Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016

Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz
Orthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain

In Bezug auf die Begutachtungskriterien unterscheidet sich die Erstellung eines Gutachtens unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz von den üblicherweise zu fordernden Inhalten einer rein orthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung. Sie erfordert eine detaillierte und umfassende Exploration der zu begutachtenden Personen Neben den im Rahmen der Begutachtung üblichen Angaben zur Anamnese der geklagten Beschwerden und körperlichen Befunden sowie zu den üblicherweise gutachterlichen relevanten Fragen, sollten gutachterliche Stellungnahmen bei geklagten chronischen Schmerzen vor allem eine spezielle Schmerzanamnese mit Angaben zur Lokalisation und Häufigkeit sowie zum Verlauf und der Abhängigkeit von verschiedenen Körperhaltungen, Tätigkeiten und Tageszeiten enthalten. Erforderlich ist eine detaillierte Anamnese zu Dauer, Intensität und Ergebnissen bisheriger Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auch der Häufigkeit, Regelmäßigkeit und Effekte von Arzt- und Therapeutenbesuchen sowie der Häufigkeit, Dauer und Wirksamkeit eingenommener Medikamente. Es schließt sich eine detaillierte Exploration der Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens, z.B. Schlaf, Selbstversorgung, Haushaltsaktivitäten, Einkaufen, Gartenarbeit und den verschiedenen sozialen Lebensbereichen, z.B. Partnerschaft und Familie, Freundschaften, Hobbys, Vereinsleben, Urlaubsreisen, an. Ein ausführlicher psychopathologischer Befund mit Aussagen zu biografischen Faktoren der Entwicklung einer sogenannten „Schmerzpersönlichkeit“ sowie Störungen der Schmerzerfahrung ist ebenso erforderlich wie eine ausführliche Beschreibung der gemachten Beobachtungen während der Begutachtung, zum Beispiel die Fähigkeit zum Stillsitzen, erforderliche Entlastungsbewegungen, Bewegungsmuster beim An- und Auskleiden, Körperpflege und äußeres Erscheinungsbild. Es kann erforderlich sein, eine Fremdanamnese zu erheben, dies natürlich mit Einverständnis des zu Begutachtenden und soweit aufgrund der rechtlichen Gegebenheiten möglich, diese Befragung kann beispielsweise bei begleitenden Familienangehörigen erfolgen.

Im Ergebnis beruht die gutachterliche Beurteilung im Wesentlichen auf der Beantwortung der Fragen, ob die geklagten Schmerzen und die damit verbundenen Funktionsstörungen „ohne vernünftigen Zweifel“ nachweisbar sind, hierzu bedarf es einer Konsistenzprüfung, die auf verschiedene Weise erfolgen kann. Zudem ist die Frage zu bearbeiten, ob die nachgewiesenen Funktionsstörungen durch eine sog. zumutbare Willensanspannung wenigstens zum Teil überwindbar ist; wir bezeichnen dies als Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit.

Im ersten Schritt hat der medizinische Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob und aufgrund welcher Faktoren und in welchem Umfang die vom Probanden geklagten Funktionsbeeinträchtigungen zur subjektiven Gewissheit des Gutachters bestehen. Diese Abklärung erfordert eine kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Zweifel am Ausmaß der geklagten Beschwerden können aufkommen, wenn es Hinweise auf nicht oder nicht in dem geklagten Umfang vorhandene Funktionsbeeinträchtigungen gibt. Zu diesen sogenannten Konsistenzparametern gehören:

Diskrepanz zwischen Beschwerdeschilderung (einschließlich Selbsteinschätzung in Fragebogen) und körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigungen in der Untersuchungssituation.

Wechselhafte und unpräzis-ausweichende Schilderung der Beschwerden und des Krankheitsverlaufs.

Diskrepanzen zwischen eigenen Angaben und fremdanamnestischen Informationen (einschließlich der Aktenlage).

