Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Physiotherapie und Physikalische Therapie in der Behandlung von Rückenschmerzen
Potential und Limitationen

Die Multimodal-nichtoperative Komplexbehandlung des Bewegungssystems (OPS 8–977), welche seit 2005 im OPS-Katalog verankert ist, wurde von der ANOA für die Behandlung komplexer, multifaktorieller Erkrankungen des Bewegungssystems entwickelt. Wie bereits im Artikel „Multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems (ANOA-Konzept)“ (J. Emmerich) in dieser Ausgabe dargestellt, beinhaltet diese eine differenzierte Ebenendiagnostik als Voraussetzung für eine befundgerechte multimodale Therapie.

Befundorientierte Behandlung im Rahmen des
ANOA-Konzepts

Physiotherapie und Physikalische Therapie stellen ein zentrales Therapieelement im ANOA-Konzept und der Multimodal-nichtoperativen Komplexbehandlung des Bewegungssystems dar. Voraussetzung ist eine komplexe Erkrankung des Bewegungssystems, welche durch das Vorliegen von mindestens 3 der folgenden Faktoren charakterisiert ist: Strukturpathologie, Funktionspathologie, psychische Einflussfaktoren, Schmerzchronifizierung/soziale Einflussfaktoren. Auf der Grundlage der Ebenendiagnostik ergeben sich unterschiedliche Behandlungsschwerpunkte, sodass Patienten, je nach individueller Befundkonstellation, unterschiedlichen Behandlungspfaden (Tab. 1) zugewiesen werden. Die multimodale Komplexbehandlung erfordert eine intensive Therapiedichte und die Anwendung von mindestens 3 der folgenden therapeutischen Verfahren: Manuelle Therapie und Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage, Medizinische Trainingstherapie, Physikalische Therapie und Entspannungsverfahren. Unabhängig vom Behandlungspfad werden daher (fast) immer sowohl Physiotherapie wie auch Physikalische Maßnahmen angewandt. Abhängig vom Behandlungspfad und insbesondere der individuellen Befundkonstellation werden sie jedoch in unterschiedlicher Kombination, Intensität und Zielstellung angewandt.

Physiotherapie, z.B. Krankengymnastik, neurophysiologische Krankengymnastik und Manuelle Therapie setzen an den Befunden der Struktur- und Funktionspathologie an und zielen auf eine Schmerzreduktion, Funktionsverbesserung bzw. zumindest den Funktionserhalt oder einer Progredienzvermeidung. Physiotherapeutische Behandlungen werden zwar Strukturveränderungen in der Regel nicht rückgängig machen können, allerdings können sie durch Optimierung der strukturellen Situation teilweise die Schmerzursache beeinflussen (z.B. Entlordosierung bei der Spinalkanalstenose, Entlastung nervaler Strukturen). In Bezug auf die Funktionsebene greift insbesondere die Manuelle Therapie an den reversiblen Funktionsstörungen an und hat die Wiederherstellung der normalen Gelenk- und Muskelfunktion zum Ziel. Wichtige Therapieziele liegen in der Wiederherstellung der Rumpfkoordination, der Stabilisierung der Wirbelsäule durch Aktivierung der segmentalen Muskulatur (M. transversus abdominis, Mm. multifidi) und der Wiederherstellung ökonomischer muskulärer Bewegungs- und Haltungsmuster. Essentiell für den Behandlungserfolg ist die Identifizierung und Behandlung grundlegender Funktionsstörungen. Zu diesen gehören neben Störungen der Stabilisationssysteme und der Koordination, die konstitutionelle Hypermobilität wie auch Störungen der motorischen Wahrnehmung, der vegetativen Regulation und der Schmerzmodulation. Werden diese nicht behandelt, kommt es immer wieder zu Rezidiven der direkt schmerzauslösenden Einzelbefunde bzw. sekundären Funktionsstörungen und auf Dauer zu einer Schmerzpersistenz (Details s. Artikel „Von der Funktionsstörung zur Funktionserkrankung. Ein neues Modell als Grundlage für die Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen.“, Liefring/Vinzelberg in dieser Ausgabe).

Physikalische Maßnahmen beeinflussen die Adaptations- und Regulationsmechanismen der Funktionssysteme des Körpers. Über das ihnen zugrundeliegende Reiz-Reaktions-Prinzip können sie insbesondere auf das vegetative Nervensystem einwirken. Darüber hinaus können sie adjuvant in der Schmerzbehandlung mit dem Ziel der Medikamenteneinsparung eingesetzt werden. Weitere Therapieziele physikalischer Maßnahmen sind Muskeldetonisierung oder Muskelstimulation, Durchblutungs- und Resorptionsförderung, Verbesserung der Trophik und Stoffwechselanregung. Um eine längerfristige Regulation von Funktionssystemen zu erreichen, ist bei der Anwendung auf die individuelle Reizdosierung sowie den seriellen Einsatz im Sinne einer Behandlungsserie (z.B. 6–10 Behandlungseinheiten) zu achten. Bei zu geringer Intensität oder Frequenz sind keine Adaptationseffekte zu erwarten, zu hohe Intensitäten können sogar zu einer Verschlechterung oder Dekompensation führen. In der praktischen Umsetzung im teilweise engmaschigem Therapieplan sollte auch an die Ruhezeiten, die der Körper für die Reizverarbeitung nach den Anwendungen benötigt, gedacht werden. Daher sind engmaschige Kontrollen und Intensitätsanpassungen unter der Behandlung notwendig.

