Übersichtsarbeiten - OUP 04/2021

Antikörpertherapie bei Arthrose?

Hans-Georg Schaible

Zusammenfassung:
Klinische Studien erwiesen die Wirksamkeit von monoklonalen Antikörpern gegen den Nervenwachstumsfaktor (NGF) für die Therapie von Arthroseschmerzen. Dies sollte ein neues Behandlungskonzept bei Arthroseschmerzen etablieren, bei dem statt der regelmäßigen Analgetikagabe der Antikörper in großen Intervallen systemisch appliziert wird. Allerdings wurde dieser Therapie in den USA beim gegenwärtigen Stand vor kurzem die endgültige Zulassung versagt, weil die Therapie in einzelnen Fällen mit einer rasch progredienten Arthroseentwicklung verbunden war. Ob das Konzept weiter verfolgt werden wird, bleibt derzeit unklar. Der Artikel stellt die neurobiologischen Grundlagen der Therapie dar und berichtet die bisher erhobenen Daten.

Schlüsselwörter:
Arthroseschmerz, Nervenwachstumsfaktor, NGF, Antikörper gegen NGF

Zitierweise:
Schaible, H-G: Antikörpertherapie bei Arthrose?
OUP 2021; 10: 174–179
DOI 10.3238/oup.2021.0174–0179

Summary: Clinical studies showed the efficacy of monoclonal antibodies against nerve growth factor (NGF) for the treatment of osteoarthritis pain. This approach was aimed to establish a novel treatment concept for osteoarthritis pain in which the antibody is systemically administered at long intervals instead of applying regularly analgesics. However, at the current stage the permission for this therapy was not given in the USA because in some cases the therapy was associated with a rapidly progressing osteoarthritis. Whether the concept will be further pursued, remains unclear at this stage. The article reports about the neurobiological basis of the therapy and shows the available data.

Keywords: Osteoarthritis pain, nerve growth factor, NGF, antibodies against NGF

Citation: Schaible, H-G: Antibody treatment in osteoarthritis?
OUP 2021; 10: 174–179. DOI 10.3238/oup.2021.0174–0179

Institut für Physiologie/Neurophysiologie, Universitätsklinikum Jena

Einleitung

Muskuloskelettale Erkrankungen sind eine Hauptursache akuter und chronischer Schmerzen [7, 8]. Unter den Gelenkerkrankungen ist die Arthrose die häufigste Ursache chronischer Schmerzen [7]. Während primär entzündliche Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis durch antientzündliche Therapien in vielen Fällen in die Remission oder zum Stillstand gebracht werden können, sind für Arthrosen keine krankheitsmodifizierenden Medikamente klinisch verfügbar. Daher kommt der symptomatischen Schmerztherapie eine große Bedeutung zu.

Schmerzen bei Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems werden in der Regel mit Medikamenten aus der Gruppe der non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs bzw. NSAR) bekämpft [4]. Diese Medikamente sind wirksam, aber besonders bei fortschreitenden Erkrankungen mit Intensivierung der Schmerzen häufig nicht ausreichend, um Schmerzfreiheit zu erzielen. Auch können NSAIDs erhebliche Nebenwirkungen haben. Die Schmerzforschung ist daher schon lange auf der Suche nach neuen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, basierend auf den neuronalen Grundlagen der Schmerzentstehung.

In den letzten 30 Jahren ergaben sich Ansätze für ein neues Behandlungskonzept, das auch in klinischen Studien erprobt wurde. Es handelt sich um die Applikation von monoklonalen Antikörpern gegen den Nervenwachstumsfaktor (Nerve growth factor, NGF), die in einigen Phase 2- und 3-Studien bei Tausenden von Patienten eingesetzt wurden. Bedauerlicherweise hat dieser Ansatz kürzlich einen Rückschlag erhalten. Im März 2021 wurde dem monoklonalen Antikörper „Tanezumab“ der Firma Pfizer durch die amerikanische FDA wegen einer bestimmten Nebenwirkung (s.u.) die Zulassung für die Behandlung von Arthroseschmerzen versagt. Daher lautet der Titel dieses Zeitschriftenbeitrags jetzt „Antikörpertherapie bei Arthrose?“ und nicht wie ursprünglich „Antikörpertherapie bei Arthrose“. Da es verfrüht ist, den neuen Ansatz endgültig als klinisch nicht praktikabel einzustufen, beschreibt dieser Artikel die neurobiologischen Grundlagen der Therapie mit dem Antikörper gegen NGF, die klinischen Ergebnisse dieser Therapie und die Gründe für die Ablehnung der von Pfizer beantragten Zulassung.

