Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016

Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz
Orthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain

Stefan Middeldorf1

Zusammenfassung: Die Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz kann nicht
schematisch erfolgen. Sie muss stets auf den Einzelfall ausgerichtet sein und die gesamte biografische Anamnese mit einbeziehen, zum Beispiel auch die tatsächlich durchgeführten Therapiemaßnahmen und deren Ergebnis; Auswirkungen auf Alltagsaktivitäten sind so genau wie möglich zu ermitteln. Weiterhin ist dann eine Beurteilung des Schweregrads zur Störung ebenso durchzuführen wie eine Abgrenzung
gegenüber Aggravation und Simulation. Nachvollziehbar und unter Berücksichtigung geeigneter Instrumente ist die Überprüfung der Konsistenz vorzunehmen, die Diagnosen unter Berücksichtigung geltender ICD-Kriterien und Kodierungshilfen als Vollbeweis zu ermitteln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane sehr häufig mit psychischen Komorbiditäten einhergehen, diese gilt es zu erfassen. Darüber hinaus sind Erkrankungen der seelischen Gesundheit, die mit Schmerzen einhergehen, ebenfalls von höchster Relevanz für das Fachgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie und deren Begutachtung, hier sind es vor allen Dingen die somatoformen Störungen und die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, die differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind.

Schüsselwörter: Begutachtung, Schmerz, Gesundheitswesen

Zitierweise
Middeldorf S: Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz.
OUP 2016; 4: 189–194 DOI 10.3238/oup.2016.0189–194

Summary: The assessment with special consideration of pain cannot be done schematically. It always has to be aligned to the individual case and has to include the entire biographical anamnesis with, for example, the actually performed therapeutic measures and their results and effects on daily activities, which have to be determined as accurately as possible. Furthermore, an assessment of the severity of disorder also needs to be realized as well as a distinction from aggravation and simulation. A validation of the consistency has to be carried out comprehensibly and in consideration of appropriate tools to determine diagnoses considering valid ICD-criteria and coding aids as full proof. It should be noted that diseases of the musculoskeletal system are often accompanied by psychological comorbidities, which have to be conceived. Moreover, diseases of mental health that are associated with pain are also highly relevant in orthopedic and trauma surgery and its assessment. Above all, the somatoform disorders and chronic pain disorder with somatic and psychological factors have to be defined by differential diagnosis.

Keywords: assessment, pain, public health

Citation
Middeldorf S: Orthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain.
OUP 2016; 4: 189–194 DOI 10.3238/oup.2016.0189–194

Einleitung und Kontext

Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz folgendermaßen: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache“. Die Empfindung Schmerz wird dabei als komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren im Sinne des biopsychosozialen Krankheitskonzepts angenommen, Schmerz ist also eine subjektive Wahrnehmung, welche nicht allein durch neuronale Schmerzsignale der schmerzleitenden Nervenfasern bestimmt wird, sondern sie ist vielmehr eine Empfindung, welche über komplexe Vorgänge stark reguliert wird. Schmerz als Symptom ist also das, was der Patient als solchen empfindet. Weil es sich um eine stark subjektiv gefärbte Wahrnehmung handelt, kann es zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen Patient und Behandelndem bzw. Begutachtendem kommen, insbesondere im Bezug auf das Ausmaß des Schmerzerlebens.

Dabei ist Schmerz eine komplexe subjektive Sinneswahrnehmung, die als akutes Geschehen den Charakter eines Warn- und Leitsignals aufweist und in der Intensität von unangenehm bis unerträglich reichen kann. Als chronischer Schmerz hat es den Charakter des Warnsignals verloren und wird heute als eigenständiges Krankheitsbild im Sinne eines chronischen Schmerzsyndroms gesehen und behandelt.

In Bezug auf den erlebten Schweregrad kann Schmerz von unangenehm bis unerträglich reichen. Mit Selbsteinschätzungsskalen zur Beurteilung von Schmerzen lässt sich dies im subjektiv vergleichbaren Bereich darstellen, zum Beispiel durch die numerische Rating-Skala (NRS) oder die Visuelle Analogskala (VAS). Darüber hinaus existieren noch weitere Skalen, zum Beispiel für Kinder oder für die Fremdbeobachtung.

Als Orientierung in Bezug auf die Begutachtung findet der medizinische Sachverständige zahlreiche Hinweise in der einschlägigen Literatur und in Leitlinien, so zu Allgemeinen Grundlagen der medizinischen Begutachtung (S2k-Leitlinie) [1], zudem in der Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen [2]

Dabei ist die Begutachtung von Schmerzen eine interdisziplinäre ärztliche Aufgabe und erfordert hierzu Kompetenzen sowohl zur Beurteilung körperlicher als auch psychischer Störungen. Ärzte, die sich im Bereich der psychosomatischen Grundversorgung und zur Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie weitergebildet haben, verfügen in diesem Bereich der Begutachtung über besondere Kompetenzen. Zunächst geht es um die Beurteilung des Anteils der durch Schädigungen des Nervensystems und anderer Gewebearten erklärbarer Beschwerden und Schmerzen. Ergeben sich dabei Hinweise auf eine bedeutsame psychische Komorbidität, sollte eine ergänzende diesbezügliche Betrachtung erfolgen, ggf. unter Einbeziehung psychiatrischer oder psychosomatischer Kompetenz.

Grundsätzlich werden in der gutachterlichen Situation 3 Kategorien chronischer Schmerzsyndrome unterschieden. Zunächst findet sich der Schmerz als Begleitsymptom einer körperlichen Störung mit den Untergruppen „übliche Schmerzen“ als Begleitsymptom einer körperlich fassbaren Erkrankung bzw. einer Nervenschädigung, dann „außergewöhnliche Schmerzen“, zum Beispiel bei Stumpf- und Phantomschmerzen oder im Rahmen eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS). Als zahlenmäßig größte zur Begutachtung kommende Gruppe finden sich körperlich z.T. erklärbare Schmerzen mit psychischer Komorbidität. Die dritte Kategorie beinhaltet Schmerz als Ausdruck einer primären seelischen Erkrankung, zum Beispiel und insbesondere im Rahmen depressiver Störungen.

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