. pronator quadratus – welcher bei Kontraktion das Caput ulnae in die Incisur des DRUG drückt – wirkt zusätzlich als aktiver Stabilisator [10].

Die MI besteht aus verschiedenen Anteilen: Neben einem membranösen Anteil kann zwischen einem zentralen und einem proximalen Band sowie weiteren akzessorischen Bändern differenziert werden [11–13]. Der ulnare Ursprung des stärksten, dem zentralen Band („interossäres Ligament“ [11]), liegt etwa auf Höhe des Übergangs vom distalen zum mittleren Drittel der Ulna (~33 % der Ulnalänge). Von hier zieht das zentrale Band in einem durchschnittlichen Winkel von 21° zum Radius. Die Insertion des zentralen Bands liegt – gemessen vom Proc. styloideus radii – ungefähr auf Höhe von 60 % der Gesamtlänge des Radius selbst [14] (Abb. 1). Das zentrale Band ist durchschnittlich 2,6 cm breit [15]. Dieser zentrale Anteil der MI wirkt als Hauptstabilisator einer Proximalisierung des Radius entgegen [8, 11]. Hotchkiss et al. [11] identifizierten die MI insgesamt als den wichtigsten Stabilisator gegen eine Proximalisierung des Radius nach stattgehabter Resektion des Radiuskopfs.

Pathomechanismus

Die Inzidenz der Essex-Lopresti-Läsion wird mit 1–4 % aller Radiuskopffrakturen angegeben [7, 16]. Die Entität der Verletzung ist somit eher rar, allerdings ist die Inzidenz möglicherweise höher [17, 18]. Wie eingangs erwähnt, beschrieben Hausmann et al. [5] bei bereits einfachen Radiuskopffrakturen (Mason Typ I) MRT morphologisch nachgewiesene Läsionen der MI in 9 von 14 Fällen. Die Arbeitsgruppe um McGinley [19] untersuchte in ihrer Studie 18 Patienten nach Sturz auf den Unterarm mittels konventionellem Röntgen und zusätzlich innerhalb der ersten 10 Tage nach dem initialen Trauma mittels MRT-Diagnostik. Bei 13 Patienten wurde eine Radiuskopffraktur vom Typ Mason I diagnostiziert. Keiner dieser Patienten wies eine Läsion der MI auf, allerdings konnte in 6 Fällen ein Ödem im M. pronator quadratus nachgewiesen werden. Von den übrigen Patienten hatten 2 eine Radiuskopffraktur vom Typ Mason II und 3 Patienten eine Mason-Typ-III-Fraktur. Alle Patienten mit einer höhergradigen Radiuskopffraktur hatten ein Ödem innerhalb des M. pronator quadratus und zudem eine Läsion der MI. Alle Patienten mit einer Mason-Typ-III-Fraktur erlitten eine komplette Ruptur der MI. Das nachgewiesene Pronator-quadratus-Ödem korrelierte mit Schmerzen im Unterarmbereich. Die Autoren schlussfolgerten, dass Patienten mit einer höhergradigen Radiuskopffraktur einer weiterführenden Diagnostik unterzogen werden sollten, um eine Beeinträchtigung der longitudinalen Unterarmstabilität auszuschließen.

Es handelt sich bei der Essex-Lopresti-Läsion im Allgemeinen um hoch energetische Verletzungsmechanismen. Durch eine axiale Belastung des Unterarms bei gleichzeitiger Pronation wie z.B. bei einem abgefangenen Sturz auf den Arm kommt es zu einer signifikanten Belastung der osteoligamentären Strukturen. Hierdurch wird das Risiko einer Radiuskopffraktur und auch das Risiko für eine ligamentäre Verletzung erhöht [20].

Zum besseren Verständnis der Entstehung einer Essex-Lopresti-Läsion konstruierten Wegmann et al. [21] einen Fallstand, der den angenommenen Traumamechanismus – axiale Belastung des pronierten Unterarms – in vitro nachempfand. Der von der Arbeitsgruppe um Wegmann [21] entwickelte Fallstand spiegelte zudem die von McGinley et al. [20] beschriebene, notwendige Kraftaufwendung (bis zu 294 J) für die Essex-Lopresti-Läsion wieder. Mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskameras konnten die Autoren die verschiedenen Sequenzen des Traumas aufzeigen. Unter der zunehmenden axialen Belastung werden Radius und Ulna in der Transversalebene auseinander gedrückt. Dies führt schließlich zur Ruptur der MI. Aufgrund des Wegfalls der longitudinalen Stabilisierung kommt es zu einer unmittelbaren Proximalisierung des Radius. Durch die massive Druckbelastung auf das Capitullum humeri frakturiert letztendlich der Radiuskopf. Begleitend kommt es weiter distal zu einer Dislokation des DRUG. Dieses Verletzungsbild entspricht schließlich der vollständigen akuten Essex-Lopresti-Läsion.

Birbeck et al. [22] zeigten in ihrer biomechanischen Studie, dass es bei intaktem Radiuskopf – jedoch zerrissener MI oder lädiertem TFCC – zu keinem Vorschub des Radius gegenüber der Ulna kommt, da der Radiuskopf die Kraftübertragung auf das Ellenbogengelenk weitestgehend kompensiert. Wird die Läsion der MI initial übersehen und die radiale Säule bei vorliegender Trümmerfraktur nicht wiederhergestellt, so wird die Proximalisierung des Radius durch die entstehende longitudinale Instabilität umgehend begünstigt. Ist die MI bei frakturiertem Radiuskopf noch intakt und der Radiuskopf wird reseziert, so kommt es zu einer isolierten und übermäßigen Belastung der MI, insbesondere des interossären Ligaments [15]. Durch diese kontinuierliche Überbelastung wird die MI geschwächt, sodass es sekundär zu einer radialen Verkürzung mit konsekutivem ulnaren Vorschub kommt [4, 23–25]. Dies entspricht dem Mechanismus der chronischen Essex-Lopresti-Läsion. Shepard et al. [24] konnten für jeden Millimeter der radialen Verkürzung eine gegensätzliche Steigerung der ulnocarpalen Belastung von 10 % nachweisen. Demzufolge kann die chronische radiale Verkürzung zu einer frühzeitigen Degeneration des Handgelenks führen.

Diagnostik und Symptomatik

Der Patient wird in der Akutsituation – bei vorliegender Radiuskopffraktur – am ehesten Schmerzen und ggf. auch eine begleitende Bewegungseinschränkung im Ellenbogengelenk angeben. Der Ellenbogenschmerz kann initial dominieren. Eine relevante Schwellung und Schmerzhaftigkeit über dem Unterarm und dem Handgelenk kann fehlen. Das DRUG und der Unterarm müssen daher in jedem Fall mit in die klinische Untersuchung einbezogen werden. Schmerzen über dem DRUG oder eine im Seitenvergleich vermehrte Instabilität sollten an eine Essex-Lopresti-Verletzung denken lassen. Ebenso kann ein Hämatom mit begleitender Druckdolenz entlang des Unterarms auf eine Läsion der MI hinweisen.

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