Neurobiologische
Bedeutung von NGF

NGF ist ein unverzichtbarer Wachstumsfaktor für die
Entwicklung von Nozizeptoren

NGF ist ein Protein von 120 Aminosäuren (menschlicher NGF), das in den 1950ern von Rita Levi-Montalcini und Viktor Hamburger entdeckt wurde. NGF ist, wie der Name sagt, ein Wachstumsfaktor und gehört zur Gruppe der Neurotrophine. NGF bindet an einen spezifischen Rezeptor, den tyrosine kinase A- (trkA-) Rezeptor, und zusammen mit anderen Neurotrophinen (BDNF, brain derived neurotrophic factor, NT3, Neurotrophin 3, NT4/5, Neurotrophin 4/5) aktiviert NGF auch den p75NTR-Rezeptor.

Über die Wirkung an trkA-Rezeptoren sichert NGF in der pränatalen Entwicklung das Überleben und die Differenzierung fast aller dünnkalibrigen sensorischen Nervenfasern (die meisten von ihnen sind Nozizeptoren) und von Nervenfasern des sympathischen Nervensystems. Ein Teil der dünnkalibrigen sensorischen Nervenfasern verliert bereits in der embryonalen Entwicklung durch Herunterregulation (verringerte Expression) des trkA-Rezeptors die Abhängigkeit von NGF und entwickelt stattdessen eine Abhängigkeit von anderen Wachstumsfaktoren, z.B. von GDNF (glial cell line-derived neurotrophic factor). Von den adulten dünnkalibrigen sensorischen Neuronen weisen etwa 40 % den trkA-Rezeptor auf (dies gilt für Maus, Ratte und Mensch gleichermaßen) [19]. Auf diese Nervenfasern kann NGF auch im adulten Organismus wirken und daher werden nur diese Neurone durch die NGF-Neutralisation beeinflusst.

Die Bedeutung des NGF für die Entwicklung eines normalen nozizeptiven Systems und eines normalen sympathischen Nervensystems wird besonders deutlich im „CIPA“-Syndrom („congenital insensitivity to pain with anhidrosis“). Beim CIPA-Syndrom fehlt NGF und daher werden die o.g. sensorischen und sympathischen Neurone nicht ausgebildet [19]. Davon Betroffene können weder Schmerz noch Jucken, noch Hitze oder Kälte empfinden. Im adulten Organismus ist NGF für das Überleben der Nervenfasern nicht mehr erforderlich. Jedoch bleibt das Aussprossen von Nervenfasern, z.B. in Kulturen von Hinterwurzelganglienzellen, von NGF abhängig.

NGF reguliert den Phänotyp von adulten trkA-positiven
Nozizeptoren

Auch nach Abschluss der Entwicklung bleibt NGF für die Aufrechterhaltung des Phänotyps (die Antworteigenschaften) von trkA-positiven Nozizeptoren von Bedeutung. Das Abfangen und damit die Neutralisierung von endogenem NGF durch ein synthetisches trkA-IgG-Fusionsmolekül über Wochen erzeugte eine anhaltende thermale und chemische Hypoalgesie, also eine veminderte Schmerzempfindlichkeit für thermische und chemische Reize [17]. Um diese Effekte zu verstehen, muss man die Signalwege von NGF kurz betrachten.

