Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Periprothetische Acetabulumfrakturen

Anna J. Schreiner, Gunnar Ochs

Zusammenfassung:
Periprothetische Acetabulumfrakturen sind seltene, jedoch epidemiologisch bedingt zunehmende
Verletzungen bzw. Komplikationen in der Endoprothetik des Hüftgelenkes, die ein oft multimorbides und
geriatrisches Patientenkollektiv mit schlechter Knochenqualität betreffen. Man unterscheidet intraoperative von postoperativen Frakturen, die entweder traumatisch akut bedingt sind oder z.B. assoziiert mit vorbestehenden Osteolysen im Rahmen von Niedrigenergietraumata im Sinne von Insuffizienzfrakturen auftreten können.
Die intraoperative Inzidenz beträgt bis zu 0,4 % und eine zementierte Press-fit-Versorgung ist mit einem höheren Risiko assoziiert. Die Diagnostik sollte standardmäßig Röntgen und CT umfassen und ggf. durch einen Infektausschluss bei schleichenden Frakturen ergänzt werden. Das zu wählende Behandlungskonzept sollte Faktoren wie Frakturdislokation, Implantatstabilität, Knochenqualität inkl. etwaiger Defekte, funktionellen Patientenanspruch und auch Erfahrung des chirurgischen Teams mit Erfahrung in der Acetabulumchirurgie als auch Revisionsendoprothetik inklusive Verfügbarkeit eines entsprechenden Implantatportfolios beachten. Die konservative Therapie kommt selten zum Einsatz. Operativ sind die Osteosynthese des hinteren Pfeilers und eine stabile Pfannenversorgung elementar. Hierfür stehen diverse Zugänge als auch Implantatoptionen zur Verfügung. Die Therapie periprothetischer Acetabulumfrakturen ist anspruchsvoll und sollte an einem spezialisierten Zentrum erfolgen. Dieser Artikel soll einen Überblick über die aktuellen Standards zur Diagnostik inklusive Klassifikationsoptionen und die verschiedenen Therapieoptionen wie auch Algorithmen zur Versorgung
periprothetischer Acetabulumfrakturen geben.

Schlüsselwörter:
periprothetische Acetabulumfrakturen, Hüfttotalendoprothese, Revisionsendoprothetik

Zitierweise:
Schreiner AJ, Ochs G: Periprothetische Acetabulumfrakturen OUP 2020; 9: 092–98
DOI 10.3238/oup.2019.0092–0098

Summary: Periprosthetic acetabular fractures are rare, but due to epidemiological reasons increasing injuries or complications in the endoprosthetic surgery of the hip joint, which affect an often multimorbid and geriatric
patient population with poor bone quality. One has to differentiate between intraoperative and postoperative fractures, which either occur due to traumatic reasons or are, for example, associated with pre-existing osteolysis occurring in the context of low-energy trauma in the sense of insufficiency fractures. The intraoperative incidence is reported to be up to 0.4 % and cemented press-fit surgery is associated with a higher risk. Diagnostics should include X-ray and CT as standard and, if necessary, be supplemented by infection diagnostics in the case of osteolytic fractures. The treatment concept to be selected should take into account factors such as fracture dislocation, implant stability, bone quality including any defects, functional patient demands and also the experience of the surgical team with experience in acetabular surgery and revision arthroplasty as well including the availability of a corresponding implant and hardware portfolio. Conservative therapy is rarely applied. Surgically, osteosynthesis of the posterior wall and a stable cup restoration are elementary. Various approaches and implant options are available for this purpose. The therapy of periprosthetic acetabular fractures is demanding and should be performed at a specialized center. This article is intended to provide an overview
of the current diagnostic standards including classification options and the different treatment options and algorithms for the treatment of periprosthetic acetabular fractures.

Keywords: periprosthetic acetabular fractures, total hip replacement, revision arthroplasty

Citation: Schreiner AJ, Ochs G: Periprosthetic acetabular fractures. OUP 2020; 9: 092–98
DOI 10.3238/oup.2019.0092–0098

Anna J. Schreiner: Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BGU Tübingen

