Arzt und Recht - OUP 05/2012

Sicherheit in und vor der Praxis/Klinik –
Grenzen der Verkehrssicherungspflicht von Ärzten

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Karlsruhe

Einleitung

Dem Patienten gegenüber bestehen neben der Pflicht zur fehlerfreien Behandlung auch allgemeine Schutzpflichten. Diese ergeben sich aus dem Umstand, dass derjenige, der in einer Einrichtung ärztliche Behandlung anbietet, als „Betreiber“ dieser Einrichtung (Arztpraxis, Klinik) eine „Gefahrenlage“ für die Patienten unterhält. Da die Gegenstände und Räumlichkeiten dem Herrschaftsbereich des Betreibers unterfallen, trifft ihn die Pflicht, die Verursachung von Schäden beim Patienten durch eine nicht ordnungsgemäße Beschaffenheit zu vermeiden.

Hierzu muss er die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen. Er ist aber nicht gehalten, für alle denkbaren, entfernt liegenden Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge zu treffen. Es genügen diejenigen Vorkehrungen, die nach den konkreten Umständen ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Betreiber (Arzt, Klinikträger) für ausreichend halten darf. Der Patient ist aber nur vor den Gefahren zu schützen, die er selbst in der sich ihm konkret darbietenden Situation bei Anwendung der zu erwartenden Sorgfalt erfahrungsgemäß nicht (rechtzeitig) erkennen oder vermeiden kann1.

Den Praxisinhaber bzw. Klinikträger treffen zumindest entsprechende Organisationspflichten. Es ist durch Dienstanweisungen an das Personal bzw. im Krankenhaus an die leitenden Ärzte (in der Regel Chefärzte) sicherzustellen, dass die allgemeinen Verkehrssicherungspflichten beachtet werden. Demnach sind auch angestellte Ärzte in der Regel durch ihren Arbeitsvertrag oder Dienstanweisungen dazu verpflichtet, die den Arbeitgeber treffenden allgemeinen Verkehrssicherungspflichten gegenüber den Patienten zu beachten. Hierbei sind Schäden aufgrund unsicherer oder unhygienischer Verhältnisse in der Praxis/Klinik und in einem gewissen Bereich um die Praxis/Klinik herum (Wege, Geräte) zu vermeiden. Auch ist zu gewährleisten, dass Patienten sich nicht selbst schädigen2. Werden die Verkehrssicherungspflichten übertragen, so muss der vorrangig Verkehrssicherungspflichtige sicherstellen, dass der Übernehmende willens und in der Lage ist, die Pflicht ordnungsgemäß zu erfüllen3. Insofern hat er der Gefahrenquelle entsprechende Pflicht zur Überprüfung und gegebenenfalls zu erforderlichen Hinweisen.

Rechtsgrundlage der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten sind zum einen der mit dem Patienten geschlossene Behandlungsvertrag bzw. Krankenhausaufnahmevertrag, zum anderen das Recht der unerlaubten Handlungen, das zu deliktischen Schadensatzpflichten gemäß § 823 BGB führen kann.

Entscheidung des Landgerichts Gießen vom 20.06.2011

Das Landgericht Gießen hat nunmehr durch ein Urteil4 die Verkehrssicherungspflichten weitergehend konkretisiert, wobei Grenzen allgemeiner Überprüfungspflichten aufgezeigt werden:

1. Sachverhalt

Der Kläger nahm die beklagte Klinik mit der Behauptung auf Schadensersatz in Anspruch, sie habe ihm einen unzureichend auf die Verkehrssicherheit geprüften Stuhl zur Verfügung gestellt.

Nach einer Hüftoperation kam es im Krankenzimmer des Klägers zu einem Unfall, als er sich von dem dort befindlichen Stuhl erhob. Beim Aufstehen stützte sich der Kläger auf die an dem Stuhl angebrachten Armlehnen, die während des Erhebens seitlich wegbrachen. Bei dem Stuhl handelt es sich um ein Modell, das mit Metallgestell ausgestattet und mit Kunststoffarmlehnen versehen ist. Aus einer von der Beklagten in den Prozess eingeführten Arbeitsanweisung mit dem Titel „Vorgehensweise bei der Kontrolle der Abreisezimmer“ ergibt sich die Anweisung, dass die Mitarbeiter der Haustechnik nach der Abreise eines Patienten auch die Stühle auf ihre Funktionsfähigkeit überprüfen sollen. Unstreitig lässt die Beklagte jedoch keine Belastungsproben durchführen.

Der Kläger behauptete, durch das Abbrechen der Armlehnen sei er nach vorne gefallen. Nach dem Sturz habe er mit Schmerzen etwa zwei Stunden hilflos auf dem Fußboden gelegen. Der Stuhl, der auf den ersten Blick so ausgesehen habe, als sei er in Ordnung, sei tatsächlich brüchig und veraltet gewesen. Der Kläger meint, eventuell von der Beklagten veranlasste Sichtkontrollen reichten nicht zum Schutz der Patienten aus, die Beklagte sei gehalten gewesen, Belastungsüberprüfungen der Stühle vorzunehmen. Der Kläger bestritt, dass an Stühlen vergleichbarer Bauweise zuvor keine Auffälligkeiten aufgetreten sind. Er trug vor, er hege den Verdacht, dass die von der Beklagten vorgelegte Arbeitsanweisung erst nach der Erhebung seiner Klage gefertigt worden sei. Bedingt durch den Sturz habe er sich die Hüftgelenksluxation mit erneuten Weichteilschäden der Hüfte und des Oberschenkels zugezogen und sich vier weiteren Operationen unterziehen müssen, die ihn über ein halbes Jahr länger, als ohne den Unfall, in seinem körperlichen Wohlbefinden eingeschränkt hätten.

Der Kläger hält ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.500,00 € für angemessen und beantragte zudem, sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus Anlass der „Körperverletzungshandlung“ entstanden sind.

Die Beklagte behauptete u. a., an den Stühlen habe es vor dem Unfall des Klägers keine Auffälligkeiten gegeben.

2. Aus den Gründen

Das Landgericht Gießen kam zu dem Urteil, dass die Klage nicht begründet ist:

Rechtslage

Der Kläger kann von der Beklagten weder auf vertraglicher, noch auf deliktsrechtlicher Grundlage die Zahlung eines Schmerzensgeldes verlangen (§§ 280, 823 Abs. 1 BGB).

Einer Klinik obliegen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit ihrer Patienten zwar vertragliche Obhutspflichten und inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflichten, so dass eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten grundsätzlich geeignet ist, sowohl einen Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung (§ 280 BGB), als auch einen deliktischen Anspruch (§ 823 BGB) zu begründen.

Die Beklagte war demnach grundsätzlich verpflichtet, ihre Patienten – mithin auch den Kläger – vor Gefahren zu schützen, denen diese während des Aufenthaltes ausgesetzt sein können. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung setzt jedoch die naheliegende Möglichkeit der Verletzung fremder Rechtsgüter voraus. Eine Verkehrssicherung, die jeden Unfall ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar5.

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