Fehlende Modulierbarkeit der beklagten Schmerzen:

Diskrepanz zwischen geschilderten Funktionsbeeinträchtigungen und zu eruierenden Aktivitäten des täglichen Lebens.

Fehlen angemessener Therapiemaßnahmen und/oder Eigenaktivitäten zur Schmerzlinderung trotz ausgeprägt beschriebener Beschwerden.

Fehlende sachliche Diskussion möglicher Beweistätigkeiten bei Begutachtung zur beruflichen Leistungsfähigkeit.

Diskrepanzen zwischen der Medikamentenanamnese und laborchemisch zu bestimmenden Medikamentenspiegeln.

Lassen sich auf Basis der beschriebenen Konsistenzparameter Funktionsbeeinträchtigungen zur Überzeugung des medizinischen Sachverständigen nachweisen, gilt im zweiten Schritt zu klären, ob und inwieweit die geklagten Beschwerden bewusst oder bewusstseinsnah zur Durchführung eigener Wünsche, z.B. nach Versorgung, Zuwendung oder Entlastung von unangenehmen Pflichten, gegenüber Dritten eingesetzt werden, dies im Sinne des sogenannten sekundären Krankheitsgewinns, obwohl sie willentlich zu überwinden wären oder ob die schmerzassoziierten Symptome die Lebensgestaltung in den Tag soweit übernommen haben, dass eine Überwindbarkeit, willentlich und/oder durch therapeutische Maßnahmen, nicht mehr möglich erscheinen. Dabei ist es unter Berücksichtigung des häufig zu findenden Krankheitsverlaufs durchaus möglich, dass eine zunächst zweckgerichtet eingesetzte Schmerzsymptomatik sich im Rahmen einer Chronifizierung im Weiteren zunehmend verselbstständigen kann und schließlich nicht mehr willentlich zu beeinflussen ist. Allein die Tatsache lange andauernder Beschwerden schließt darüber hinaus aber eine bewusstseinsnahe Steuerbarkeit nicht aus, Hinweise auf eine solche bestehende Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden ergeben sich zum Beispiel dann, wenn ein Rückzug von unangenehmen Tätigkeiten, z.B. im Bereich von Haushalt und Beruf, jedoch nicht von den angenehmen Dingen des Lebens, z.B. Hobbys, Vereinstätigkeiten, das Halten von Haustieren, Urlaubsreisen, festzustellen sind oder wenn beispielsweise Führungs- und Kontrollfunktionen beibehalten werden, z.B. die Überwachung der Haushaltsarbeit von Angehörigen, Beibehaltung matriarchalischer/patriarchalischer Funktionen, Steuerung des Einkaufsverhaltens der Angehörigen, trotz erkennbarem Rückzug von aktiven Tätigkeiten.

In Bezug auf die gutachterliche Würdigung unter Berücksichtigung der durchgeführten Konsistenzprüfungen sind im Weiteren folgende 4 Aussagen möglich:

  • 1. Der Gutachter ist davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen und willentlich oder durch Therapie nicht (mehr) überwunden werden können. Bei entsprechender Schwere der Beeinträchtigungen wird er eine dauerhafte Leistungsminderung feststellen.
  • 2. Der Gutachter ist zwar davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen, diese aber durch Therapie in absehbarer Zeit und in wesentlichem Umfang überwunden werden könnten. In Abhängigkeit vom Einzelfall führt dies zum Einsatz von Rehabilitationsmaßnahmen, ggf. auch zur Feststellung einer zeitlich befristeten Leistungsminderung.
  • 3. Der Gutachter ist zwar davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen, diese aber willentlich in wesentlichem Umfang überwunden werden können. Damit ist von einem erhaltenden Leistungsvermögen auszugehen.
  • 4. Der Gutachter ist nicht davon überzeugt, dass die Funktionsbeeinträchtigungen in der geklagten oder anderen Form bestehen. In diesem Fall bleibt der Antragsteller den Nachweis für das Vorliegen der geltend gemachten Einschränkungen mit den o.g. Konsequenzen schuldig. [3]
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