Übersichtsarbeiten - OUP 09/2019

Kniegelenknahe Osteotomien bei Knorpeltherapie und Bandinstabilität

Eine Varusdeformität bei Bandinstabilität kann nach Noyes et al. [31] in 3 Typen eingeteilt werden: primary, double und triple Varus:

1. Primary Varus: Durch die ossäre Geometrie bedingt und durch Knorpel- oder Meniskusverlust akzentuiert.

2. Double Varus: Zusätzliche laterale Gelenköffnung unter Belastung (sog. Varus-thrust) durch Insuffizienz der lateralen Bandstrukturen.

3. Triple Varus: Zusätzlicher Hyperextensions-varus-Thrust durch Insuffizienz der lateralen und posterolateralen Bandstrukturen.

Das Erkennen eines double/triple Varus ist bei der Behandlung der VKB- und HKB-Insuffizienz von entscheidender Bedeutung, da beide Kreuzbänder sekundäre Stabilisatoren gegen Varusstress darstellen. Durch einen Varus-Thrust kam es in einer biomechanischen Arbeit zu einer Zunahme der VKB-Spannung um 218 %, was letztlich zum Versagen einer VKB-Plastik durch repetitive Überlastung führen kann [38]. Ebenso stellt eine nicht adressierte Varusfehlstellung einen signifikanten Risikofaktor für das Versagen einer HKB-Rekonstruktion dar [29].

Tibialer Slope

Der tibiale Slope beschreibt die Dorsalinklination des Tibiaplateaus und Werte zwischen 7 und 13° gelten als physiologisch [12]. Aufgrund des nach dorsal geneigten Tibiaplateaus kommt es unter axialer Kompression und Quadrizeps-Zug zu einer anterioren Translation der Tibia (ATT) (Abb. 2). Biomechanische und klinische Arbeiten konnten eine signifikante Korrelation zwischen dem Slope und der ATT zeigen: je steiler der Slope, desto ausgeprägter war auch die ATT [1, 10]. Daher beeinflusst der tibiale Slope die antero-posteriore Stabilität des Kniegelenks und damit auch die Belastung, welche auf die Kreuzbänder und entsprechend auch auf eine Kreuzbandplastik einwirkt. Ein flacher tibialer Slope sollte entsprechend mit einer geringeren ATT und somit biomechanischen Vorteilen bei VKB-Rekonstruktion assoziiert sein, während ein steiler tibialer Slope mit einer vermehrten ATT und somit biomechanischen Vorteilen bei HKB-Rekonstruktion assoziiert sein sollte [14, 37].

Während diese Hypothese bis vor einigen Jahren v.a. eine theoretische Überlegung war, konnten in den letzten Jahren zahlreiche Studien die Bedeutung des tibialen Slope für die Belastung einer Kreuzbandplastik und der postoperativen Stabilität belegen. In klinischen Studien war ein steiler tibialer Slope assoziiert mit einer vermehrten ATT und einer höheren Versagensrate nach VKB-Plastik [23, 32, 40], wohingegen eine Slope-Reduktion im biomechanischen Experiment zu einer Reduktion der auf das VKB-Transplantat einwirkenden Kraft führt [18].

Für die hintere Instabilität konnte entsprechend gezeigt werden, dass die Belastung einer HKB-Plastik mit zunehmender Abflachung des Slopes zunimmt [5] und dass die Reduktion der hinteren Schublade durch eine HKB-Plastik mit dem tibialen Slope korreliert: je steiler der Slope, desto erfolgreicher war die Reduktion der hinteren Schublade [16].

Basierend auf diesen neueren Erkenntnissen sollte der tibiale Slope zumindest im Revisionsfall in die Versagensanalyse mit einbezogen und ggf. mit adressiert werden. Ob eine Slope-Modifikation bereits bei der primären Rekonstruktion in Erwägung gezogen werden sollte, ist aktuell noch unklar und sollte Gegenstand folgender Studien sein.

Behandlungsempfehlung der Autoren

Insuffizienz der Kollateralbänder

Bei Varusfehlstellung ³ 5° ist aus Sicht der Autoren eine isolierte Rekonstruktion des lateralen Kollateralbands oder der posterolateralen Ecke kontrainduziert (Abb. 3) [30]. Entsprechendes gilt für die mediale/posteromediale Rekonstruktion bei Valgus ³ 5°. Basierend auf der klinischen Erfahrung führen die Autoren Achskorrekturen bei peripheren Instabilitäten durch, mittlerweile aber auch bei Fehlstellung unter 5°. Grundsätzlich kann die Osteotomie und Bandrekonstruktion als einzeitiges Verfahren durchgeführt werden. Wird ein zweizeitiges Vorgehen favorisiert, sollte in jedem Fall zunächst die Achskorrektur erfolgen [14, 37].

Insuffizienz des vorderen
Kreuzbands

Ein Behandlungsalgorithmus zur Behandlung der VKB-Insuffizienz im Varusknie ist in Abbildung 4 dargestellt. Der Einfachheit halber wird davon ausgegangen, dass die Varusfehlstellung tibial bedingt ist und HTO daher stellvertretend für Achskorrektur im Allgemeinen steht. Primär wird unterschieden, ob lediglich ein Varusmalalignment vorliegt oder bereits eine Varusgonarthrose. Bei Varusmalalignment wird weiter unterschieden, ob es sich um einen primary Varus handelt oder einen double/triple Varus. Beim primary Varus wird noch unterschieden, ob es sich um eine primäre VKB-Ruptur handelt oder eine Re-Ruptur. Bei Patienten mit primary Varus und primärer VKB-Ruptur kann eine isolierte VKB-Rekonstruktion erfolgen [20]. Bei Patienten mit primary Varus und Re-Ruptur sollte besondere Beachtung auf assoziierte Verletzungen des Knorpels und der Menisken gelegt werden und ggf. neben der VKB-Rekonstruktion auch eine HTO zur Vermeidung der Arthroseentstehung bzw. -progression in Erwägung gezogen werden [8, 41]. Bei Patienten mit double/triple Varus sollte aus unserer Sicht eine VKB-Rekonstruktion mit einer HTO kombiniert werden, um die Plastik vor repetitiver Überlastung durch den Varus-Thrust zu schützen [31, 38]. Bei Patienten mit VKB-Insuffizienz und bereits manifester Varusgonarthrose wird in erster Linie unterschieden, ob eine subjektive Instabilität vorliegt oder nicht. Haben die Patienten lediglich Schmerzen und keine subjektive Instabilität, ist unserer Ansicht nach eine alleinige HTO die probate Therapie [24]. Besteht neben der Arthrose auch eine subjektive Instabilität, sollte die HTO mit einer VKB-Rekonstruktion kombiniert werden.

Die Indikationen zur Slope-Korrektur sind weniger eindeutig. Basierend auf den bisher verfügbaren Daten sollte jedoch im Falle einer VKB-Re-Ruptur der tibiale Slope in die Versagensanalyse mit einbezogen werden und im Rahmen der Revision zum Schutz der Bandplastik ggf. mit adressiert werden. In der aktuellen Literatur wird bei Patienten mit VKB-Re-Ruptur eine Extensions-Osteotomie in Kombination mit einer VKB-Plastik bei einem Slope > 12° empfohlen [14]. In 2 publizierten Fallserien konnte hiermit bei Patienten mit VKB-Re-Re-Ruptur ein gutes klinisches Ergebnis ohne erneute Transplantatruptur erzielt werden [9, 35].

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5