In den Nozizeptoren befindet sich der trkA-Rezeptor in der Zellmembran der sensorischen Endigung im Gewebe und ist damit für NGF erreichbar (Abb. 1). Nach Bindung von NGF an die extrazelluläre Bindungsstelle des trkA-Rezeptor wird eine intrazelluläre Domäne aktiviert, die eine Tyrosinkinasefunktion ausübt. Durch die Tyrosinkinaseaktivität werden Tyrosinreste von Proteinen und Ionenkanälen phosphoryliert. Das Anhängen eines Phosphatrestes an einen Ionenkanal erhöht dessen Öffnungswahrscheinlichkeit, wodurch die Empfindlichkeit von sensorischen Nervenendigungen für Reize gesteigert wird. Außerdem wird der gesamte NGF/trkA-Komplex in die Zelle aufgenommen (internalisiert) und wandert retrograd von den sensorischen Endigungen zum Zellkörper, wo der Zellkern liegt. Dort beeinflusst er langfristig die Synthese von Ionenkanälen, Neuropeptiden und Rezeptoren, die dann in die Endigungen transportiert werden. Dieses Muster erklärt, weshalb NGF sowohl kurz- als auch langfristige profunde Effekte auf die Empfindlichkeit der Neurone hat.

Neuronale Effekte der
Applikation von NGF

Da die Neutralisation von endogenem NGF zu Hypoalgesie führt (s.o.), wurde untersucht, welche Effekte die Applikation von NGF an den Nozizeptoren auslösen kann. NGF führt zu einer thermischen und mechanischen Hyperalgesie, also zu einer gesteigerten Empfindlichkeit für thermische und mechanische Reize.

Induktion thermischer
Hyperalgesie

Innerhalb von 10–15 Minuten erhöht NGF in den Nozizeptoren die Ströme durch den TRPV1-Rezeptor, einen Ionenkanal, der durch Hitzereize geöffnet wird. Der TRPV1-Ionenkanal ist eine wichtige Grundlage für die thermische Hyperalgesie. Wird der TRPV1-Ionenkanal durch Phosphorylierung empfindlicher, öffnet er bereits bei warmen Temperaturen und nicht erst bei Hitzereizen. Daher entsteht eine Schmerzempfindung im Warmbereich. Zusätzlich bewirkt NGF einen vermehrten Einbau von TRPV1 in die Zellmembran.

Langfristig kommen auch die NGF-Wirkungen am Zellkern zum Tragen. Dort erhöht NGF die Synthese von spannungsgesteuerten Natriumkanälen (NaDas "v" muss tiefgestellt werden.v1.8 und Naditov1.9), Acid sensing ion channels (ASICs, Ionenkanäle, die durch Protonen geöffnet werden), und der Neuropeptide Substanz P und Calcitonin gene-related peptide (CGRP). Die Natriumkanäle sind für die Auslösung des Aktionspotentials verantwortlich, ASIC-Kanäle werden durch ein saures Milieu geöffnet, und Substanz P und CGRP lösen bei ihrer Freisetzung aus der sensorischen Endigung eine neurogene Entzündung aus. Diese Kanäle und die Neuropeptide werden in die sensorischen Endigungen transportiert. Zusätzliche Ionenkanäle, die in die Endigungen eingebaut werden, steigern die Empfindlichkeit der Neurone. Die bei noxischer Reizung vermehrt aus dem Neuron freigesetzten Neuropeptide erzeugen eine verstärkte neurogene Entzündung im Gewebe [19].

Zusätzlich aktiviert NGF Mastzellen und Neutrophile, sodass sie Entzündungsmediatoren freisetzen, die ihrerseits auf die Neurone wirken [6, 19]. Da die Sensibilisierung für thermische Reize durch NGF durch Sympathektomie reduziert wird, wird angenommen, dass NGF auch über den Sympathikus auf sensorische Neurone wirkt [6, 19].

Induktion mechanischer
Hyperalgesie

Dieser Effekt wurde besonders im tiefen somatischen Gewebe, z.B. im Skelettmuskel und in den Faszien nachgewiesen. Die Hyperalgesie tritt 10–90 Minuten nach NGF-Injektion auf und kann mehrere Tage anhalten. Nach wiederholter NGF-Applikation kann sich die Hyperalgesie räumlich ausdehnen, was für eine Beteiligung zentralnervöser Mechanismen spricht. Der molekulare Mechanismus der mechanischen Hyperalgesie ist noch unklar. Wahrscheinlich modifiziert NGF Ionenkanäle, die (auch) durch mechanische Reize geöffnet werden, z.B. Piezo2, TRPV4, TRPA1, ASICs [19]. So sensibilisiert NGF auch „stumme Nozizeptoren“ für mechanische Reize [21]. „Stumme Nozizeptoren“ haben eine sehr hohe Erregungsschwelle und antworten erst dann auf mechanische Reize, nachdem sie durch eine Entzündung sensibilisiert wurden [10]. Der zusätzliche Einbau von Natriumkanälen unter der Kontrolle von NGF kann die Effekte verstärken [19].

