Übersichtsarbeiten - OUP 12/2013

Radiushalsfrakturen im Wachstumsalter

P. Koch1, M. Rapp1, P. Illing1

Zusammenfassung: Radiushalsfrakturen im Wachstumsalter bedürfen einer im Vergleich zum Erwachsenen unterschiedlichen Behandlung. Sie verfügen über ein erhebliches Potenzial für Spontankorrekturen und können überwiegend konservativ behandelt werden. Die Kenntnis der Grenzen der konservativen Behandlung ist essenziell, um resultierende Bewegungseinschränkungen zu verhindern. Als operative Therapie der Wahl hat sich die elastisch stabile intramedulläre Nagelung (ESIN) etabliert. Offene Repositionen können die Durchblutung des Radiusköpfchens beeinträchtigen.

Schlüsselwörter: Radiushalsfraktur, Wachstumsalter, konservative Behandlung, elastisch stabile intramedulläre Nagelung, ESIN, Komplikationen

 

Zitierweise

Koch P, Rapp M, Illing P: Radiushalsfrakturen im Wachstumsalter.

OUP 2013; 12: 593–596, DOI 10.3238/oup.2013.0593–0596

Abstract: Pediatric radial neck fractures require sophisticated treatment. Depending on the degree of dislocation, a large number of fractures can be treated conservatively. Beyond the acceptable degree of dislocation closed reduction and intramedullary nailing is well established to prevent restriction of the range of motion. Open reduction may impair the blood supply of the radial head.

Keywords: pediatric radial neck fracture, conservative treatment, elastic stable intramedullary nail fixation, complications

 

Zitierweise

Koch P, Rapp M, Illing P: Fracture of the neck of the radius in childhood. OUP 2013; 12: 593–596, DOI 10.3238/oup.2013.0593–0596

Frakturen am proximalen Ende des Radius sind im Kindesalter selten; sie machen etwa ein Prozent aller knöchernen Verletzungen [1, 2] und 5–10 % aller Ellenbogenfrakturen aus [3, 4]. Meist liegen metaphysäre oder epi-metaphysäre Radiushalsfrakturen vor, tatsächliche Radiuskopffrakturen kommen nur vereinzelt vor.

Neben dem Alter des Patienten sind auch die Kenntnis radiologischer Normalbefunde, das Wissen über das noch verbleibende Längenwachstum und das daraus resultierende Korrekturpotenzial von entscheidender Bedeutung bei der Wahl des richtigen Therapieverfahrens.

Altersabhängig sind am Ellenbogen in den beiden radiologischen Standardprojektionen verschiedene Ossifikationskerne zu sehen, deren Kenntnis jedem traumatologisch tätigen Arzt geläufig sein sollte, um Fehleinschätzungen oder auch unnötige seitvergleichende Röntgenaufnahmen oder eine Überdiagnostik mittels Computertomografie oder MRT zu vermeiden. Als Akronym für die zeitliche Reihenfolge des Auftretens der Knochenkerne dient der Begriff „CRITOL“: Zunächst wird das Capitulum humeri im Alter von etwa 6 Monaten im Röntgenbild sichtbar, gefolgt vom Radiusköpfchen im Alter von etwa 5 Jahren. Es folgen der ulnare („innere“) Epikondylus (6 Jahre), die Trochlea (9 Jahre), das Olekranon (10 Jahre) und zuletzt der radiale („laterale“) Epikondylus mit etwa 12 Jahren.

Die proximalen Fugen des Unterarms sind gegenüber den distalen Fugen nur wenig am Längenwachstum beteiligt [5]. Im Gegensatz zur suprakondylären Humerusfraktur weisen allerdings die Radiushalsfrakturen bei noch offenen Fugen ein erhebliches Potenzial für eine Spontankorrektur auf (Wessel 2012), was bei der Auswahl des Therapieverfahrens unbedingt zu berücksichtigen ist.

