Informationen aus der Gesellschaft - OUP 03/2020

Innovation Qualität Ethik 2020

Rüdiger von Eisenhart-Rothe

Nach den mentalen Revolutionen, angestoßen durch Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud hat die vierte Revolution, die digitale Revolution, begonnen. Sie schreitet unaufhaltsam fort und durchdringt jetzt schon alle unsere Lebensbereiche. Sie verändert nicht nur das Privat- oder Wirtschaftsleben, sondern betrifft v.a. auch den Gesundheitssektor. Trotz erheblicher Fortschritte stehen wir als Orthopäden und Unfallchirurgen, ebenso wie die meisten anderen medizinischen Disziplinen, erst am Anfang. Entsprechend einer Studie von Roland Berger (Future of Health) soll jedoch bereits in der nahen Zukunft 20 % der ärztlichen Leistung durch künstliche Intelligenz (KI) und Robotik ersetzt werden. Satya Nadella, CEO von Microsoft, sieht die Medizin sogar als dringlichsten Anwendungsbereich von KI.

Wenn nun diese digitalen Technologien wie Robotik, Big Data oder KI auf O und U treffen, entstehen zwangsläufig eine Reihe von neuen Herausforderungen und Fragestellungen. Diese lassen sich nicht immer allein mit medizinisch-technologischen, rechtlichen oder ökonomischen Argumenten beantworten, sondern bedürfen insbesondere auch einer ethischen Bewertung.

Dies können nun konkrete Einzelfragen sein, beispielsweise die Übernahme von Verantwortungen bei der Entwicklung und auch Einsatz von OP- und Pflegerobotersystemen. Maschinen sind nach heutiger Rechtsprechung keine Rechtspersönlichkeiten und können keine Verantwortung übernehmen, wohl aber basierend auf Algorithmen teilweise autonom entscheiden bzw. handeln. Ist der Entwickler oder Anwender nun für eine Fehlhandlung des Roboters verantwortlich? Kann und soll ein Pflege- oder Operationsroboter eine Pflegekraft oder einen Operateur komplett ersetzen? Während im Operationssaal noch die Schnittstelle Operateur und Maschine (z.B. semi-aktive Systeme wie der MAKO-Roboter oder mixed reality viewer der Firma Brainlab) im Vordergrund steht, ist der helfende Pflegeroboter schon Realität. In Anbetracht des Pflegemangels können Pflegeroboter eine gute Lösung sein und auch der Bereich der Geriatronik wird immer wichtiger, um die Mobilität möglichst lange zu erhalten und dadurch auch zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation im Alter zu erleichtern. Ist ein Pflegeroboter nun ein wichtiger Beitrag zur Erweiterung der Freiheit, indem er die selbständige Lebensweise unterstützt? ktuell können sich nur 20 % der Bevölkerung vorstellen, dass ein Roboter beispielsweise die Körperpflege übernimmt.

Vielleicht noch dringlicher sind Fragen zum Thema Big Data. So wird das Sammeln von medizinischen Daten insbesondere im Bereich Prävention und Mobilität (Stichwort wearables) nicht ohne große Firmen wie Google oder Amazon umzusetzen sein. Wie soll mit diesen neuen Playern im Gesundheitssystem umgegangen werden? Ist das Sammeln von Gesundheitsdaten zur gewinnorientierten Nutzung unethisch und unsittlich? Aber was, wenn dadurch (schneller) neue Medikamente entwickelt werden können? Wem gehören die medizinischen Daten oder müssen diese einem übergeordneten Interesse dienen (Projekte wie „Patients like me“ oder „Personal genome Project“)? Wie viel persönliche Daten wollen wir teilen, wieviel Transparenz wollen wir? Und was sind wir dafür bereit aufzugeben?

Wer analysiert und interpretiert die Daten und entwickelt daraus einen Behandlungsalgorithmus? Machine learning basiert auf bisher Gelerntem. Was passiert, wenn der Algorithmus das Problem nicht kennt, weil es noch nie vorgekommen ist, wie zum Beispiel die Covid-Pandemie oder ein sog. Reality gap, also eine Diskrepanz zwischen Simulation und Realität, zu einer Fehlentscheidung führt? Und wenn das IBM Watson Oncology-System Festlegungen in Behandlungspfaden des Osteosarkoms auf Grundlage veralteter, nicht-repräsentativer Datensätze falsch treffen würde: wer wäre für die Aktualisierung/Validierung der Daten oder den entstandenen (Personen-)schaden verantwortlich?

Selbst wenn keine Komplikationen auftreten, Künstliche Intelligenz basiert auf Regeln, die von Entwicklern vorgegeben werden. Sogenannte „decision support systems“ schlagen, basierend auf den vorgegebenen Kriterien und den vorhandenen Daten wie Outcome oder Kosten, eine entsprechende Therapie bzw. ein entsprechendes Vorgehen vor. Inwieweit dann ökonomische Kriterien einen Einfluss auf die Entscheidung haben, bleibt für den Anwender unklar. Noch weitreichender sind die Folgen in der Akutversorgung von Schwerstverletzten oder Triagierung, wenn Algorithmen selber ethikfähig entwickelt werden (Wer definiert was ethikfähig ist?). Wie wird dann bei Ressourcenknappheit ein Algorithmus entscheiden, wen es sich lohnt zu retten? Wieviel ist ein Menschenleben wert, sind alle Menschen gleich viel wert und wer trägt dann die Verantwortung für diese Entscheidung: der Entwickler oder der Anwender?

Was passiert, wenn Arzt und Algorithmus unterschiedlich entscheiden? Vielleicht erkennen wir auch nicht den Moment der technologischen Singularität, wenn selbstlernende Systeme besser entscheiden als Menschen und somit der Einfluss von Big Data und künstlicher Intelligenz auf das medizinische Wissen und die Therapieentscheidung wichtiger ist als die Empirie von Ärzten und Wissenschaftlern.