Pathologische Bedeutung von NGF

Da exogenes NGF eine Hyperalgesie verursacht, stellt sich sofort die Frage, ob schmerzhafte Krankheitszustände mit einer Erhöhung von endogenem NGF verbunden sind und ob endogenes NGF relevant für die Schmerzentstehung ist. Im Jahr 1992 wurde NGF in Synovialflüssigkeit und Synovialgewebe von Patienten mit chronischer Arthritis gefunden [1]. Experimentelle Pionierstudien zeigten eine NGF-Beteiligung bei entzündungsbedingter Hyperalgesie. Neutralisierung von NGF durch das trkA-IgG-Fusionsmolekül reduzierte die Entstehung thermaler Hyperalgesie [17] und die Antwort von Nozizeptoren auf Hitzereize [14]. In einem chronischen Entzündungsmodell schwächte ein Antikörper gegen NGF die mechanische und thermische Hyperalgesie ab, wobei die Entzündung selbst durch den Antikörper nicht reduziert wurde [27]. Inzwischen belegen zahlreiche experimentelle und klinische Studien eine Hochregulation von NGF in schmerzhaften Krankheitszuständen.

Muskuloskelettale
Erkrankungen

Erhöhte NGF-Spiegel wurden in der Synovialflüssigkeit und im Synovialgewebe von Patienten mit chronischer rheumatoider Arthritis und Arthrose gefunden [1]. NGF kann von zahlreichen Zellen des Knorpels, des Meniskus und des Synoviums sezerniert werden [2, 3]. Dazu gehören Eosinophile, Lymphozyten, Makrophagen, Mastzellen, Fibroblasten. Zwischen der Schmerzhaftigkeit von Gelenken und der NGF-Konzentration besteht ein Zusammenhang [19]. Im Tierexperiment verstärkte die intraartikuläre NGF-Injektion das Schmerzverhalten bei experimenteller Arthrose [3].

NGF kann auch bei chronischen Rückenschmerzen (chronic low back pain) eine Rolle spielen. So bilden geschädigte Bandscheiben NGF besonders dann, wenn Schmerzen bestehen [19]. Auch das Schmerzbild “Delayed Onset Muscle Soreness” (DOMS, eine verzögert eintretende Schmerzhaftigkeit), das durch Muskelkontraktionen entsteht, ist mit einer Erhöhung von NGF verbunden, ohne dass dabei Entzündungszeichen auftreten [19].

Experimentelle Neuropathien

NGF ist auch erhöht bei durch Nervenläsion induzierten experimentellen Neuropathiemodellen in Nagern und NGF-Neutralisierung reduzierte die damit verbundene Hyperalgesie. NGF wird auch von Keratinozyten und Schwannzellen in distalen Segmenten verletzter Nerven sezerniert [19].

Krebserkrankungen

Schließlich können Krebszellen (Prostata, Brust) NGF sezernieren [19]. NGF and proNGF stimulieren das Brustkrebszellwachstum und das Aussprossen von Nervenfasern [19]. NGF-Blockade kann die Tumorproliferation und die Nozizeption bei menschlichem Mundkrebs reduzieren. Im Tierexperiment wurden Schmerzen durch Anti-NGF-Antikörper reduziert und im Knochenkrebsmodell der Maus wurde das Aussprossen von Nervenfasern abgeschwächt [19].

Präklinische Studien zur
Behandlung von
Arthroseschmerzen mit NGF-Blockade

In präklinischen Arthrosemodellen linderte die NGF-Neutralisation die Hyperalgesie. Verwendet wurden hierbei das „MIA-Modell“ und chirurgische Modelle. Im „MIA-Modell“ wird Monoiodacetat in das Knielegelenk injiziert. Es „vergiftet“ die Chondrozyten und erzeugt innerhalb von Wochen ein arthroseähnliches Bild. Obwohl das MIA-Modell nicht der langsam entstehenden Arthrose des Menschen entspricht, eignet es sich für die Untersuchung von Schmerzmechanismen. Bei den chirurgischen Modellen wird die Arthrose durch Meniskustransektion erzeugt. Sie entspricht eher der menschlichen posttraumatischen Arthrose [9].

