Originalarbeiten - OUP 01/2013

Objektivierungsmöglichkeiten bei der Begutachtung von Rückenschmerzen
Nach einem Vortrag auf dem 60. VSOU-Kongress, Baden-Baden 2012Based on a paper for the 60th VSOU-Congress, Baden-Baden 2012

J. Hettfleisch1, L. Hettfleisch2

Zusammenfassung: Häufig fällt es Orthopäden und Unfallchirurgen schwer, ihnen anlässlich einer Begutachtung vorgetragene Rückenschmerzen einzuschätzen. Die Kombination gebräuchlicher Bewertungssysteme führt zu
einem Algorithmus, der eine Unterscheidung zwischen überwiegend körperlich bzw. vorwiegend seelisch begründeten Schmerzen ermöglicht. Zudem lässt sich damit eine bewusstseinsnahe, negative Antwortverzerrung abgrenzen. Hierzu müssen die Ergebnisse des Mainzer Stadienmodells der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen [4] mit den Waddell-Zeichen [9] abgeglichen werden.

Schlüsselwörter: Rückenschmerzen, Begutachtung, Konsistenzprüfung, Algorithmus

Abstract: When they act as medical experts, orthopedic
surgeons frequently have difficulties validating back pain. Combining the results of several already widely utilized
scoring systems leads to a convenient algorithm that
distinguishes between organic and non-organic pain. It also helps to sort out individuals with a tendency to aggravation. Therefore scores in the Mainz Pain Staging System MPSS [4] have to be related to Waddell’s signs [9].

Keywords: back pain, medical opinion, consistency, algorithm

Einleitung

Rückenschmerzen sind ein bedeutsames Gesundheitsproblem. Unter den Ursachen für Arbeitsunfähigkeiten, medizinische Reha-Maßnahmen und vorzeitige Berentungen nehmen sie jeweils obere Ränge ein [1, 2]. Circa 80 % aller Deutschen erleiden wenigstens einmal innerhalb ihres Lebens eine Rückenschmerzepisode. In einer umfangreichen Befragung der Lübecker Bevölkerung wurde von 75 % der Befragten angegeben, innerhalb der letzten 12 Monate ein- oder mehrmals Rückenschmerzen gehabt zu haben [3].

Die Beschwerdeursachen sind vielfältig, weshalb sich inzwischen ein mehrschichtiges, bio-psycho-soziales Entstehungsmodell etabliert hat [1, 4].

In der 2007 zuletzt aktualisierten Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen [4] wird hervorgehoben, dass „Diagnosen allein … nicht den Schweregrad einer Schmerzsymptomatik“ widerspiegeln. „Nichts aussagende Diagnosen, wie ‚Zustand nach‘ oder topisch orientierte Syndrome (z.B. Cervikalsyndrom)“ seien ferner „zu vermeiden“. In besonderem Maße gilt dies für Rückenschmerzen. Probanden nach ausgedehnten Wirbelsäuleneingriffen können vollkommen schmerzfrei und ohne subjektive Beschwerden sein, während solche mit restlos unauffälliger Bildgebung sowie ohne objektive, klinische Befundauffälligkeiten tatsächlich starke Schmerzen haben können.

Innerhalb dieses Spannungsfeldes bewegt sich der orthopädisch-unfallchirurgische Medizinische Sachverständige. Dabei wird er Leistungs- bzw. Funktionseinschränkungen, die allein auf messbaren Auffälligkeiten am Stütz- und Bewegungsapparat beruhen oder aus der Bildgebung resultieren, in aller Regel durchaus einschätzen und plausibel begründen können. Schwierigkeiten bereitet dagegen häufig die Bewertung und Integration wirbelsäulenbezogener Schmerzen – die ihm von einem Probanden in aller Regel gleichfalls vermittelt werden.

Methode

In der Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen [4] wird – selbst wenn deren Gültigkeit abgelaufen ist und derzeit eine Überprüfung erfolgt – der Wert von Selbsteinschätzungsskalen und Fragebögen mit Recht angezweifelt, weil derartige Instrumente „für die Begutachtungssituation nicht valide“ seien. Andererseits hat sich deren Gebrauch inzwischen auf breiter Front durchgesetzt und wird im Sozialgerichtsverfahren sogar ausdrücklich gefordert (Bundessozialgericht B 5 RJ 80/02, Urteil vom 09.04.2003).