Ursache der Radiushalsfrakturen sind meist Stürze auf den ausgestreckten Arm [1]. Hierdurch kommt es in 90 % der Fälle zu metaphysären Radiushalsfrakturen, davon sind 2/3 metaphysäre Quer- oder Stauchungsfrakturen und 1/3 Epiphysenlösungen (Salter-Harris Fraktur I oder II). Im Gegensatz zum Erwachsenenalter stellen Frakturen des proximalen Radiusendes im Kindesalter überwiegend extraartikuläre Radiushalsfrakturen außerhalb der Gelenkkapsel dar [6]. Das Verletzungsmuster des Erwachsenenalters im Sinne einer Meißel- oder Trümmerfraktur (Mason-Klassifikation) des Radiuskopfs (der Epiphyse im Kindesalter) mit Gelenkbeteiligung ist im Kindesalter selten [2] und überwiegend im Jugendalter anzutreffen [1]. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer eigenen Klassifikation und darauf aufbauend ein völlig anderes Therapiekonzept als in der Erwachsenentraumatologie.

Klassifikation

Die Radiushalsfrakturen werden nach der Judet-Klassifikation eingeteilt: Typ I ohne Dislokation, Typ II 30° Dislokation, Typ III 30–60° Dislokation und Typ IV > 60° Dislokation. In der nach Metaizeau modifizierten Klassifikation werden 4 Typen differenziert: Typ I < 20° Dislokation, Typ II 20–45° Dislokation, Typ III 45–80° Dislokation und Typ IV> 80° Dislokation (s. Tab. 1).

Parallel hierzu existiert die aktuelle AO-Klassifikation. Die proximalen Radiusfrakturen werden abhängig vom Vorliegen einer Epiphysenlösung mit (21-E/2) oder ohne (21-E/1) metaphysären Keil oder aber als reine metaphysäre Frakturen (21-M/2) eingestuft. Ferner werden die Schweregrade 1–3 je nach Ausmaß der Dislokation differenziert, siehe Tabelle 2 [7].

Therapie

Während in der Erwachsenentraumatologie der Spielraum für eine konservative Therapie der proximalen Radiusfrakturen eng bemessen ist und hier neben der Osteosynthese abhängig von der Zerstörung der Gelenkfläche, der Stabilität des Gelenks und ligamentären Begleitverletzungen auch die Optionen der Radiusköpfchenresektion oder der primären Prothese diskutiert werden [8, 9], ergeben sich für die Kindertraumatologie andere therapeutische Konsequenzen.

Therapieziel ist einerseits, nicht zu tolerierende Fehlstellungen zu erkennen und zu korrigieren, andererseits das vulnerable Radiusköpfchen vor iatrogener Traumatisierung zu schützen. Ferner sollte mit der primären Therapie eine definitive Versorgung erreicht und gleichzeitig das Risiko posttraumatischer Gelenkdeformitäten vermieden werden [10]. Da Radiushalsfrakturen über ein erhebliches Potenzial für Spontankorrekturen verfügen, können altersabhängig auch erhebliche Dislokationen konservativ behandelt werden.

Begleitverletzungen verschlechtern die Prognose und müssen in die Therapieplanung mit einbezogen werden. Begleitverletzungen können den medialen Epikondylus, den lateralen Kondylus oder das Olekranon betreffen. Ferner werden ligamentäre Verletzungen oder Verletzungen der Membrana interossea beschrieben [9].

Auch muss jede Ulnaschaftfraktur zur Überprüfung des Radiusköpfchens führen, um eine Monteggia-Fraktur oder eine Monteggia-Äquivalent-Fraktur nicht zu übersehen [11].

Konservative Therapie

Über das maximale Dislokationsausmaß für die konservative Behandlung einer Radiushalsfraktur liegen in der Literatur unterschiedliche Ansichten vor. Schmittenbecher befürwortet, Abkippungen bis 45° bis zum vollendeten 10. Lebensjahr stets konservativ zu behandeln; bei Abkippungen jenseits von 45° stellt er die Indikation zur Reposition und etwaigen Retention mittels elastisch stabiler intramedullärer Nagelung (ESIN-Osteosynthese). Ab dem vollendeten 10. Lebensjahr sinkt die tolerierbare Grenze der konservativen Behandlung auf 20° [2].

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