Im MIA-Modell der Ratte reduzierte ein Antikörper gegen NGF bei wöchentlicher systemischer Gabe sowohl präventiv als auch therapeutisch das Schmerzverhalten, ohne dabei die Synovitis und die Knorpelschädigung zu beeinflussen [28]. Allerdings verminderte der Antikörper die Zahl TRAP-positiver Osteoklasten im subchondralen Knochen [28]. Im MIA-Modell der Maus reduzierte die wöchentliche Gabe eines Antikörpers gegen NGF das pathologische Bewegungsmuster und die Hochregulation von CGRP in Hinterwurzelganglien [18]. Auch weitere Untersuchungen zeigten eine Schmerzlinderung durch einen Antikörper gegen NGF, ohne die Gelenkpathologie zu beeinflussen [11]. Auch der TrkA-Hemmer AR786 wirkte im MIA-Modell und im chirurgisch induzierten Arthrosemodell sowohl präventiv als auch therapeutisch schmerzlindernd [20]. Auch AR876 hatte keinen Effekt auf die Chondropathie, reduzierte aber leicht die Synovitis im MIA-Modell, jedoch nicht im chirurgischen Modell [20]. Allerdings verminderte AR786 in einem akuten Entzündungsmodell (Carrageenan) auch die Entzündung, ebenso wie Ibuprofen [2]. Dagegen reduzierte ein Antikörper gegen NGF bei CFA-induzierter chronischer Polyarthritis die Hyperalgesie und die Kachexie, aber im Gegensatz zu Indomethacin nicht den Arthritisprozess [25].

Zusammengefasst zeigten alle präklinischen Studien eine schmerzlindernde Wirkung der NGF-Neutralisation und/oder der Hemmung des TrkA-Rezeptors. Bemerkenswert ist der sehr unterschiedliche Effekt auf den Krankheitsprozess. In den Arthrosemodellen wurde eher kein Einfluss auf die Pathologie gefunden, während in einem Teil der Entzündungsmodelle auch ein antiinflammatorischer Effekt festzustellen war. Eine schmerzlindernde Wirkung wurde auch bei experimentellen Tumormodellen gefunden [19].

Besonders erwähnenswert ist eine Studie von LaBranche et al. [15]. Angeregt durch den klinischen Befund einer schnell progressiven Arthrose im Rahmen einer Anti-NGF-Therapie des Menschen (s.u.), wurde die Wirksamkeit von Tanezumab im chirurgischen Arthrosemodell der Ratte untersucht. Frühe Gabe von Tanezumab verhinderte die Schmerzhaftigkeit nach der Operation, verschlimmerte allerdings die Knorpelschädigung. Bei späterem Beginn der Tanezumabtherapie wurde keine Verschlimmerung der Knorpelschädigung gefunden. Es wurde daher gefolgert, dass die Knorpelschädigung durch Tanezumab bei früher Gabe nicht durch den Antikörper bedingt ist, sondern durch die erhöhte Belastung des Gelenks, weil das Gelenk wegen der Schmerzlinderung durch Tanezumab nicht geschont wurde. In Tibia-amputierten Ratten erzeugte Tanezumab keine Knorpelschädigung, was ebenfalls als Hinweis darauf gewertet wurde, dass eine inadäquate Belastung und nicht der Antikörper die Knorpelschädigung verursacht [15].

Klinische Studien mit
Antikörpern gegen NGF
zur Schmerztherapie

Klinisch erprobt wurden Antikörper gegen NGF bei Arthoseschmerzen, chronischen unspezifischen Rückenschmerzen, Neuropathieschmerzen, Krebsschmerzen und urologischen Schmerzen. Die folgenden Abschnitte fassen die Resultate zusammen.

