Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Subgruppenspezifische Psychotherapie in der Behandlung von chronischen Schmerz- und Funktionserkrankungen

Depressionen stellen mit einem Wert von 60 % [26] die häufigste komorbide Störung bei chronischen Schmerzen dar. Depression und chronischer Schmerz können unabhängig voneinander auftreten. Allerdings ist zu beachten, dass eine primäre Depression und/oder Angststörung das Risiko an chronischen Schmerzen zu leiden, erhöht [9]. Dies lässt sich mit dem Einfluss von negativen Emotionen auf die Schmerzwahrnehmung, welcher auch bei gesunden Probanden festzustellen ist, erklären [14, 15]. Ebenso konnte der umgekehrte Effekt nachgewiesen werden. Die sekundär zum Schmerz auftretende Depression wird unter anderem als Folge der wahrgenommenen Funktionsbeeinträchtigung verstanden [14]. Wechselwirkungen zwischen den beiden Störungsbildern werden angenommen. Diverse Untersuchungen weisen auf gemeinsame neuronale Mechanismen hin, die sowohl die Schmerzverarbeitung als auch die Emotionsregulation beeinflussen. Störungen in diesem System können demnach die (gestörte) Schmerzwahrnehmung und (depressive) Stimmungslage bedingen [15]. Die Angst vor der (schmerzauslösenden) Bewegung ist Voraussetzung für die Entwicklung eines chronischen Krankheitsverhaltens und kann häufig bei chronischen Schmerzpatienten beobachtet werden. Ein solches Verhalten hat sowohl körperliche als auch psychosoziale Konsequenzen [23]. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die wahrgenommene Schmerzstärke bei einer Verbesserung der Depressions- bzw. Angstsymptomatik gesunken ist [4, 9]. Die nähere Betrachtung der ätiologischen Bedingungen ermöglicht die Festlegung eines Behandlungsziels und das einzusetzende psychotherapeutische Verfahren.

Chronischer Schmerz und Trauma

Es fällt auf, dass chronische Schmerzpatienten häufig traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit aufweisen und zu Teilen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden [17, 26]. Eine starke Wechselwirkung [17] und gegenseitige Aufrechterhaltung beider Störungen wird diskutiert [28]. Es gibt multiple Faktoren, die eine traumatische Situation darstellen. Ob diese traumatisch wahrgenommen wird, hängt von den individuell verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten ab [6]. Häufig spielen Bindungs- und Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle [20]. Mögliche ungelöste Konflikte müssen identifiziert werden. Bei beiden Störungen lassen sich ähnliche kognitive- und Verhaltensmuster erkennen. Kognitive Prozesse beim Trauma betreffen vor allem die Interpretation des Traumas und seiner Folgen sowie die Vermeidung traumaassoziierter Reize als angepasste Kontrollstrategie. Auch bei chronischen Schmerzen tragen Vermeidungsverhalten und kognitive Prozesse eine entscheidende Rolle. Diese beinhalten unter anderem die (meist geringen) Selbstwirksamkeitserwartungen und Schmerzbewältigungsstrategien sowie die zunehmende Vermeidung von (schmerzauslösenden) Bewegungen. Zudem lassen bei beiden Störungen Übererregung und Ängste, emotionale Instabilität sowie ein hoher Aufmerksamkeitsfokus auf somatische Veränderungen feststellen [17, 25]. Hier besteht die Möglichkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie, um dysfunktionale kognitive Prozesse umzustrukturieren sowie Vermeidungsverhalten abzubauen. Ebenfalls besteht Indikation für ein Entspannungsverfahren wie Biofeedback, um physiologische Anspannung zu reduzieren [17]. In der psychodynamischen Sichtweise stellt das Symptom die emotionale Entlastung bzw. die Abwehr von nicht verbalisierbaren Emotionen dar, in Form eines speaking bodies [10, 26]. Der Fokus der (psychodynamischen) Therapie liegt in der Identifikation sowie Umgestaltung der Beziehungsmuster durch eine korrigierende Beziehungserfahrung und kann zu einer Symptomreduktion führen.

