Übersichtsarbeiten - OUP 02/2014

Möglichkeiten mit Hybridinstrumentierungen an der lumbalen Wirbelsäule

J. Siewe1, B. Wenk1, P. Eysel1

Zusammenfassung: Für Patienten, die sich einer Spondylodese der lumbalen Wirbelsäule unterziehen, besteht das Risiko einer Degeneration im Anschlusssegment. Die Inzidenz und die Ursachen sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar definiert. Zur Verhinderung der Degeneration und Anschlussinstabilität kommen mehrere Optionen in Betracht, die zumeist noch ohne harte klinische Daten durchgeführt werden. Diese Arbeit zeigt die klinischen Anwendungsmöglichkeiten von Hybridinstrumentierungen (Topping off). Bisher gibt es noch keine eindeutigen Indikationen. Eine Aussage über die Wirksamkeit und Sicherheit des Verfahrens wird derzeit in klinischen Studien überprüft.

Schlüsselwörter: Anschlussinstabilität, Anschlussdegeneration, lumbale Fusion, Hybridinstrumentierung

 

Zitierweise

Siewe J, Wenk B, Eysel P. Möglichkeiten mit Hybridinstrumentierungen an der lumbalen Wirbelsäule.
OUP 2014; 2: 082–85. DOI 10.3238/oup.2014.0082–0085

Abstract: For patients undergoing spinal fusion of the lumbar spine, there is always a risk of degeneration in the adjacent segment. Up to now, the incidence and the causes have not been clearly defined. To prevent degeneration and adjacent segment instability, several options have been considered, most of which are still performed without hard clinical data. This work describes clinical application possibilities of hybrid instrumentation (topping off). So far, there are no clear indications. A statement on the efficacy and safety of the procedure is currently being tested in clinical trials.

Keywords: adjacent segment disease, lumbar spine fusion, hybrid instrumentation

 

Citation

Siewe J, Wenk B, Eysel P. Möglichkeiten mit Hybridinstrumentierungen an der lumbalen Wirbelsäule.

OUP 2014; 2: 082–085. DOI 10.3238/oup.2014.0082–0085

Einleitung

In Deutschland beträgt die Jahresprävalenz von Rückenschmerzen 75,5%, die Lebensprävalenz sogar 85,2 % [1]. Des Weiteren sind Rückenschmerzen der häufigste Grund für die Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit [2]. Im Jahr 2012 wurden von den Wirbelsäulenchirurgen in Deutschland tausende Pedikelschrauben-Stabsystem-basierte Prozeduren durchgeführt, inklusive dynamischer Verfahren [3].

Die Fusionsoperation ist eine chirurgische Standardbehandlung für verschiedene Pathologien der lumbalen Wirbelsäule. Als Indikation kommen z.B. die Spondylolisthesis und erosive Osteochondrose in Betracht. Durch die Wirbelsäulenfusion kommt es zu Veränderungen der Biomechanik der Wirbelsäule. Die initial guten klinischen Resultate nach einer Fusion können durch eine Degeneration des anschließenden Segments gemindert werden [4].

Der Bandscheibenersatz und die Dynamische Stabilisierung sind aufgrund dieser häufigen Komplikation entwickelt worden, in der Hoffnung, dass diese Techniken diese Anschlussdegeneration verhindern können [4].

Eines der am schnellsten wachsenden Felder in der Wirbelsäulenchirurgie ist die Posteriore Dynamische Stabilisierung (PDS). In den letzten Jahren entwickelte die Industrie – neben den rein flexiblen Implantaten – verschiedene Arten von flexiblen Pedikelschrauben-Stabsystemen in “Topping off”-Technik. Dies beinhaltet ein rigides System mit einem zusätzlichen flexiblen System für das Anschlusssegment der Fusion. Diese werden bereits breit angewendet und werden zunehmend populärer [5]. Andere Wirbelsäulenchirurgen führen die Prozeduren mit monosegmentaler rigider Spondylodese durch und platzieren einen interspinösen Spacer im angrenzenden Segment [6].