B. Gunnar Ochs: Vincentius Orthopädische Fachklinik, Klinikum Konstanz

Einleitung und Hintergrund

Erste Beschreibungen periprothetischer Acetabulumfrakturen finden sich bereits vor mehr als 40 Jahren, jedoch umfasst die gesamte bisherige Datenlage im Wesentlichen kleine Fallserien oder Fallberichte [13, 28]. Den Daten des schwedischen Prothesenregisters zufolge sind periprothetische Frakturen nach Lockerungen und Luxationen der dritthäufigste Grund für endoprothetische Revisionseingriffe, jedoch kommt es wesentlich häufiger zu periprothetischen Femurfrakturen als zu periacetabulären Frakturen bei einliegender Hüfttotalendoprothese. Aufgrund steigender Zahlen in der Primärendoprothetik, zunehmender Lebenserwartung sowie einer relativen Überalterung der Gesellschaft, aber auch einem hohen Aktivitätslevel ist in Zukunft auch von einem Inzidenzanstieg periprothetischer Acetabulumfrakturen auszugehen und bereits jetzt stellen Frakturen des Acetabulums die am stärksten wachsende Entität unter den Beckenverletzungen dar [1]. Die Pathogenese als auch das Therapiespektrum sind vielfältig und die Frakturursachen können intra-, peri-oder postoperativ ausgemacht werden. So sind traumatische von chronisch schleichenden periprothetischen Acetabulumfrakturen z.B. bei osteoporotisch vorgeschwächtem Knochen oder Lysezonen im Bereich der Pfanne zu unterscheiden und stellen den Operateur und sein Team hinsichtlich Patienten-, Implantat- und operationsspezifischen Faktoren vor chirurgische Herausforderungen [27, 28]. Die Inzidenz intraoperativer periacetabulärer Frakturen beträgt bei zementierten Pfannen 0–0,2 % und bei zementfreier Press-fit-Verankerung 0,06–0,4 % [28]. Biomechanische Studien konnten hierfür das höhere intraoperative Frakturrisiko für die zementfreie Pfannenversorgung bestätigen. Periacetabuläre Frakturen können hierbei beim eigentlichen Pfannenfräsvorgang auftreten, beim Einbringen einer Press-fit-Pfanne (in ein unterfrästes Pfannenlager) oder allein aufgrund hoher Einschlagkräfte. Hemisphärische Pfannen haben ein niedrigeres Risiko als zementfreie Monoblock- oder elliptische Cup-Designs, sind in Übergröße jedoch auch als riskant zu werten. Da intraoperative Frakturen oftmals nicht oder erst im Verlauf detektiert werden, nimmt man an, dass die tatsächliche Inzidenz höher ist. In einer aktuellen Arbeit von Dammerer et al. wurden postoperative CTs von 115 Patienten innerhalb 30 Tagen nach Hüfttotalendoprothese auf sog. okkulte periprothetische Acetabulumfrakturen hin untersucht [6]. Hierbei traten 58 Fälle auf (50,4 %), wobei ein Großteil dieser Frakturen (45 %) nicht ins eigentliche Acetabulum einstrahlte. Inkomplette Säulenfrakturen hatten keinen Einfluss auf das Implantatüberleben, Frakturen der superolateralen Wand (17 %) zeigten die höchste Pfannenmigration und 3 der 6 okkulten Frakturen der medialen Wand (10 %) mussten revidiert werden, sodass davon ausgegangen werden kann, dass v.a. unerkannte zentral gelegene Frakturen einen Einfluss auf das Implantatüberleben haben können [6]. 2017 führten Hasegawa et al. ebenfalls eine umfassende CT-Analyse im Hinblick auf okkulte periprothetische Acetabulumfrakturen durch, die definiert sind als intraoperativ nicht erkannte oder in der postoperativen Routinediagnostik übersehene Frakturen [11]. Die Rate okkulter Frakturen betrug hier 8,4 % bei 406 Patienten mit einer intraoperativen Inzidenz von 0,4 % sowie der superolateralen Wand als häufigster Frakturlokalisation [11]. Bei intraoperativer Detektion erfolgte eine additive Domschraubenfixierung und es waren insgesamt keine Revisionseingriffe erforderlich [11]. Eine allgemeine Häufigkeit postoperativ auftretender periprothetischer Acetabulumfrakturen in der Primär- und Revisionsendoprothetik ist an sich in der Literatur jedoch nicht beschrieben. Neben einer klassischen traumatischen Sturzgenese sind postoperativ v.a. schleichende Frakturen zu beachten, die sich auf dem Boden einer z.B. durch Polyethylen-Abrieb bedingten Lyse im Sinne einer acetabulären Insuffizienzfraktur ohne adäquates Trauma durch im Verlauf auftretende und ggf. zunehmende Hüftschmerzen äußern können. Laut Berry et al. beträgt die Prävalenz von Beckendiskontinuitäten, die sich meist auf dem Boden einer insuffizienten medialen Begrenzung und oft einhergehend mit schlechter Knochenqualität über Wochen hin entwickeln, 0,9 % in der Revisionsendoprothetik [3]. Auch chronische Pfannenmigration, periprothetische Low-grade-Infekte oder iatrogener Knochenverlust z.B. durch Komponentenentfernung in der Wechselendoprothetik können zur Entstehung einer periprothetischer Acetabulumfraktur beitragen. Prinzipiell können feste Implantate und stabile Frakturen konservativ behandelt werden, wohingegen instabile Frakturen und/oder lockere Implantate der chirurgischen Intervention bedürfen mit dem Ziel einer Stabilisierung der Fraktur und der Pfannenschale mit möglichst rascher Mobilisierung der Patienten [12, 27, 28].

Diagnostik

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