Bereits die Leitlinie [4] enthält zudem Angaben, welche „Hinweise auf nicht oder nicht in dem geklagten Umfang vorhandene Funktionsbeeinträchtigungen“ anlässlich einer Begutachtung feststellbar sein können (Abbildung 1).

Eines der Kriterien ist die „fehlende Modulierbarkeit der beklagten Schmerzen“. Wenn also auf einer Visuellen Analogskala ohne wesentliche Schwankungen – in Abhängigkeit von Tagesverlauf, Medikamenteneinnahmen oder anderen Maßnahmen – ständig Höchstwerte vorgetragen werden, dann ist dies zumindest für organisch begründete Schmerzen nicht charakteristisch.

Entgegen der grundsätzlich berechtigten Kritik der Leitlinie an Selbsteinschätzungsinstrumenten bewährt sich dennoch ein differenzierter Einsatz des Mainzer Stadienkonzeptes des Schmerzes MPSS [5] in einem gutachtlichen Umfeld (Abbildung 2). In dessen erstem Achsenpaar, mit welchem die zeitlichen und räumlichen Aspekte des Schmerzes beleuchtet werden, erreichen Gutachtenprobanden in aller Regel hohe bzw. Höchstwerte. Dabei werden ausschließlich die subjektiven Angaben des Probanden verwertet. In das zweite Achsenpaar jedoch gehen jene Maßnahmen ein, welche die Betroffenen ihren Schmerzen entgegenstellen. Diese müssen dem angegebenen, subjektiven Empfinden angemessen sein, um den Schmerz insgesamt plausibel begründen zu können.

Das Medikamenteneinnahmeverhalten, welches in Achse 3 abgefragt wird, muss grundsätzlich labordiagnostisch objektiviert werden, wenn belastbare Ergebnisse resultieren sollen [4, 6, 7, 8]. Erst vor kurzem haben wir im Anschluss an die Untersuchung von 97 Probanden aus fortlaufenden Begutachtungen zeigen können, dass nur in knapp der Hälfte der Fälle die von ihnen angegebenen Schmerzmedikamente bzw. Psychopharmaka tatsächlich auch eingenommen wurden [6].

Zu Achse 4 des MPSS ist anzumerken, dass die Anzahl „schmerzbedingter Rehabilitationsmaßnahmen“ – also Versuche des Rentenversicherungsträgers, den Probanden wieder in das Erwerbsleben zurückzuführen – kein Gradmesser für das tatsächliche Vorhandensein maßgeblicher Beschwerden sein kann. Mit einer gewissen Vorsicht ist auch die Häufigkeit von Arztwechseln zu betrachten. Die Häufigkeit schmerzbedingter Operationen spiegelt allerdings durchaus den subjektiven Leidensdruck wieder – sei er seelisch oder körperlich begründet. Jene Sachverhalte ergeben sich überwiegend in belastbarer Weise aus der Akte und sind demnach zumindest semi-objektiv.

Indizien für einen nicht organischen Rückenschmerz haben Waddell und Kollegen [9] an 350 nordamerikanischen und britischen Patienten erarbeitet. Jene „Waddell-Zeichen“ sind zwischenzeitlich mehrfach bestätigt und validiert worden. Sie umfassen im Einzelnen:

  • Tenderness
  • - oberflächlicher Schmerz
  • - Schmerz folgt keinen anatomischen Strukturen
  • Simulation
  • - bei axialer Belastung der Wirbelsäule
  • - lumbal bei Mitrotation des Beckens
  • Distraction
  • - Lasègue-Positivität im Liegen, aber nicht im Sitzen
  • Regional Disturbances
  • - sakkadierende Innervation
  • - nicht dermatombezogene Sensibilitätsstörungen
  • Overreaction
  • - Schwitzen, Grimassieren, Kollaps, Tremor

Wenn wenigstens 3 der Punkte zutreffen, so ist von einem abnormen Krankheitsverhalten auszugehen. Eigentlich gilt es dann lediglich noch zu differenzieren, ob hierfür eine seelische Gesundheitsstörung oder ein bewusstseinsnahes Verdeutlichungsverhalten bzw. eine Selbstlimitierung ursächlich ist.