Es existiert bisher keine Evidenz, dass diese Systeme einen klinischen Vorteil für den Patienten erbringen. Auch unklar ist, ob eine radiologische oder klinische Anschlussdegeneration überhaupt durch die neuen Implantate verhindert werden kann.

Eine möglicherweise auftretende Konsequenz der Fusion von Bewegungssegmenten an der Wirbelsäule und den daraus resultierenden erhöhten Kräften im angrenzenden Segment ist die Anschlussdegeneration – adjacent segment degeneration (ASD). Wird diese klinisch relevant, wird der Begriff adjacent segment disease (ASDi) angewandt. Zur Diagnostik der Degeneration werden mehrere Kriterien herangezogen. Die radiologische Anschlussdegeneration wird in der Literatur unterschiedlich definiert. In unserer Arbeitsgruppe wird diese durch eine Spondylolisthese > 4mm, eine segmentale Kyphose > 10°, rotatorische Hypermobilität > 15° (Funktionsaufnahmen), laterale Translation > 3 mm (a.p.-Aufnahme), Disc wedging > 5 (a.p.-Aufnahme), kompletten Kollaps des Bandscheibenfachs oder einer Verschlechterung um 2 oder mehr Grade in der Weiner Klassifikation (in den Verlaufskontrollen, s. Tabelle 1) definiert [7].

Zur Definition der ASDi gehören können folgende Parameter herangezogen werden: symptomatische Spinalkanalstenose, mechanischer Rückenschmerz, sagittale oder coronare Inbalance. Das Auftreten einer Anschlussinstabilität wurde bereits nach 6–12 Monaten postoperativ berichtet, wobei hier verschiedene Aussagen über die Durchschnittswerte in der Literatur gefunden werden können [7, 4]. In einer retrospektiven Studie von Cheh et al. fanden diese eine radiologische ASD in 42,6 % (durchschnittliches Follow-up 7,8 Jahre). Patienten mit radiologischer ASD hatten schlechtere Oswestry-Scores als die ohne. 30,3 % entwickelten eine ASDi [4]. Andere Autoren berichten über eine Inzidenz einer ASD von bis zu 24 % (durchschnittliches Follow-up 39 Monate). Hier entwickelte sich die Instabilität vor allem proximal der Fusion [8]. Yang et al. publizierten eine signifikante Korrelation zwischen klinischem Ergebnis und ASD [9]. In einem 30-Jahres-follow-up fanden Kumar et al. eine Inzidenz von radiologischen Veränderungen in der Höhe des angrenzenden Segments nach chirurgischer Intervention, die in der Gruppe der Fusionen doppelt so hoch war wie in der Gruppe, die eine nicht-fusionierende Intervention (Diskektomie, Dekompression) erhalten hatte [10]. Aber im Gegensatz dazu fanden sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den 2 Gruppen in den Outcomeparametern. Die Ergebnisse wurden durch validierte klinische Scores erhoben (z.B. SF-36). Die Autoren folgerten, das radiologische Veränderungen nicht zwingend zu einer funktionellen Einschränkung führen müssen, wenn Patienten eine lumbale Fusion bei degenerativer Bandscheibenerkrankung erhalten [10]. Es existieren andere Hinweise in der Literatur, dass es keine Korrelation zwischen radiologischer Degeneration des anschließenden Segments und klinischem Ergebnis geben könnte [11].

Anwendungsmöglichkeiten

Um die Indikationstellung zur Versorgung mittels Topping-off zu vereinfachen, können objektive Parameter herangezogen werden. Diese lassen sich anhand radiologischer Parameter klassifizieren.