Arthroseschmerzen

Eine 2010 publizierte Arbeit [16] markiert den Anfang des Einsatzes von monoklonalen Antikörpern in der Schmerztherapie. Berichtet wurde, dass die systemische Gabe von Tanezumab in Patienten mit mittlerer bis schwerer Arthrose des Kniegelenks zu einer signifikanten Abnahme der Schmerzen führte. Nach einmaliger systemischer Gabe des Antikörpers waren bereits in der ersten Woche die Schmerzen beim Gehen auf einer flachen Oberfläche signifikant geringer. Die Schmerzlinderung setzte sich über 8 Wochen fort. Eine weitere Injektion von Tanezumab nach 8 Wochen verstärkte den schmerzlindernden Effekt geringgradig weiter. Nach 16 Wochen war eine stabile Schmerzlinderung zu verzeichnen. Insgesamt war der Effekt deutlich stärker als der Placeboeffekt (dieser bewirkte –16 Punkte „mean change from baseline“ nach 16 Wochen, auf einer Skala von 0–100) und dosisabhängig. Eine Tanezumabdosis von 10 µg/kg bewirkte –30 Punkte „mean change from baseline“, 25 µg/kg bewirkten –36 Punkte, 50 µg/kg –29 Punkte, 100 µg/kg erzielten –40 Punkte und 200 µg/kg bewirkten –44 Punkte „mean change from baseline“.

Jedoch wurde bald nach dieser erfolgversprechenden klinischen Studie die weitere klinische Prüfung an Patienten mit Arthrose in den Jahren 2010–2015 von der amerikanischen FDA gestoppt, weil bei einigen Patientien während der Therapie rapide Arthroseverschlechterungen beobachtet wurden. Da sich zunächst kein kausaler Zusammenhang mit der Gabe des Antikörpers sichern ließ, wurden weitere klinische Studien erlaubt. Letztlich war die Komplikation der raschen Gelenkdestruktion dann doch der Grund, weshalb die amerikanische FDA im März 2021 dem monoklonalen Antiköper Tanezumab der Firma Pfizer die Zulassung für die Behandlung von Arthroseschmerzen versagte (s.u.).

Nach Aufhebung des Verbotes wurden zahlreiche weitere Studien zur Wirksamkeit der NGF-Neutralisation durchgeführt. Eine Metaanalyse von Schnitzer und Marks [24] berichtete über 13 Studien an Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Arthrose von Knie- und Hüftgelenk (10 Studien mit Tanezumab, 2 Studien mit Fulranumab, eine Studie mit Fasinumab) an mehr als 8600 Teilnehmern, über eine Zeit von 8–32 Wochen. Bannwarth und Kostine [5] fassten die wesentlichen Ergebnisse aus den klinischen Phase 2– und Phase 3-Studien zusammen. Das Hauptergebnis war, dass die Antikörper gegen Arthroseschmerz in Knie und Hüfte wirksam sind. Alle 3 Antikörper gegen NGF zeigten einen größeren analgetischen Effekt als Placebo [5, 24]. Auch die “WOMAC physical function“ und die globale Beurteilung durch die Patienten zeigten eine signifikante Verbesserung [24]. Im Schnitt war der analgetische Effekt etwas größer als der einer konventionellen Schmerztherapie [23].

Chronischer unspezifischer
Rückenschmerz
(chronic low back pain)

Eine Proof-of-concept-Studie an 217 Patienten mit chronischem unspezifischem Rückenschmerz ohne Radikulopathie über 12 Wochen ergab eine höhere Wirksamkeit von Tanezumab als von Naproxen und beide Therapien waren effektiver als Placebo. Tanezumab wurde in einer Dosis von 200 µg/kg einmalig intravenös infundiert, Naproxen wurde über 12 Wochen mit zweimal täglich 500 mg verabreicht. Nach Woche 6 betrug die Schmerzlinderung auf einer Skala von 0–10 bei Tanezumab –3,37 Punkte, bei Naproxen –2,54 Punkte und bei der Placebogruppe –1,96 Punkte [12]. In einer Phase 2-Studie an 1347 Patienten wurde Tanezumab in einer intravenösen Dosis von 5 mg, 10 mg oder 20 mg alle 8 Wochen gegeben, und andere Patienten erhielten zweimal täglich 500 mg Naproxen. Die Tanezumab-Dosen 10 und 20 mg erzeugten nach 16 Wochen stärkere analgetische Effekte als Naproxen und Placebo, nicht dagegen die Tanezumabdosis 5 mg [13]. Die Responder-Rate bei 10 und 20 mg Tanezumab betrug ca. 30 % und war größer als die von Naproxen und Placebo [13]. Eine Phase 2-Studie mit Fulranumab (1–10 mg alle 4 Wochen) war nicht besser als Placebo nach 12 Wochen [22]. In Patienten mit akuten Ischiasschmerzen war Fasinumab nicht besser wirksam als Placebo [26]. In einer unvollständigen Studie war Fasinumab offensichtlich wirksamer als Placebo. Zusammenfassend schlussfolgerten Bannwarth und Kostine [5], dass nur hohe Dosen von Tanezumab gegen unspezifische Rückenschmerzen wirksam sind.

