Übersichtsarbeiten - OUP 02/2025
Geriatrisches Polytrauma –alt und mobil, aber fragil!
Geriatrische Patientin/geriatrischer Patient
Ein geriatrischer Patient wird durch 2 Hauptkriterien definiert:
geriatrietypische Multimorbidität
höheres Lebensalter (überwiegend 65–70 Jahre und älter)
Dabei ist die geriatrietypische Multimorbidität vorrangig vor dem kalendarischen Alter zu betrachten. Alternativ kann auch ein Alter von 80 Jahren und älter, aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, als Kriterium herangezogen werden [1].
Geriatrische Patientinnen und Patienten zeichnen sich durch eingeschränkte Reservekapazitäten und grenzgradig kompensierte Funktionseinschränkungen aus. Die biologische Alterung und damit verbundene Faktoren wie Multimorbidität, Gebrechlichkeit („frailty“) und reduzierte physiologische Reserven spielen eine entscheidende Rolle. Das Konzept der Gebrechlichkeit beschreibt eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegenüber Stressfaktoren aufgrund altersbedingter Funktionsverluste in mehreren Organsystemen. Sie gelten daher als Hochrisikopatientinnen-/patienten.
Polytrauma
Ein Polytrauma ist definiert als 2 oder mehr gleichzeitig auftretende schwere Verletzungen an mindestens 2 Körperregionen, wobei mindestens 1 Verletzung oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist [2]. Typischerweise betreffen diese Verletzungen lebenswichtige Organe oder Körperstrukturen wie Kopf, Thorax, Abdomen, Wirbelsäule oder große Knochen. Der Injury Severity Score (ISS) wird zur Objektivierung der Verletzungsschwere verwendet. Ein ISS-Wert von 16 oder höher gilt als kritisch [16].
Polytraumata resultieren häufig aus hochenergetischen Ereignissen wie schweren Verkehrsunfällen, Stürzen oder Gewalteinwirkungen [17]. Bei geriatrischen Patientinnen und Patienten können jedoch bereits weniger schwere Verletzungen durch „niedrig-Rasanz-Traumata“ aufgrund von Komorbiditäten und eingeschränkten physiologischen Reserven lebensbedrohlich sein. Die Komplexität der Verletzungen erfordert einen multidisziplinären Behandlungsansatz und stellt eine erhebliche Herausforderung für das medizinische Personal dar [19].
Merke:
Die geriatrische Patientin/der geriatrische Patient zeichnet sich nicht nur durch sein Alter von 65–70 Jahren oder älter aus, sondern präsentiert sich führend durch seine Multimorbidität.
Ein Polytrauma definiert sich als eine Mehrfachverletzung von mind. 2 Körperregionen mit einem AIS-Grad ? 3 (Abbreviated Injury Scale) oder einem ISS (Injury Severity Scale) ? 16.
Demografischer Wandel und Epidemiologie
Laut dem Bundesministerium des Innern und für Heimat verändert der demografische Wandel Deutschland so tiefgreifend wie kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung [3, 4]. Zentrale Merkmale sind:
Alterung der Bevölkerung
wachsende Vielfalt der Bevölkerung
deutliche Zunahme der erwerbstätigen Gesellschaft älter als 60 Jahre
Die Menschen in Deutschland leben länger, sind gesünder und mobiler als in früheren Generationen. Gleichzeitig ist die Geburtenzahl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem niedrigen Niveau [3].
In Deutschland betrug der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre im Jahr 2020 etwa 22 % und wird bis 2050 voraussichtlich auf 30 % steigen. Dies führt mittelbar zu einer stetig steigenden Zunahme von Traumafällen bei älteren Patientinnen und Patienten.
Die Hauptursachen für Polytraumata bei geriatrischen Patientinnen und Patienten unterscheiden sich von denen jüngerer Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz zur jüngeren Bevölkerungsgruppe spielen nicht die sogenannten Hochenergietraumata die führende Rolle, vielmehr sind, wie bereits erwähnt, die Niedrigenergietraumata hauptverantwortlich für die/den polytraumatisierten geriatrische/n Patientin/Patient. Mehr oder minder banale Stürze sind die häufigste Ursache, gefolgt von Verkehrsunfällen, wobei ältere Patientinnen und Patienten oft als Fußgänger oder zunehmend als „fitte und mobile“ Radfahrer involviert sind. Ebenso waren laut einer Studie etwa 40 % der geriatrischen Traumafälle mit Synkopen assoziiert, was die Bedeutung präventiver Ansätze unterstreicht [5].
Herausforderungen in der
Versorgung
Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigt auch die Zahl der geriatrischen Polytraumapatientinnen und -patienten. Das TraumaRegister DGU® der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie liefert hierzu aufschlussreiche Daten [6]:
Im Jahr 2017 waren 26,2 % der erfassten Polytraumapatientinnen und -patienten über 70 Jahre alt.
Im Jahr 2023 waren bereits 30,1 % der erfassten Polytraumapatientinnen und -patienten über 70 Jahre alt [7]. Es wird erwartet, dass die Zahl der polytraumatisierten geriatrischen Patientinnen und Patienten in den kommenden Jahren ähnlich der demografischen Entwicklung kontinuierlich weiter steigen wird.
Diese Entwicklung stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen, da geriatrische Polytraumapatientinnen und -patienten sowohl im Verletzungsmuster als auch in der Therapiestrategie wesentliche Unterschiede zu jüngeren Patientinnen und Patienten aufweisen [6, 12, 18, 22].
Merke:
In den vergangenen Jahren kommt es zu einer kontinuierlichen Zunahme an polytraumatisierten, geriatrischen Patientinnen und Patienten.
Veränderungen im Verletzungsmuster bei geriatrischen Polytraumata
Mit zunehmendem Alter der Patientinnen und Patienten lassen sich charakteristische Veränderungen im Verletzungsmuster bei Polytraumata beobachten [6]:
Zunahme schwerer Kopfverletzungen [15]
Rückgang schwerer abdomineller Verletzungen
Diese Verschiebung im Verletzungsmuster erfordert angepasste Behandlungsstrategien und eine besondere Aufmerksamkeit für potenzielle Komplikationen im Bereich der Kopfverletzungen bei älteren Patientinnen und Patienten.
Physiologische Besonderheiten und Morbiditäten der frailty-Patientinnen und -Patienten
Mit erhöhtem Alter treten physiologische Veränderungen wie eine reduzierte kardiale Reserve, verringerte Lungenkapazität, eingeschränkte Nierenfunktion und reduzierte Knochendichte auf. Diese Faktoren beeinflussen die Reaktion der Patientinnen und Patienten auf Verletzungen und deren Behandlung. Ein Blutverlust, der bei jüngeren Patientinnen und Patienten kompensiert werden könnte, kann bei älteren, beispielsweise bereits zu einem Kreislaufkollaps führen. Besonders hervorzuheben sind hierbei der fortschreitende Rückgang der Zellfunktion und der verminderten physiologischen Reserven bei älteren Patientinnen und Patienten, was zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Reaktion auf physische Belastungen wie Traumata führt. Besonders beeinträchtigt bei geriatrischen Patientinnen und Patienten zeigt sich zumeist das kardiorespiratorische System. Hierbei kommt es durch chronische Erkrankungen oder Dauermedikation zur verminderten Reservekapazität auf traumatische Einflüsse. Gleichzeitig spielt die gestörte Koagulation, durch Vorerkrankungen oder Antikoagulanzien, eine entscheidende Rolle in Phase der akuten Traumaversorgung [8].