Arzt und Recht - OUP 03/2015

Leitlinien, Richtlinien, Empfehlungen*
Die Bedeutung von Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen im Verhältnis zum ärztlichen Standard sowie die Voraussetzungen für ein Abweichen von ihnen werden dargestellt

Für jede ärztliche Behandlung gilt als Sorgfaltsmaßstab der sogenannte Facharztstandard. Der Arzt ist verpflichtet, den Patienten nach dem anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft des jeweiligen Fachgebiets zum Zeitpunkt der Behandlung zu betreuen. Nach § 630 a Abs. 2 BGB hat die Behandlung „nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen“.

Als fehlerhaft kann eine Behandlung qualifiziert werden, wenn sie dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderläuft. Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Im Regelfall ist dabei auf den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung abzustellen, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.

Leitlinien

Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei typischen gesundheitlichen Problemen ( MAH MedR/Terbille § 1 Rn. 481). Sie werden überwiegend durch wissenschaftliche Fachgesellschaften erarbeitet und beeinflussen den ärztlichen Standard (einen Überblick bietet die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen und medizinischen Fachgesellschaften AWMF unterwww.awmf.org/leitlinien).

Der Gesetzgeber hat in der Begründung des Patientenrechtegesetzes im Hinblick auf den ärztlichen Standard „Leitlinien, die von wissenschaftlichen Fachgesellschaften vorgegeben wurden“, für maßgeblich erklärt (PatientenrechteG, BT Drs. 17/10488). Damit ist der Gesetzgeber über die bisherige Rechtsprechung hinausgegangen, sodass sich die Frage nach der Verbindlichkeit von Leitlinien erneut stellt.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nunmehr die Bedeutung von Leitlinien für den ärztlichen Standard in einer aktuellen Entscheidung (BGH, Urteil vom 15. April 2014 – VI ZR 382/12a) relativiert:

Danach dürfen Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden.

Dies gelte in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden seien. Leitlinien ersetzten kein Sachverständigengutachten. Zwar könnten sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie könnten aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.

Entsprechendes gelte für Handlungsanweisungen in klinischen Leitfäden oder Lehrbüchern.

Der Verstoß gegen eine Leitlinie indiziert damit nicht das Vorliegen eines Behandlungsfehlers. Weicht der Arzt im Einzelfall von einer bestehenden Leitlinie ab, so hat er die Gründe dafür darzulegen und – sofern dies auch aus medizinischen Gründen erforderlich ist – zu dokumentieren.

Richtlinien

Richtlinien sind im Gegensatz zu Leitlinien Regelungen, die von einer rechtlich legitimierten Institution beschlossen und veröffentlicht wurden und für den „Normadressaten“ verbindlich sind. Richtlinien finden sich überwiegend im Sozialrecht, insbesondere dem Vertragsarztrecht. Richtlinien legen den Standard insoweit fest, als eine Unterschreitung zumindest im sozialrechtlichen Sinne unzulässig ist. Der Verstoß gegen eine Richtlinie kann zugleich einen Verstoß gegen den ärztlichen Standard bedeuten, sofern dafür keine medizinische Rechtfertigung vorliegt. Letztlich handelt es sich nach überwiegender Ansicht aber nur um ein Indiz für einen im Einzelfall festzustellenden Behandlungsfehler.

Empfehlungen

Empfehlungen sind grundsätzlich weniger verbindlich als Leitlinien und Richtlinien. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass der Arzt das Abweichen von einer Empfehlung begründen muss.

Im Ergebnis muss aufgrund der zunehmenden rechtlichen und faktischen Bedeutung aber empfohlen werden, sich mit den einschlägigen Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen des jeweiligen Fachgebiets zu beschäftigen. Bei Befolgung der Leitlinien ist das forensische Risiko geringer als bei einem Abweichen.

Sofern von einer Leitlinie abgewichen wird, sollte dies besonders sorgfältig dokumentiert werden. Eine Leitlinie, die dem ärztlichen Standard entspricht, kann daher als „Handlungskorridor“ medizinisch verbindlich sein ( MAH MedR/Terbille § 1 Rn. 488) Dies gilt auch für das ärztliche Berufsrecht: Nach § 2 Abs. 3 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte erfordert eine „gewissenhafte Ausübung des Berufs (…) die Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse“.

Dr. jur. Dirk Schulenburg, MBA,
Justiziar der Ärztekammer Nordrhein

Fussnoten

* Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus chefarzt aktuell 6/2014, www.chefarzt-aktuell.de, bearbeitet u. mitgeteilt von RA DR. Ulrich Baur, Steinstr. 11, 40212 Düseldorf

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