Periphere neuropathische Schmerzen

Tanezumab war nicht besser wirksam als Placebo bei postherpetischer Neuralgie, aber es war wirksamer als Placebo bei diabetischer peripherer Neuropathie. Auch Fulranumab war besser als Placebo bei diabetischer Neuropathie, dagegen nicht bei postherpetischer oder posttraumatischer Neuropathie. Möglicherweise spielt die unterschiedliche Pathophysiologie dieser Neuropathieformen eine Rolle [5].

Andere Schmerzen

Bei Krebsschmerzen (metastatische Knochenschmerzen) und urologischen chronischen Pelvisschmerzen (Blasenschmerz, Prostatitis etc.) konnten bisher keine eindeutigen und klinisch relevanten schmerzlindernden Effekte dokumentiert werden, obwohl einige positive Effekte beschrieben wurden. Nach Bannwarth und Kostine [5] wurde bisher keine klare Wirksamkeit bei Krebsschmerz und chronischen urologischen Schmerzsyndromen gefunden.

Probleme mit der
Anti-NGF-Therapie

Eine Übersicht von Schmelz et al. [23] stellt die Probleme zusammen, die im Zusammenhang mit der Neutralisierung von NGF durch Antikörper berichtet wurden.

Die wichtigste Komplikation ist die rasch progressive Osteoarthrose (RPOA). Sie ist gekennzeichnet durch Schmerzen, rasche Gelenkspaltverschmälerung und starke atrophische Knochenveränderungen mit Zusammenbruch wenigstes einer subchondralen Fläche innerhalb eines Jahres. Der Grad der Zerstörung geht über den der Endstadiumarthrose hinaus und das befallene Gelenk muss ersetzt werden. Die Ursache für die RPOA ist unklar. Diskutiert werden eine neuropathische Arthropathie (Nervenschädigung mit Verlust der protektiven Schmerzempfindung), eine analgetische Arthropathie (Überbeanspruchung des Gelenks wegen der Analgesie) und vorexistierende Knochenintegritätsstörungen, die durch die analgesiebedingte mechanische Überlastung akzentuiert werden. Da mit dem Antikörper behandelte Patienten offensichtlich keinen Verlust protektiver Schmerzhaftigkeit beklagen, werden die neuropathische Arthropathie und die analgetische Arthropathie für unwahrscheinlich gehalten. Diskutiert wird ferner, dass NGF eine Rolle bei der „Knorpelreparatur“ und bei der belastungsinduzierten Knochenbildung spielen könnte und dass diese Prozesse durch den Antikörper eingeschränkt werden. Spekuliert werden kann, ob eine funktionell relevante Kommunikation zwischen sensorischen Nervenfasern und Osteoblasten gestört sein könnte. Allerdings haben hohe Dosen des Antikörpers in gesunden Knochen und Gelenken von Ratten, Mäusen und Affen keine adversiven Effekte erzeugt. Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer RPOA wurden höhere Antikörperdosen, langdauernde Therapie, gleichzeitige NSAID-Applikation und vorbestehende subchondrale Frakturen identifiziert.

Weitere Nebenwirkungen waren sensorische Störungen in 5–10 % der Patienten, die meistens transient, mild bis mäßig in der Intensität waren und selten zum Abbruch der Studie führten. Berichtet wurden Arthralgien, Extremitätenschmerz, Parästhesien und Hypoästhesien und Ödeme. Die Abbruchrate war kaum höher als in der Placebogruppe, und wurde besonders bei den hohen Antikörperdosen berichtet. Einige Patienten berichteten über das Entstehen oder das Verschlechtern von Neuropathien.

Bei Affen wurden anatomische Veränderungen im sympathischen Nervensystem beobachtet, jedoch konnte keine toxische Störung der Sympathikusfunktion festgestellt werden. Dennoch wurde empfohlen, Patienten mit Verdacht auf sympathische Funktionsstörungen auszuschließen.