All diese Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist, einen ethischen Rahmen gerade für diese neuen Technologien zu schaffen. Was sind unsere Ziele bei der Digitalisierung in O und U? Die Digitalisierung selber hat keine eigenen Ziele und Ethik. In der Medizin muss es immer um die Menschen, ihre Heilung und ihr Wohlbefinden gehen. Ökonomische und technologische Vorteile dürfen hier keine Priorität haben, sondern nur dem übergeordneten Ziel dienen. Und es geht in der Zukunft darum, das richtige Maß für den Einsatz von KI, Robotik, Big Data und das menschliche Einfühlungsvermögen des Arztes und aller Mitarbeiter im Gesundheitssystem und in der Pflege zu finden. Daher haben wir auch die Verpflichtung und die Verantwortung, die Digitalisierung in O und U wesentlich zu prägen und in die richtige Richtung zu lenken. Daraus ergibt sich für uns eine Reihe von Aufgaben:

Wir müssen zuverlässige und repräsentative Daten sammeln und vertrauensvoll damit umgehen. So bilden beispielsweise in der Endoprothetik die mit der Initiative unserer Fachgesellschaft gegründeten Systeme der Datenerfassung (EPRD) und Zertifizierung (EndoCert) eine gute Grundlage. Sicherlich wird auch in manchen Bereichen eine enge Zusammenarbeit zwischen medizinischen Dienstleistern wie den Krankenhäusern und medizinisch orientierten Hightech-Unternehmen notwendig sein, wie es z.B. in skandinavischen Ländern bereits etabliert ist. Wichtig dabei ist jedoch, dass wir als Interessenvertreter der Patienten Partner auf Augenhöhe sind und die Persönlichkeitsrechte und Interessen der Patienten wahren. Wir müssen zudem für eine korrekte Interpretation der Daten sorgen und die Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Vorhersagbarkeit auf der Basis von Big Data und KI-gestützter Verfahren kritisch beurteilen.

Ohne Zweifel ist, dass die Digitalisierung in O und U ein großer Gewinn sein kann. Es ist eher die Frage, wie lange wir es verantworten können, dass diese bisher so gering eingesetzt wurde? Digitalisierte Gesundheits- und Patientenakten können den Informationsfluss zwischen Patienten, Ärzten und Pflegekräften transparenter, effizienter und sicherer gestalten. Big Data-Technologien stellen die Grundlage für die personalisierte Medizin und Theranostik dar, sei es in der Behandlung degenerativer Gelenkerkrankungen, der Sarkomtherapie oder des Polytraumamanagements. Diese Techniken erlauben es, hoffentlich zukünftig auf den Patienten zugeschnittene Therapien mit verbessertem Outcome vorzuschlagen. Bis auf weiteres trägt jedoch immer noch der Arzt die Verantwortung für den Patienten und die Entscheidung für jede Therapie, die aber zukünftig auf einer breiteren wissenschaftlichen Grundlage basiert (sog. assistant intelligence). Roboter sind ideal, um in der Pflege und im OP zu unterstützen. Ein Roboter soll einen Arzt nicht ersetzen, ihn aber unterstützen und so für ein besseres Ergebnis sorgen. Dazu müssen wir gemeinsam mit Ingenieuren und Informatikern die Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz und Robotik steuern. Die erwartbaren Effizienzgewinne aus einer digitalisierten Medizin müssen dann vor allem in mehr Zeit für Ärzte und Pflegende münden, denn gerade das Fehlen von Zeit hat die Medizin durch die Beschränkung der direkten Kommunikation und Zuwendung unmenschlicher gemacht.

Und natürlich wird sich die Ausbildung auch dahingehend wandeln (müssen). Hier ist das Ziel, digital versierte und patientenzugewandte Ärzte und Pflegende auszubilden, aber auch die Ausbildung der Entwickler, Ingenieure und Informatiker um ethisch-medizinische Anteile zu ergänzen. Was wir von amerikanischen Hightech-Unternehmen lernen können, ist die Offenheit für Vorschläge insbesondere von Jüngeren. Die jüngere Generation muss mehr einbezogen werden, um den Wandel der Ansprüche an die Medizin frühzeitig zu erkennen.

Die zukünftigen Herausforderungen in unserem Fach, sei es die Ökonomisierung oder Digitalisierung, müssen proaktiv von uns Ärzten adressiert werden. Kommen wir dieser Aufgabe nicht nach, werden fachfremde Akteure ohne Rücksicht auf Qualität, Recht oder Ethik Lösungen präsentieren und es besteht die Gefahr, dass wir zu reinen Dienstleistern ohne Gestaltungsmöglichkeiten reduziert werden. Wie können wir aber in einem Umfeld der ungleichen Machtbalance und Ressourcenknappheit für unsere Patienten diese Herausforderungen bewältigen? Gerade die aktuelle Situation zeigt, dass wir es sind, die in den systemrelevanten Berufen tätig sind und dementsprechend können und müssen wir auch auftreten. Dabei müssen wir in O und U – Kliniker, Wissenschaftler und Niedergelassene gemeinsam – nach außen den Kassen, Politikern und Unternehmen gegenüber Geschlossenheit demonstrieren und mit einer Stimme sprechen – zum Wohl unserer Patienten. Dann besteht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Digitalisierung dem Arzt, Pflegenden und Patienten gemeinsame Zeit und Wertschätzung zurückgibt und die Ergebnisse verbessert.

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. med.
Rüdiger von Eisenhart-Rothe

Klinikum rechts der Isar

Technische Universität München

Ismaninger Straße 22

D-81675 München

eisenhart@tum.de

SEITE: 1 | 2