Arzt und Recht - OUP 05/2012

Sicherheit in und vor der Praxis/Klinik –
Grenzen der Verkehrssicherungspflicht von Ärzten

Kommt es in Fällen, in denen keine Schutzmaßnahmen für Dritte getroffen werden mussten, zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den ihm entstandenen Schaden selbst tragen. Nicht jedes erlittene Unglück ist auch ein Unrecht, welches man erfolgversprechend regressieren kann.

So lagen die Dinge nach Auffassung des Landgerichts Gießen auch in dem Fall des Klägers:

Selbst wenn zu Gunsten des Klägers unterstellt wird, dass er durch das Abbrechen der Armlehnen des Stuhles nach vorne gefallen ist, lässt sich aus dem Unfallhergang als solchem nichts schließen, was der Beklagten im Sinne einer schuldhaften Verletzung einer sie treffenden Verkehrssicherungspflicht angelastet werden kann.

Dem Eintritt des Unfalls kann nicht per se entnommen werden, dass Pflichten durch die Beklagte bzw. deren Personal verletzt worden sein könnten. Die Forderung des Klägers, die Beklagte müsse generell an jedem der von ihr vorgehaltenen Stühle vor der Überlassung an einen Patienten Belastungsproben durchführen lassen, überspannt die Anforderungen an Art und Umfang der von der Beklagten zu erfüllenden Verkehrssicherungspflichten. Derart weitreichende Überwachungspflichten hinsichtlich dritten Personen zugänglicher Stühle wären grenzenlos und sind daher lebensfern.

Eine nähere Kontrolle des Stuhles wäre vielmehr nur dann erforderlich gewesen, wenn sich aus dem Zustand des Stuhles oder Vorkommnissen mit vergleichbaren Stühlen die naheliegende Gefahr ergeben hätte, dass die Armlehnen abbrechen können6.

Beweislage

Der Anspruchsteller muss darlegen und beweisen, dass eine konkrete Gefahrensituation bestand, die eine gesteigerte Untersuchungspflicht ausgelöst hat7. Der Kläger ist hinsichtlich der entscheidenden Frage, dass für die Beklagte die naheliegende Möglichkeit bestanden hat, dass der dem Kläger zur Verfügung stehende Stuhl ein Verletzungsrisiko in sich birgt, jedoch beweisfällig geblieben.

Soweit der Kläger mit Nichtwissen bestritten hat, dass an Stühlen vergleichbarer Bauweise zuvor keine Auffälligkeiten aufgetreten sind, führt dies also nicht weiter. Insofern hätte der Kläger weitere Nachforschungen betreiben und ein eventuell für ihn günstiges Ergebnis darlegen und unter Beweis stellen müssen. Der Kläger hat im Übrigen den streitgegenständlichen Stuhl in der mündlichen Verhandlung auch nicht als unsicher beschrieben, sondern erklärt, dass dieser auf den ersten Blick in Ordnung gewesen sei. Er hat sich also auch nicht auf einen mit erkennbaren Fehlern behafteten Stuhl niedergelassen. Der nach den vorstehenden Erwägungen und dieser Einlassung des Klägers anzunehmende Zustand beschreibt mithin ebenso keine Gefahrensituation, die eine Belastungsprüfung durch die Beklagte erfordert hätte.

Aus dem Umstand, dass der zerstörte Stuhl nicht mehr vorhanden ist, kann der Kläger schließlich nichts zu seinen Gunsten ableiten. Eine Beweisvereitelung, mit der Folge einer möglichen Beweislastumkehr, kann nur dann angenommen werden, wenn einer Partei die Beschaffung von Beweismitteln erschwert wird, obwohl die spätere Notwendigkeit einer Beweisführung für die Gegenseite bereits erkennbar war8. Der Kläger hat sich erst etwa neun Monate nach dem Vorfall mit Schadensersatzforderungen an die Beklagte gewandt, so dass diese nicht damit rechnen musste, dass der Stuhl für eine Beweisführung notwendig sein könnte. Nach seinem Unfall war der Austausch vergleichbarer und die Beschaffung neuer Stühle zum Schutze der übrigen Patienten die richtige Maßnahme.

Fazit

Die Entscheidung zeigt Grenzen der Verkehrssicherungspflicht, die von verunfallten Patienten oft zu weitgehend eingeschätzt wird. Insbesondere wird klargestellt, dass der Arzt zumindest beim allgemeinen Inventar der Praxis/des Krankenhauses, mit dem der Patient im gewöhnlichen Publikumsverkehr in Berührung kommt (z.B. Stühle im Wartebereich, Türklinken, Geländer etc.) nicht zu routinemäßigen Belastungskontrollen verpflichtet ist. Lediglich bei erkennbaren Anzeichen für Mängel bzw. für entsprechende Vorkommnisse besteht eine weitergehende Überprüfungspflicht.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

Fiduciastraße 2, 76227 Karlsruhe

E-Mail: kanzlei@arztrecht.org

Internet: www.arztrecht.org

Fussnoten

1 vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 19.01.2011 – 2 O 468/10 – MDR 2011, 787 f. mit Nachweisen zur Rechtsprechung. 5 vgl. BGH VersR 07, 659.

2 vgl. zu den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten OLG Schleswig, Versicherungsrecht 1997,69. 6 vgl. BGH VersR 05, 984.

3 Landgericht Frankfurt, Versicherungsrecht 2006, 1365. 7 vgl. BGH VersR 05, 984.

4 Urteil vom 20.06.2011, Az. 4 O 73/11. 8 vgl. BGH TransportR 98, 87.

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