Originalarbeiten - OUP 11/2012

Konservative Skoliosebehandlung – Was ist evidenzbasiert?

H.-R. Weiß1

Zusammenfassung: Der konservativen Skoliosebehandlung wurde lange Zeit eine Wirkung abgesprochen. In letzter Zeit hat es einige Reviews zum Thema gegeben, in welchen sowohl der physiotherapeutischen
Behandlung als auch der Korsettversorgung eine Evidenz
zugestanden wird. Zur Physiotherapie bei Skoliose wurden zwar prospektiv kontrollierte Studien gefunden, allerdings war keine bis zum Wachstumsabschluss fortgeführt worden. Zur Korsettbehandlung fanden sich 3 prospektiv kontrollierte Studien, eine davon mit Berücksichtigung der SRS-Kriterien. Alle 3 zeigten deutliche, statistisch signifikante Unterschiede zur Kontrollgruppe, sodass in einem Cochrane-Review die Korsettbehandlung als evidenzbasiert angesehen wurde. Die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Einfluss auf die Verordnungspraxis.

Schlüsselwörter: Skoliose, konservative Behandlung, Physiotherapie, Korsettbehandlung

Abstract: Conservative management of scoliosis has been discussed as being without evidence for long. In recent
reviews, however, claims have been made that physiotherapy as well as brace treatment should be regarded as being evidence based. There are prospectice controlled trials on physiotherapy, none of these performed to the end of growth. 3 prospective controlled studies on bracing exist, one of these also respecting the SRS inclusion criteria. All 3 show significant differences between braced groups and controls. Therefore in a recent Cochrane review bracing has been regarded as being evidence based. The recent findings may influence everday practice.

Key words: scoliosis, conservative treatment, physiotherapy, brace treatment

Einleitung

Die Skoliose ist eine dreidimensionale Wirbelsäulendeformität, die vielfältige Ursachen haben kann. Es gibt Skoliosen bei Stoffwechselerkrankungen, neurogene, myogene, kongenitale Skoliosen, Skoliosen beim Marfan-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom, bei M. Recklinghausen und noch viele weitere seltene Skolioseursachen. Den Hauptanteil der Skoliosen stellen mit 80–90 % die Idiopathischen Skoliosen [1]. Bei den Idiopathischen Skoliosen wird die Infantile (Erstauftreten im Alter von 1,6 Jahren), die Juvenile (Erstauftreten im Alter von 4–6 Jahren) und die häufigste Form, die Adoleszentenskoliose unterschieden [1]. Es gibt in der Literatur Hinweise auf eine genetische Determinierung der Idiopathischen Skoliose, ein endgültiger Beweis für diese Theorie steht jedoch noch aus.

Im Kindesalter neigen Skoliosen in den Hauptwachstumsphasen zu einer Krümmungszunahme [2], weshalb Verlaufskontrollen während dieser Zeiten engmaschig angesetzt werden sollten. Zeiten größerer Wachstumsdynamik sind der frühe Wachstumsschub vom Säuglingsalter bis zum 6. Lebensjahr und der puberale Wachstumsschub bei Mädchen zwischen dem 10. und dem 14. Lebensjahr und bei Jungen ca. 2 Jahre verzögert.

Wird bei gegebener Korsettindikation während dieser Zeit eine optimale Versorgung versäumt oder verzögert, ist innerhalb von 3 Monaten mit einer manchmal drastischen Krümmungszunahme zu rechnen. Aus diesem Grund darf man im Hauptwachstumsschub nicht 3–6 Monate auf einen Untersuchungstermin in der orthopädischen Praxis warten und dann noch einmal 6 Wochen auf die Bewilligung einer Korsettversorgung.

Da es sich bei der konservativen Skoliosebehandlung um ein Spezialgebiet handelt, sollten auch nur Spezialisten zu Rate gezogen werden, die über eine große Erfahrung im Skoliosemanagement verfügen. Zudem muss eine Terminierung aufgrund der beschriebenen Wachstumsdynamik innerhalb von 14 Tagen möglich sein. Die Korsettversorgung sollte im dringenden Fall innerhalb einer Woche erfolgen können.

Behandlungsindikationen

Die Beachtung der Behandlungsindikationen [3] ist im Hauptwachstumsschub von großer Bedeutung. Das Risiko zur Krümmungsverschlechterung lässt sich mit großer Sicherheit errechnen [3] (Abb. 1). Somit kann man mit einiger Übung den adäquaten Behandlungspfad leicht auffinden. Unterschieden werden muss im Hauptwachstumsschub, ob lediglich eine Verlaufsbeobachtung, die physiotherapeutische Behandlung oder eine Korsettversorgung nötig sind. Als Berechnungsgrundlage dient hierzu die von Lonstein und Carlson 1984 aufgestellte Formel [3]. In die Berechnung gehen der Krümmungswinkel nach Cobb, das Risser-Zeichen und das (chronologische) Alter ein. Die Indikationsleitlinien [3] sind online abrufbar: http://www.scoliosisjournal.com/content/1/1/5.

Evidenz konservativer
Behandlungsmaßnahmen

„Evidence Based Medicine (EBM)“ und „Evidence Based Practice (EBP)“ sollen helfen, den für den Patienten sichersten und für den Kostenträger günstigsten Behandlungspfad zu finden. Es gibt unterschiedliche Ebenen der Evidenz, wobei Level IV als niedrig und Level I als hoch evident angesehen werden. Wissenschaftlich anerkannt werden in der Regel Behandlungsverfahren, die mit mindestens einer prospektiven kontrollierten Untersuchung (Level II) oder mit einer (oder mehreren) randomisiert kontrollierten Studie(n) (Level Ib) belegt sind. Die höchste Stufe (Level Ia) bilden die Metaanalysen aus randomisierten Studien (RCT).

Evidenz der Physiotherapie

Es gibt mittlerweile eine große Anzahl von Studien zur Physiotherapie [4]. In den letzten Reviews wurde gar ein RCT gefunden und eine prospektive Studie. Allerdings mangelt es den meisten Studien – so auch diesen – an Aussagekraft, wenn man das den Studien zugrundeliegende Material analysiert. Man findet:

Studien mit Patientenkollektiven ohne Behandlungsindikation

Studien mit Patientenkollektiven jenseits Risser 3 und

Studien, die nicht bis zum Wachstumsabschluss gelaufen sind.

 

Es fand sich nicht eine Studie, welche den Behandlungsbeginn bei Risser 0–1 bis zum vollständigen Wachstumsabschluss bei Risser 5 abgedeckt hätte.

Demgegenüber waren in dem RCT aus China reife Mädchen (15 Jahre) mit einem Krümmungswinkel von 26° für 6 Monate kontrolliert worden. Nach den Behandlungsindikationen [3] besteht jedoch bei dieser Konstellation kein Progressionsrisiko und demnach auch keine Behandlungsindikation. Somit ist eine hohe Evidenz für die Physiotherapie in der Skoliosebehandlung nicht gegeben. Diese Erkenntnisse sind auch in die Leitlinie Rehabilitationskonzept Wirbelsäulendeformitäten (http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/033–045.html) eingeflossen.

Evidenz der Korsettbehandlung

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