Übersichtsarbeiten - OUP 04/2018

Ab wann ist die tibiale Rotationsabweichung bei der medialen Schlittenprothese am Kniegelenk als behandlungsfehlerhaft anzusehen?

Bezieht man diese Fragestellung nun auf die Schlittenprothese, finden sich noch weniger Hinweise in der Literatur. Im Rahmen von gutachterlichen Äußerungen wird von manchen Gutachtern ein Grenzwert von 10° angegeben, ab welchem eine Rotationsabweichung im Bereich der Tibia als behandlungsfehlerhaft anzusehen sei. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, hier einen Grenzbereich aufgrund einer Meinungsbildung von Kniechirurgen in Deutschland zu definieren.

Material und Methodik

Für die vorliegende Fragestellung wurden 2 Kollektive befragt. Zum einen wurde eine Internetumfrage bei Mitgliedern der AE (Arbeitsgemeinschaft für Endoprothetik) sowie der DKG (Deutsche Kniegesellschaft) durchgeführt. Insgesamt wurden hier 40 in der Knieendoprothetik ausgewiesene Kolleginnen und Kollegen per Internet befragt, ab wann sie eine Rotationsabweichung für eine mediale Schlittenprothese als behandlungsfehlerhaft ansehen (Tab. 1). Eine vergleichbare Befragung wurde im Rahmen der Winterveranstaltung des VLOU Mitte West (Verband der leitenden Orthopäden und Unfallchirurgen) in Münster bei 47 Kolleginnen und Kollegen mit Erfahrung in der Kniechirurgie durchgeführt. Die Befragung im Rahmen der Internetbefragung sind Tabelle 2 zu entnehmen (Tab. 2).

Ergebnis

Im Rahmen der Internetbefragung gaben 2 Kolleginnen und Kollegen an, dass sie einen Wert bis 10° Rotationsabweichung als nicht fehlerhaft ansehen. 3 Kolleginnen und Kollegen gaben einen Wert von über 15° an, 2 Kolleginnen und Kollegen von über 20° und 3 Kolleginnen und Kollegen sogar von über 30°. 31 Kolleginnen und Kollegen sahen sich nicht in der Lage, eine entsprechende Antwort zu finden.

Aus den Reihen der VLOU fanden sich 3 Kolleginnen und Kollegen, die einen Wert bis 10° akzeptierten. 4 Kolleginnen und Kollegen einen Wert von über 15°, 12 Kolleginnen und Kollegen von über 20°, 3 Kolleginnen und Kollegen von über 25°, 7 Kolleginnen und Kollegen von über 30°. 18 Kolleginnen und Kollegen sahen sich nicht in der Lage, einen Wert festzulegen.

Diskussion

Die Rotationseinstellung von femoralen und tibialen Implantaten im Rahmen der Knieendoprothetik ist nicht einfach zu dokumentierten und beinhaltet eine große inter- und intraindividuelle Fehlerbreite [11]. In der Mehrzahl der Studien wird das Verfahren von Berger et al. [3], in welchem die Rotationspositionierung des Femur und der Tibiakomponente mit einer speziellen CT-Technik untersucht werden kann, verwendet. Voraussetzung hierfür ist ein Standarduntersuchungsprotokoll mit speziell geeigneten Schnittebenen bei dem mehrere 1,5 mm dicke Schichten durch die Transepikondylen, die Tibiagleitfläche, das Tibiaplateau und die Tuberositas tibia erstellt werden. Hier können dann verschiedene Referenzlinien eingezeichnet werden. An der Tibia wird das geometrische Zentrum der Tibiabasisplatte ermittelt und auf die CT-Schichten mit dem proximalsten Punkt der Tuberositas tibia übertragen. Der Winkel zwischen Tibiaplateau-Achse und Senkrechte ergibt den Winkel A. Der Winkel zwischen Tuberositas und der Senkrechten ergibt den Winkel B. Der ermittelte Gesamtwinkel A und B ergibt die absolute Rotationsausrichtung zwischen Tibiaplateau und Tuberositas tibiae (Normalwert 18°, ± 3° Innenrotation).

Im klinischen Alltag und bei gutachterlichen Fragestellungen werden vielfach Abweichungen ab 10° als behandlungsfehlerhaft angesehen. Die neuere Literatur zeigt jedoch, dass hier wahrscheinlich ein Umdenken zu erfolgen hat.

De Valk und Mitarbeiter [5] haben zu der Frage der femoralen und tibialen Rotationsausrichtung nach Knieendoprothetik, zur Dokumentation mittels CT einen systematischen Review durchgeführt und publiziert. Hier zeigte sich zum einen, dass ein 3D-CT deutlich geringere intra- und interobserver Reliabilität aufweist als ein 2D-CT. Die Autoren schlussfolgerten, dass ein 3D-CT deutlich zu präferieren sei, um die Rotationsausrichtung von knieendoprothetischen Komponenten zu dokumentieren. Sie unterstrichen jedoch auch, dass aufgrund mangelnder Evidenz, es keinen klaren Grenzwert für die tibiale Rotation bei Vollprothesen gibt.

Die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung bestätigen dieses auch sehr eindrücklich für die mediale tibiale Komponente der Schlittenprothesen. Die Variation der Ergebnisse ist extrem weit und nur ein ganz geringer Prozentsatz der befragten Kniechirurgen gibt hier einen Wert von unter 10° Rotationsabweichung an, wie es nach wie vor von verschiedenen Gutachtern gefordert wird.

In der Literatur gibt es zu dieser Fragestellung insgesamt nur sehr wenige Hinweise. So untersuchten Iriberri et al. [8] die Rotationsausrichtung bei Schlittenprothesen mittels CT und korrelierten dieses mit dem klinischen Ergebnis. Insgesamt wurden 101 Schlittenprothesen, die von einem einzigen Operateur bei 88 Patienten eingebracht wurden, mittels CT 71 Monate nach der Implantation untersucht. Es wurden neben den radiologischen CT-Daten der WOMAC-Score und KSS–Score mit evaluiert. Es fand sich eine breite Spanne der Rotation zwischen –1° und 32° mit einem Mittelwert von 11,9°. Eine geringere Rotationsabweichung korrelierte mit einem besseren klinischen Outcome. In ihrer Schlussfolgerung wiesen die Autoren auf die erhebliche Spannbreite (Range) der axialen Rotation von 33° hin.

Lee und Mitarbeiter [13] untersuchten verschiedene Landmarken zur Bestimmung der Rotationsausrichtung bei Schlittenprothesen. Je nach Messmethode kamen sie auf eine Spannbreite (Range) zwischen –4 bis 24,3° bzw. 1,9–25,2°.

Liow et al. [14] untersuchten mit einer dreidimensionalen Analyse die Rotation bei Schlittenprothesen. Sie fanden im Bereich des Femurs eine erhebliche Variation von 6,2, ± 6,5° (Range: 39,4°), im Bereich der Tibia fanden sie eine etwas geringere Variabilität von 4,6, ± 6,4° (Range: 26,8°).

Zusammenfassend kann man aufgrund der vorliegenden Untersuchung sowie auch der vorliegenden Literatur davon ausgehen, dass Rotationsabweichungen bei Schlittenprothesen im Bereich der Tibia von 15–20° zur täglichen Praxis gehören, und diese Grenze als unterste Grenze für eine Behandlungsfehlerhaftigkeit anzusehen ist.

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