Pfirrmann-Klassifikation

S. Abbildung 1

Fujiwara-Klassifikation

Beurteilung der Facettengelenksarthose im MRT. Die Facettengelenksarthrose sollte noch nicht maximal ausgeprägt sein, da dann eher die Indikation zur Fusion besteht. (bis Typ II, s. Tab. 2)

Grundsätzlich existieren folgende Indikationsmöglichkeiten:

  • Primäre Versorgung: im Rahmen einer Spondylodese erfolgt die primäre Implantation eines Hybridimplantates zur Reduktion des Risikos einer ASD (Abb. 2).
  • Ist es nach einer Spondylodese im Verlauf bereits zu einer ASDi gekommen, besteht die Möglichkeit einer Verlängerung der Fusion und zusätzlichen Hybridinstrumentierung nach kranial zur Verhinderung einer erneuten Anschlussdegeneration (Abb. 3).
  • Nach Fusion und kompletter Laminektomie und der damit verbundenen Resektion des Längsbandes zur Rekonstruktion der Zuggurtung nach cranial oder bei Verletzung der kranialen Facettengelenke.

Komplikationen

Im eigenen Patientenkollektiv sind in Verbindung mit Hybridinstrumentierungen bereits folgende Komplikationen aufgetreten.

  • ASDi im flexibel instrumentierten Segment und cranial des flexiblen Implantats,
  • Implantatversagen (z. B. Federbruch),
  • Lotverfall im sagittalen Profil.

Diskussion

Um die Diskussion über PDS-Implantate zu vereinfachen, klassifizierten Khoueir et al. diese in folgende Gruppen [12]:

  • 1. Interspinöse Spacer,
  • 2. Pedikelschrauben-Stabsysteme,
  • 3. Totale Facettengelenksersatz-Systeme.

Das Konzept beinhaltet Erhaltung und Wiederherstellung von intervertebraler Bewegung in kontrollierter Weise, entweder durch Restriktion von extremen Bewegungen oder durch Begrenzung der kinetischen Energie, die in der Bewegung mitwirkt. Das Ziel der Implantate ist es, die Wirkweise der gesunden Wirbelsäule zu imitieren [12, 13]. Die Industrie entwickelte verschiedene Typen von flexiblen Pedikelschrauben-Stabsystemen (z.B. Surgicraft`s Graf ligament, Bioflex`s Spring rod Dynesys, AccuFlex, Medtronic`s Peek rod, Isobar) und “Topping off”- Systemen (z.B. DSS, DTO, Fusion/Coflex, TangoRS/Topping off CosmicMIA). Es wurde berichtet, dass “Topping off” eine dynamische Stabilisierung erreichen kann, die zu einer Reduktion der Degeneration im Anschlusssegment führt [14, 15]. Maserati et al. untersuchten das DTO retrospektiv und beurteilten das System als hoffnungsvolle Alternative für eine Multilevel-Fusion mit potenzieller Möglichkeit, eine Anschlussdegeneration zu verhindern [16]. Eine andere Arbeitsgruppe publizierte Ergebnisse von über 60 Patienten, die zur Hälfte mit einer Fusionsoperation und zusätzlicher dynamischer Fixierung im angrenzenden Segment versorgt wurden. Sie fanden im 6-Jahres-FU keinen Unterschied bei den versorgten Gruppen in den klinischen Scores (ODI, VAS, satisfaction). Sie empfehlen die prophylaktische dynamische Stabilisierung nicht. Es wurde bei der dynamischen Fixierung eine geringere Progression der Degeneration im Anschlusssegment beobachtet, die mit einer höheren Rate an Implantatversagen erkauft wurde. Der klinische Unterschied in den Gruppen war nicht signifikant [17].

Insgesamt existiert bisher weder eine gute Evidenz für die Erfolge von PDS, noch für eine daraus resultierende Arbeitsfähigkeit oder Kosteneffektivität durch solche Eingriffe [18, 12].

