Industrie und Handel - OUP 03/2013

Frühfunktionelle Behandlung des Schultergelenks mit dynamischer Orthese
Ein elektromyografischer Nachweis des „Kleinertprinzips“

O. Ferber

Zielsetzung: Das Schultergelenk des erwachsenen Menschen ist auch schon bei kurzfristiger Ruhigstellung extrem gefährdet, eine Adduktionskontraktur zu erleiden. Die vorliegende Arbeit hatte das Ziel, das Funktionieren des „Kleinert-Prinzips“ als eine der wesentlichen Voraussetzungen für die frühfunktionelle Behandlung von Erkrankungen des Schultergelenks mit eingeschränkter Belastbarkeit der Abduktoren zu überprüfen.

Methoden: Es erfolgte eine Nadelelektromyografie von 11 Mm. supraspinati (5 links, 6 rechts) an 8 klinisch gesunden Probanden (3 Frauen und 5 Männern im Alter von 39–58 Jahren, Mittelwert 47,6 Jahre) und 6 Mm. infraspinati bei 6 klinisch gesunden Probanden (2 links und 4 rechts, 2 Frauen und 4 Männer im Alter von 25–54 Jahren, Mittelwert 44,3 Jahre). Untersucht wurde die elektrische Aktivität der Muskeln als indirekter Indikator für die Spannung der Sehnen der entsprechenden Muskeln unter verschiedenen Aktivitätszuständen des Schultergelenks, wobei die dynamische Schulterabduktionsorthese OmoliftR der Firma Albrecht zum Einsatz kam. EMG in Ruhe, aktiver Adduktion, passiver Abduktion, Halten des Armes in 90° Abduktion gegen die Schwerkraft, Abduktion der Schulter aus der Horizontalen gegen submaximalen Widerstand und außerdem bei der Messung des M. infraspinatus Retroversion und Außenrotation des 90° abduzierten Schultergelenks gegen submaximalen Widerstand.

Ergebnisse: Bei sämtlichen untersuchten Muskeln zeigte sich ein einheitliches und reproduzierbares Bild der elektrischen Aktivitäten, sodass die Untersuchungsreihen auf die o.a. Fallzahlen beschränkt werden konnten. Bei aktiver Adduktion und ebenso bei passiver, orthesengestützter Abduktion des Schultergelenks zeigte sich eine mit dem Ruhetonus der Muskeln vergleichbare elektrische Aktivität, während bei aktiver mäßiger und starker Belastung der Muskeln entsprechend starke Entladungspotenziale nachweisbar waren.

Schlussfolgerung: Unsere Untersuchungen belegen, dass das „Kleinert-Prinzip“ am menschlichen Schultergelenk gegeben ist. Dies stellt eine wichtige Voraussetzung für die frühfunktionelle, orthesengestützte Behandlung von Erkrankungen mit eingeschränkter Belastbarkeit der Abduktoren dar (Rotatorenmanschettenrekonstruktion, nach Abriss Tuberculum majus, Z.n. Endoprothese etc.). Hierdurch scheint möglich, das Auftreten von Adduktionskontrakturen zu minimieren und eine schnellere Rehabilitation von Patienten mit Schulterläsionen zu erreichen.

In steigendem Maße werden Erkrankungen des Schultergelenks operativ behandelt, bzw. ist eine konservative Therapie von Bewegungseinschränkungen zur Erlangung einer möglichst freien Funktion des Armes erforderlich. Schon kurze Ruhigstellungsphasen führen am Schultergelenk des Erwachsenen zu Kontrakturen, wobei es sehr häufig zu Einschränkungen der Abduktion kommt. Die gebräuchlichen Therapieschemata beinhalten in der Regel die Lagerung des betroffenen Armes in ca. 30–60° Abduktion und passives Durchbewegen des Schultergelenks im Rahmen einer Physiotherapie.

In der Praxis erfolgt die Mobilisation durch einen Therapeuten im ambulanten Rahmen nicht in ausreichendem Maße (Frequenz und Umfang u.a. limitiert durch geringe Verschreibungsmöglichkeiten, Wege zum Therapeuten etc.). Mit der dynamischen Schulterorthese OmoliftR der Firma Albrecht steht seit ca. einem Jahr ein Hilfsmittel zur Verfügung, mit welchem eine durch den Patienten eigenständig durchführbare frühfunktionelle Bewegungstherapie des Schultergelenks möglich ist. Auf der Orthese kann der betroffene Arm in einem frei wählbaren Winkel zwischen 30 und 100° in Abduktion statisch gelagert werden, bzw. in einem einstellbaren Umfang von maximal 30–100° orthesengestützt aktiv-assistiv bzw. rein passiv abduziert werden.

Es handelt sich bei der OmoliftR um eine gelenkige Orthese mit einer in ihrer Kraft einstellbaren Feder, die über den gewählten Bewegungsumfang eine konstante Kraftentfaltung aufweist, d.h. die zur aktiven Adduktion erforderliche Kraft steigt nicht mit steigender Federspannung. Die Orthese ermöglicht mit ihrer auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten stufenlos einstellbaren Federkraft eine Abduktionsbewegung von passiv über aktiv-assistiv bis hin zur forcierten Quengelung des Schultergelenks.

