Übersichtsarbeiten - OUP 04/2021

Antikörpertherapie bei Arthrose?

Hans-Georg Schaible

Zusammenfassung:
Klinische Studien erwiesen die Wirksamkeit von monoklonalen Antikörpern gegen den Nervenwachstumsfaktor (NGF) für die Therapie von Arthroseschmerzen. Dies sollte ein neues Behandlungskonzept bei Arthroseschmerzen etablieren, bei dem statt der regelmäßigen Analgetikagabe der Antikörper in großen Intervallen systemisch appliziert wird. Allerdings wurde dieser Therapie in den USA beim gegenwärtigen Stand vor kurzem die endgültige Zulassung versagt, weil die Therapie in einzelnen Fällen mit einer rasch progredienten Arthroseentwicklung verbunden war. Ob das Konzept weiter verfolgt werden wird, bleibt derzeit unklar. Der Artikel stellt die neurobiologischen Grundlagen der Therapie dar und berichtet die bisher erhobenen Daten.

Schlüsselwörter:
Arthroseschmerz, Nervenwachstumsfaktor, NGF, Antikörper gegen NGF

Zitierweise:
Schaible, H-G: Antikörpertherapie bei Arthrose?
OUP 2021; 10: 174–179
DOI 10.3238/oup.2021.0174–0179

Summary: Clinical studies showed the efficacy of monoclonal antibodies against nerve growth factor (NGF) for the treatment of osteoarthritis pain. This approach was aimed to establish a novel treatment concept for osteoarthritis pain in which the antibody is systemically administered at long intervals instead of applying regularly analgesics. However, at the current stage the permission for this therapy was not given in the USA because in some cases the therapy was associated with a rapidly progressing osteoarthritis. Whether the concept will be further pursued, remains unclear at this stage. The article reports about the neurobiological basis of the therapy and shows the available data.

Keywords: Osteoarthritis pain, nerve growth factor, NGF, antibodies against NGF

Citation: Schaible, H-G: Antibody treatment in osteoarthritis?
OUP 2021; 10: 174–179. DOI 10.3238/oup.2021.0174–0179

Institut für Physiologie/Neurophysiologie, Universitätsklinikum Jena

Einleitung

Muskuloskelettale Erkrankungen sind eine Hauptursache akuter und chronischer Schmerzen [7, 8]. Unter den Gelenkerkrankungen ist die Arthrose die häufigste Ursache chronischer Schmerzen [7]. Während primär entzündliche Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis durch antientzündliche Therapien in vielen Fällen in die Remission oder zum Stillstand gebracht werden können, sind für Arthrosen keine krankheitsmodifizierenden Medikamente klinisch verfügbar. Daher kommt der symptomatischen Schmerztherapie eine große Bedeutung zu.

Schmerzen bei Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems werden in der Regel mit Medikamenten aus der Gruppe der non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs bzw. NSAR) bekämpft [4]. Diese Medikamente sind wirksam, aber besonders bei fortschreitenden Erkrankungen mit Intensivierung der Schmerzen häufig nicht ausreichend, um Schmerzfreiheit zu erzielen. Auch können NSAIDs erhebliche Nebenwirkungen haben. Die Schmerzforschung ist daher schon lange auf der Suche nach neuen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, basierend auf den neuronalen Grundlagen der Schmerzentstehung.

In den letzten 30 Jahren ergaben sich Ansätze für ein neues Behandlungskonzept, das auch in klinischen Studien erprobt wurde. Es handelt sich um die Applikation von monoklonalen Antikörpern gegen den Nervenwachstumsfaktor (Nerve growth factor, NGF), die in einigen Phase 2- und 3-Studien bei Tausenden von Patienten eingesetzt wurden. Bedauerlicherweise hat dieser Ansatz kürzlich einen Rückschlag erhalten. Im März 2021 wurde dem monoklonalen Antikörper „Tanezumab“ der Firma Pfizer durch die amerikanische FDA wegen einer bestimmten Nebenwirkung (s.u.) die Zulassung für die Behandlung von Arthroseschmerzen versagt. Daher lautet der Titel dieses Zeitschriftenbeitrags jetzt „Antikörpertherapie bei Arthrose?“ und nicht wie ursprünglich „Antikörpertherapie bei Arthrose“. Da es verfrüht ist, den neuen Ansatz endgültig als klinisch nicht praktikabel einzustufen, beschreibt dieser Artikel die neurobiologischen Grundlagen der Therapie mit dem Antikörper gegen NGF, die klinischen Ergebnisse dieser Therapie und die Gründe für die Ablehnung der von Pfizer beantragten Zulassung.

Neurobiologische
Bedeutung von NGF

NGF ist ein unverzichtbarer Wachstumsfaktor für die
Entwicklung von Nozizeptoren

NGF ist ein Protein von 120 Aminosäuren (menschlicher NGF), das in den 1950ern von Rita Levi-Montalcini und Viktor Hamburger entdeckt wurde. NGF ist, wie der Name sagt, ein Wachstumsfaktor und gehört zur Gruppe der Neurotrophine. NGF bindet an einen spezifischen Rezeptor, den tyrosine kinase A- (trkA-) Rezeptor, und zusammen mit anderen Neurotrophinen (BDNF, brain derived neurotrophic factor, NT3, Neurotrophin 3, NT4/5, Neurotrophin 4/5) aktiviert NGF auch den p75NTR-Rezeptor.

Über die Wirkung an trkA-Rezeptoren sichert NGF in der pränatalen Entwicklung das Überleben und die Differenzierung fast aller dünnkalibrigen sensorischen Nervenfasern (die meisten von ihnen sind Nozizeptoren) und von Nervenfasern des sympathischen Nervensystems. Ein Teil der dünnkalibrigen sensorischen Nervenfasern verliert bereits in der embryonalen Entwicklung durch Herunterregulation (verringerte Expression) des trkA-Rezeptors die Abhängigkeit von NGF und entwickelt stattdessen eine Abhängigkeit von anderen Wachstumsfaktoren, z.B. von GDNF (glial cell line-derived neurotrophic factor). Von den adulten dünnkalibrigen sensorischen Neuronen weisen etwa 40 % den trkA-Rezeptor auf (dies gilt für Maus, Ratte und Mensch gleichermaßen) [19]. Auf diese Nervenfasern kann NGF auch im adulten Organismus wirken und daher werden nur diese Neurone durch die NGF-Neutralisation beeinflusst.

Die Bedeutung des NGF für die Entwicklung eines normalen nozizeptiven Systems und eines normalen sympathischen Nervensystems wird besonders deutlich im „CIPA“-Syndrom („congenital insensitivity to pain with anhidrosis“). Beim CIPA-Syndrom fehlt NGF und daher werden die o.g. sensorischen und sympathischen Neurone nicht ausgebildet [19]. Davon Betroffene können weder Schmerz noch Jucken, noch Hitze oder Kälte empfinden. Im adulten Organismus ist NGF für das Überleben der Nervenfasern nicht mehr erforderlich. Jedoch bleibt das Aussprossen von Nervenfasern, z.B. in Kulturen von Hinterwurzelganglienzellen, von NGF abhängig.

NGF reguliert den Phänotyp von adulten trkA-positiven
Nozizeptoren

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