Bis 2005 existierten nur 31 RCTs über allen Formen der chirurgischen Behandlung für Degenerationen an der lumbalen Lendenwirbelsäule. Diese variierten in Qualität deutlich [18]. Neue Hybridsysteme mögen die klinischen Ergebnisse nach lumbaler Fusion verbessern. Bis jetzt existieren keine belastbaren Daten zur Sicherheit und Effektivität der Implantate. Zurzeit wird die Wirksamkeit und Sicherheit der Implantate in klinischen Studien überprüft. Dies scheint auch in Anbetracht der angegebenen Komplikationen eine wichtige Vorgehensweise zu sein.

 

Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors bestehen.

Korrespondenzadresse

Birte Wenk

Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Uniklinik Köln

Kerpener Straße 62

50937 Köln

birte.wenk@uk-koeln.de

Literatur

1. Schmidt CO, Raspe H, Pfingsten M et al. Back pain in the German adult population: prevalence, severity, and sociodemographic correlates in a multiregional survey. Spine 2007; 32: 2005–11

2. www.patientenleitlinien.de (Universität Witten/Herdecke)

3. Statistisches Bundesamt, Wirbelsäulenoperationen in Deutschland 2012 (Daten auf Anfrage)

4. Cheh G, Bridwell KH, Lenke LG et al. Adjacent segment disease followinglumbar/thoracolumbar fusion with pedicle screw instrumentation: a minimum 5-year follow-up. Spine 2007; 32: 2253–7

5. www.conventus.de/dwg2012/

6. Bono CM, Vaccaro AR. Interspinous process devices in the lumbar spine. J Spinal Disord 2007; 20: 255–61

7. Siewe J, Otto C, Knoell P et al. Comparison of standard fusion with a “topping off” system in lumbar spine surgery: a protocol for a randomized controlled trial. BMC Musculoskelet Disord. 2011; 12: 239

8. Aota Y, Kumano K, Hirabayashi S. Postfusion instability at the adjacent segments after rigid pedicle screw fixation for degenerative lumbar spinal disorders. J Spinal Disord 1995; 8: 464–73

9. Yang JY, Lee JK, Song HS. The impact of adjacent segment degeneration on the clinical outcome after lumbar spinal fusion. Spine 2008; 33: 503–507

10. Kumar MN, Jacquot F, Hall H. Long term follow-up of functional outcomes and radiographic changes at adjacent levels following lumbar spine fusion for degenerative disc disease. Eur Spine J 2001; 10: 309–13

11. Okuda S, Iwasaki M, Miyauchi A et al. Risk factors for adjacent segment degeneration after PLIF. Spine 2004; 29: 1535–40

12. Khoueir P, M.SC., F.R.C.S.C, et al. Classification of posterior dynamic stabilization devices. Neurosurg Focus 2007; 22: E3

13. Sengupta DK, Mulholland RC: Fulcrum assisted soft stabilization system: a new concept in the surgical treatment of degenerative low back pain. Spine 2005; 30:1019–1030

14. Caserta S, La Maida GA, Misaggi B et al. Elastic stabilization alone or combined with rigid fusion in spinal surgery: a biomechanical study and clinical experience based on 82 cases. Eur Spine J. 2002; 11 Suppl 2: 192–7

15. Kim YS, Zhang HY, Moon BJ et al. Nitinol spring rod dynamic stabilization system and Nitinol memory loops in surgical treatment for lumbar disc disorders: short-term follow up. Neurosurg Focus 2007; 22: E10

16. Maserati MB, Tormenti MJ, Panczykowski DM et al. The use of a hybrid dynamic stabilization and fusion system in the lumbar spine: preliminary experience. Neurosurg Focus 2010; 28: E2

17. Putzier M, Hoff E, Tohtz S et al. Dynamic stabilization adjacent to single-level fusion: Part II. No clinical benefit for asymptomatic, initially degenerated adjacent segments after 6 years follow-up. Eur Spine J. 2010; 19: 2181–9

18. Gibson JNA, Waddell G. Surgery for degenerative lumbar spondylosis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2008 Issue 3

Fussnoten

1 Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Uniklinik Köln

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