Unabhängig davon, welches Verfahren angewandt wird, ist immer eine professionelle individuelle Einschätzung seitens des Behandlers, ob das Trauma näher bearbeitet werden kann, notwendig. Es besteht Dissoziations- und Retraumatisierungsgefahr. Der Patient sollte über mögliche Risiken aufgeklärt werden.

Chronischer Schmerz und/oder somatoforme Störung

Differentialdiagnostisch ist bei häufigen Arztkontakten und Beschwerden, die vom Betroffenen körperlich begründet vorgetragen werden und jedoch ohne (ausreichenden) organpathologischen Befund und zu Leidensdruck führen, eine somatoforme Störung abzuklären [16]. Sowohl bei der chronischen Schmerzstörung als auch bei somatoformen Störungen werden psychosoziale Belastungsfaktoren als Diagnosekriterium benannt. Die Grenzen zwischen somatoformen Störungen und körperlichen Erkrankungen sind im klinischen Alltag fließend [3]. Bei somatoformen Störungen sollte der Fokus im Rahmen der Behandlung auf psychotherapeutischen Interventionen liegen [24]. Aufgrund der starken somatischen Ursachenfixierung sollte der Einsatz von medizinischen Maßnahmen zurückhaltend sein, dennoch sollten die Beschwerden ernst genommen werden. Grundlegend für eine erfolgreiche Therapie, ist die Ausgestaltung einer tragfähigen Therapeut-Patient-Beziehung. Sowohl verhaltenstherapeutische als auch psychodynamische Behandlungsansätze werden angewandt. Häufig lassen sich Defizite in der (Emotions-)Wahrnehmung feststellen. Das Augenmerk liegt auf der Differenzierung zwischen Schmerzen und Affekten bzw. Belastungssituationen [16]. Die Behandlung erfordert einen engen Kontakt bzw. Austausch im multiprofessionellen Team.

Chronischer Schmerz und Abhängigkeitserkrankungen

Häufig lässt sich Medikamentenmissbrauch- oder abhängigkeit bei Patienten mit chronischen Schmerzen feststellen. Unterschiedliche Faktoren wie Umwelt, Medikament und Individuum sowie die gegenseitige Beeinflussung werden als Ursache verstanden. Wie bereits erwähnt, sehen chronische Schmerzpatienten die Schmerzen oftmals ausschließlich organisch begründet. Aufgrund dieser Attribution erwartet der Patient eine Besserung durch ein Medikament. Zudem haben die Patienten häufig eine geringe internale Kontrollerwartung, selbst wirksam etwas gegen den Schmerz tun zu können [14]. Als Konsequenz wird oft zu externen Hilfsmitteln in Form von Medikamenten gegriffen. Ebenfalls lässt sich, vor allem bei stark ausgeprägten Vermeidungstendenzen, prophylaktisches Einnahmeverhalten beobachten. Das Medikament wird in Antizipation des auftretenden Schmerzes bereits vor einer Tätigkeit oder Bewegung eingenommen. Durch die zunehmende (Bewegungs-)Vermeidung kann es dazu führen, dass es „blind“ eingenommen wird. Darüber hinaus stellen (andere) psychische Komorbiditäten einen Risikofaktor für einen Medikamentenmissbrauch oder eine Medikamentenabhängigkeit dar.

Die Behandlung von chronischen Schmerzen bei primär alkohol- und/oder drogenabhängigen Patienten kann ebenfalls ein Problem darstellen. Es kann zu synergetischen Effekten kommen. Vor allem Benzodiazepine, die einen sedierenden und angstlösenden Effekt haben, nehmen einen wichtigen Stellenwert ein. Es erfolgt immer eine Risikoabwägung im multiprofessionellen Team. Hier ist ein integratives Therapiekonzept, welches auch suchtmedizinische Aspekte wie Entzugsbehandlung und ggf. supportive Maßnahmen umfasst, sinnvoll [27].

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