Neben den wenigstens übungsstabilen Verhältnissen ist eine weitere unabdingbare Voraussetzung für die frühfunktionelle Behandlung von Erkrankungen der Schulter mit eingeschränkter Belastbarkeit der Abduktoren das Funktionieren des „Kleinert-Prinzips“.

Dieses ist aus der Therapie von Sehnenverletzungen an der Hand bekannt und bedeutet eine reflektorische Relaxation der Antagonisten bei Aktivierung der Agonisten, dadurch ist ein spannungsfreies Gleiten von rekonstruierten Sehnen möglich. Am Beispiel der Beugesehnen geschieht dies durch eine Aktivierung der Streckmuskulatur und eine passive Beugung durch Gummizügel.

Methode

Als Maß für die Spannung der Mm. supra- und infraspinati und damit für die Spannung der zugehörigen Sehnen legten wir die Höhe der elektromyografischen Potenziale zugrunde. Untersucht wurden von klinisch gesunden Probanden 11 Mm. supraspinati (5 links und 6 rechts, 3 weiblich, 5 männlich im Alter zwischen 39–58 Jahren, Mittelwert 47,6 Jahre) und 6 Mm. infraspinati (2 links und 4 rechts, 2 weiblich und 4 männlich im Alter von 25–54 Jahren, Mittelwert 44,3 Jahre). In der Neurologischen Klinik des Klinikums Meiningen fanden wir die Unterstützung von ChA Dr. Heide, der für uns freundlicherweise die Messungen durchführte.

Die Ableitungen erfolgten mittels einer konzentrischen Nadelelektrode mit einem EMG-Gerät der Fa Keypoint, Ablenkgeschwindigkeit 80 ms/Div., Verstärkung 1 mV/Div., unterer Filter 2 Hz, oberer Filter 10 kHz. Die Nadel wurde oberhalb bzw. unterhalb der Mitte der Spina scapulae bis zum Knochenkontakt vorgeschoben und dann ca. 2 mm zurückgezogen. Aufgezeichnet wurden EMG-Episoden von 800 ms Dauer bei:

  • aktiver Adduktion des Armes von 90° auf 30° gegen den Widerstand der Orthese
  • passiver Abduktion des Armes von 30° auf 90° durch die Orthese
  • Halten des Armes gegen die Schwerkraft in der Horizontalen
  • Abduktion des Armes über die Horizontale gegen den Widerstand des Untersuchers (submaximale Aktivierung)

Und zusätzlich bei den Messungen der Potenziale des M. infraspinatus bei seitlich in der Horizontalen gelagertem Arm bei:

  • forcierter Retroversion des Schultergelenks und
  • forcierter Außenrotation aus der Nullstellung jeweils wieder gegen den Widerstand des Untersuchers (submaximale Aktivierung).

Die abgeleiteten Potenziale wurden semiquantitativ nach Amplitude und Dichte beurteilt.

Ergebnisse

Bei allen Probanden zeigte sich in Ruhe, aktiver Adduktion und ebenso bei der passiven, orthesengestützten Abduktion keine oder nur geringe Muskelaktivität, beim Halten des Armes gegen die Schwerkraft eine mäßige Aktivität und bei Druck des Armes gegen submaximalen Widerstand im Sinne Abduktion, Retroversion und ebenso Außenrotation ein deutliches Entladungsmuster des abgeleiteten Muskels. Bei den uniformen und reproduzierbaren Messergebnissen wurde auf eine Ausweitung der Zahl untersuchter Muskeln verzichtet.

Schlussfolgerung

In der vorliegenden Arbeit wurde die Gültigkeit des „Kleinert-Prinzips“ am Schultergelenk des Menschen nachgewiesen. Damit ist es möglich, eine frühfunktionelle Nachbehandlung des Schultergelenks durchzuführen unter Verwendung der dynamischen Abduktionsorthese OmoliftR, wobei die Adduktoren als intakte Motoren genutzt werden können.

Hierbei gelten selbstverständlich die Vorgaben des Operateurs, der am besten die Belastungsfähigkeit der Gewebe einschätzen kann, und somit die Intensität der Behandlung festlegen sollte. Ein möglicher Fahrplan für die Therapie einer rekonstruierten Supraspinatussehne könnte z.B. wie folgt aussehen:

Anpassung der Orthese und Üben des Bewegungsablaufes (aktive Adduktion und passive Abduktion) ab Tag der Indikationsstellung zur Op

  • Tag 0–3 post Op: Immobilisierung in 30° Abduktion der Schulter
  • Tag 4–28 aktive Adduktion bis 30° und passive Abduktion bis 90°
  • Tag 29–42 aktive Adduktion bis 30° und passiv-assistive Abduktion bis 90°
  • Ab 7. Woche stufenweiser Beginn der orthesenfreien aktiven Mobilisation

 

Bei konservativer Quengelbehandlung einer Schultersteife: Entsprechend der Beschwerdesymptomatik des Patienten sukzessive Steigerung des Bewegungsumfanges und der Federkraft der Orthese. Eigene Beobachtung bei der Therapie von Schulterläsionen lassen gute Ergebnisse beim Einsatz der OmoliftR erkennen. Eine Verifizierung durch eine Vergleichsstudie ist geplant.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Ottfried-Josef Ferber

Orthopäde im MVZ Bad Salzungen

Gothaer-Straße 67

99848 Wutha-Farnroda

dr-ferber@web.de

SEITE: 1 | 2