Letztlich kam es, wie oben angedeutet, zu einer Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Therapie von Arthoseschmerzen mit Tanezumab1. Mitglieder des Arthritis Advisory Committee (ACC) und des Drug Safety and Risk Management Advisory Committee (DSaRM) der FDA stellten fest, dass nach klinischen Daten Patienten mit Osteoarthrose von Tanezumab profitieren können, dass aber das damit assoziierte Risiko einer rasch progredienten Osteoarthrose (rapidly progressing osteoarthritis, RPOA) und andere Sicherheitsbedenken trotz der vorgeschlagenen Sicherheitsmaßnahmen zu groß seien. Im Einzelnen wurden folgende Argumente ins Feld geführt: Die klinische Effizienz sei vergleichbar der bereits existierender Therapien, sie sei nicht besser als die Einnahme von Aspirin oder Ibuprofen. Die Therapie würde den totalen Gelenkersatz weder vermeiden noch hinauszögern. Der Effekt sei minimal besser als der von Placebo und das Risikoprofil sei größer als von Placebo und existierenden Therapien. Die Therapie stelle ein Risiko für irreverible Schädigung von „Nicht Target-Gelenken“ dar.

Um das Risiko für eine RPOA zu vermindern, wurde von Pfizer nur der Einsatz der niedrigsten getesteten Dosis von 2,5 mg, subkutan alle 8 Wochen, beantragt. Außerdem wurde für die Studien nach 2015 eine „Risk Evaluation and Mitigation Strategy“ (REMS) vorgeschlagen. Diese sah jährliche Röntgenkontrollen von Knie- und Hüftgelenken vor, den Ausschluss von Patienten mit anderen vorbestehenden Gelenkerkrankungen und die Begrenzung auf Patienten mit schwerer Arthrose und fehlendem Ansprechen auf andere Analgetika. Diese Maßnahmen wurden als ungenügend bewertet, besonders weil RPOA auch in gesunden Gelenken auftreten kann und weil die Beurteilung der Röntgenbilder (Messung der Gelenkspaltweite, Festlegung eindeutiger Kriterien, schlechte Übereinstimmung mit klinischen Daten etc.) nicht unstrittig sei. Außerdem seien keine frühen Zeichen einer RPOA und keine Ursachen für RPOA benannt worden. Auch seien Fragen zu anderen Langzeitnebenwirkungen (z.B. Neuropathie) unbeantwortet geblieben. Es wurden nach einer Tanezumabdosis von 2,5 mg 2,4 schwerwiegende Ereignisse pro 100 Patienten erwartet. Außerdem sei das Risiko für eine RPOA zwei- bis dreimal größer, wenn Tanezumab mit NSAIDs kombiniert werde, und das Risiko für einen Gelenktotalersatz sei in 2 von 3 Studien erhöht gewesen. Bei Dosen von Tanezumab höher als 2,5 mg sei das Risiko noch größer.

Fazit

Dieser Beitrag konzentrierte sich auf die Möglichkeit der Therapie mit Antikörpern gegen NGF. Ob dieser Ansatz weiter verfolgt werden wird, ist derzeit unklar. Deutlich wird jedenfalls, dass bei der Entwicklung von neuen Analgetika auch deren Wirkung auf das Gelenk bedacht werden muss. Auch Antikörper gegen Zytokine werden derzeit erprobt [10]. Diese Studien sind jedoch in einem wesentlich früheren Stadium als die Erprobung von Antikörpern gegen NGF und können nicht endgültig bewertet werden.

Bei der möglichen Einführung von neuen Therapien ist auch die Frage zu stellen, wie aus heutiger Sicht das Risiko der klassischen Schmerztherapie bewertet werden würde. An der Notwendigkeit der Verbesserung der Therapie bei Arthrose und Arthroseschmerzen ist jedenfalls aus Sicht des Autors nicht zu zweifeln.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zudiesem Beitrag finden Sie auf:www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Hans-Georg Schaible

Institut für Physiologie/

Neurophysiologie

Universitätsklinikum Jena

Teichgraben 8

07743 Jena

Hans-Georg.Schaible@med.uni-jena.de

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