Ein wichtiger Aspekt der Therapieplanung besteht darin, die einzelnen Verfahren sinnvoll miteinander zu kombinieren und aufeinander aufzubauen. Im Therapieverlauf sollten passive physikalische und krankengymnastische Verfahren in aktive und aktivierende Maßnahmen der Bewegungstherapie und Medizinischen Trainingstherapie übergehen. Letztendlich ist es Ziel, Patienten zu befähigen, ihren Zustand über ein Eigenübungsprogramm und erlernte Selbstbehandlungsmaßnahmen zu stabilisieren.

Potential und Limitationen

Physiotherapie und Physikalische Therapie haben nicht nur quantitativ aufgrund der ärztlichen Verordnungspraxis einen hohen Stellenwert in der Rückenschmerzbehandlung. Bei der Behandlung komplexer multifaktorieller Erkrankungen des Bewegungssystems sind sie für die befundgerechte Behandlung auf der Struktur- und Funktionsebene essentiell. Durch ihren zielgerichteten und abgestimmten Einsatz mit weiteren multimodalen Therapiebausteinen, welche psychosoziale Aspekte sowie Schmerzchronifizierung berücksichtigen sollten, entfalten sie durch diese Kombination ihr volles Potential. Als Einzelverfahren zeigen sie für die Behandlung von Rücken- oder Kreuzschmerzen wenig Evidenz [4–8, 10], was sich im Empfehlungskatalog der NVL Nicht-spezifischer Kreuzschmerz widerspiegelt. Im Rahmen der multimodalen Komplexbehandlung konnte jüngst die Effektivität des neuroorthopädisch funktionellen Behandlungspfades (Pfad I ANOA-Konzept) mit dem Therapieschwerpunkt einer befundorientierten und zielgerichteten Physiotherapie und Physikalischen Maßnahmen in einer Multicenterstudie belegt werden. Diese zeigte sowohl eine signifikante Schmerzreduktion wie auch Funktionsverbesserung, welche bis 6 und 12 Monate postinterventionell nachweisbar war [9].

Als wesentlicher Limitationsfaktor ist die wissenschaftlich dürftige Evidenzlage einzuschätzen. Diese ist jedoch auch methodisch einer mangelnden Subgruppenbildung innerhalb des untersuchten Patientenguts zuzuschreiben. Nichtdestotrotz führt sie letztendlich zu einer unbefriedigenden Berücksichtigung im Rahmen der Erstellung von Leitlinienempfehlungen, sodass diesbezüglich die Wissenschaft, insbesondere im Rahmen der Versorgungsforschung gefordert ist. Als weitere potentielle Limitation wird immer wieder der überwiegend passive Charakter physiotherapeutischer und physikalischer Verfahren diskutiert. Gelingt es im Rahmen der Edukation, der Vermittlung des biopsychosozialen Krankheitsmodells und der Erarbeitung von Gesundheitskompetenzen nicht, dem Patienten die Bedeutung von regelmäßiger Aktivität und aktivierenden (Selbst-)Übungsprogrammen zu vermitteln, führt das „Verharren“ in einer passiven Behandlungsstufe letztendlich zu einer Iatrogenisierung der Beschwerdeproblematik. Vor diesem Hintergrund sind passive Therapieformen in der klassischen Multimodalen Schmerztherapie häufig nicht erwünscht und werden nur für Einzelfälle empfohlen (siehe NVL [2]), womit allerdings auf das Potential dieser Therapieformen verzichtet wird. Dieser Effekt kann vermieden werden, indem im Rahmen der Behandlungsplanung die eingesetzten Therapien im Zeitverlauf zunehmend aktiver und aktivierender werden. Der Einsatz passiver Maßnahmen zu Beginn ist häufig notwendig, um muskuläre, bindegewebige oder Gelenkbefunde aufzuarbeiten, die schmerzbedingt eine Aktivierung des Patienten und Wiederherstellen der Funktion verhindern. Insofern wird die aktive Therapie und das aktive Training vorbereitet. Im Rahmen von Edukation und Information sowie praktischer Anleitung physikalischer Maßnahmen als Selbstbehandlung in der Häuslichkeit sollte außerdem eine entsprechende Compliance und Selbstwirksamkeit erarbeitet werden.

Fazit

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