Ergebnisse

Aus dem Einsatz eines objektivierten MPSS sowie jener Waddell-Kriterien ergibt sich ein Algorithmus, an dessen Ende die Differenzierung angegebener Rückenschmerzen in 3 wesentliche Kategorien möglich ist (Abbildung 3):

  • a) Hohe Werte im ersten Achsenpaar des MPSS, niedrige Werte im 2. Achsenpaar, positive Waddell-Zeichen: Die vorgetragenen Rückenschmerzen sind nicht plausibel, weshalb zur Leistungsbeurteilung im Wesentlichen auf das organische Korrelat einer Wirbelsäulenproblematik abzustellen ist.
  • b) Hohe Werte sowohl im ersten als auch im 2. Achsenpaar des MPSS und negative Waddell-Zeichen: Organisch bedingte Rückenschmerzen lassen sich plausibel begründen.
  • c) Hohe Werte im ersten und 2. Achsenpaar des MPSS sowie positive Waddell-Zeichen: Von einer signifikanten seelischen Komorbidität muss ausgegangen werden und eine psychologische bzw. psychiatrische Begutachtung ist vorzuschlagen. Im Anschluss muss ein interdisziplinärer Konsens gefunden werden. Bei objektivierbarer – und nicht suchtvermittelter – Dauereinnahme potenter Schmerzmittel sowie niedrigen Werten in Achse 4 des MPSS ist zwar ein hoher, subjektiver Leidensdruck zu erkennen; er lässt sich dann allerdings nicht organisch begründen. Ähnlich verhält es sich, wenn zwar keine Schmerzmittel eingenommen werden, andererseits aber zur Behandlung der Beschwerden eine Vielzahl operativer Eingriffe erfolgt ist. Der ICD-10 bezeichnet dies als Charakteristikum für eine Somatoforme Schmerzstörung.

Zusammengefasst lässt sich durch einen verfeinerten Einsatz des MPSS in Kombination mit den Waddell-Zeichen ein vorgetragener Rückenschmerz differenzieren. Damit wird zum einen der Einteilung von Schmerzen aus gutachtlicher Sicht Genüge getan [4], (Abbildung 4). Zum anderen wird deutlich, in wessen Fachkompetenz – selbst bei einer integrierenden Bewertung – die Aufgabe der gutachtlichen Entscheidung fällt.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Jürgen Hettfleisch

medexpert – Institut für
Muskuloskelettale Begutachtung

Darmstädter Straße 29

64331 Weiterstadt

info@medexpert.ws

Literatur

1. Lühmann D, Müller VE, Raspe H. Prävention von Rückenschmerzen. Expertise im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung und der Akademie für Manuelle Medizin, Universität Münster, Institut für Sozialmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, 2003

2. Schneider S. Rückenschmerz: Verbreitung, Ursachen und Erklärungsansätze. München: GRIN-Verlag, 2007

3. Kohlmann T, Deck R, Klockgether R et al. Rückenschmerzen in der Lübecker Bevölkerung – Syndrome, Krankheitsverhalten und Versorgung. Institut für Sozialmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, 1994

4. Widder B, Schiltenwolf M, Egle UT et al. Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen. AWMF-Leitlinien, Register-Nr. 030/102, 2007

5. Gerbershagen HU. Das Mainzer Stadienkonzept des Schmerzes (MPSS). In: Klingler D, Morawetz R, Thoden et al. (Hrsg.): Antidepressiva als Analgetika. Wien: Arachne-Verlag, 1996: 71–95

6. Hettfleisch J, Lemberg U. Medikamentennachweis im Urin – Leitlinienkonforme Konsistenzprüfung angegebener Schmerzen. Orthop Praxis 2011; 47: 282–285

7. Walk HH, Wehking E. Objektivierung von Schmerzen unter besonderer Berücksichtigung der Medikamentenspiegel. Med Sach 2005; 101: 166–168

8. Röser A, Hausotter W. Welche Bedeutung haben Serumspiegelbestimmungen von Pharmaka bei der Begutachtung? Med Sach 2005; 101: 161–165

9. Waddell G, McCulloch JA, Kummel E et al. Non-organic physical signs in low back pain. Spine 1979; 5: 117–125

Fussnoten

medexpert – Institut für Muskuloskelettale Begutachtung, Weiterstadt

Universitätsklinik Mainz

DOI 10.3238/oup.2013.0017–0020

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