Übersichtsarbeiten - OUP 12/2013

Apophysenverletzungen

K. Nowack1,2, W. Schlickewei1,2

Zusammenfassung: Apophysen sind sekundäre Ossifikationszentren, die – altersabhängig – im Ansatzbereich von Sehnen auftreten und durch enchondrale Ossifikation entstehen. Bedingt durch hormonelle und mechanische Einflüsse besteht altersabhängig eine verminderte
mechanische Belastbarkeit der Apophysenregion.

Voneinander abzugrenzen sind 2 Verletzungsformen: Der Apophysenausriss, der als akute Verletzung infolge einer ruckartigen maximalen Muskelanspannung entsteht, und die Apophysenlösung, die ihren Ursprung in Folge repetitiver Mikrotraumen bei chronischer Überbelastung findet. Im
Zuge dieser Unterscheidung sind sowohl anamnestische Hinweise als auch klinische und radiologische Befunde von Bedeutung. Hierdurch lässt sich eine sichere Unterscheidung von Apophysenabrissen und Apophysenlösungen treffen.

Vorgestellt werden in nachfolgendem Artikel Charakteristika und Besonderheiten von Apophysenverletzungen

Schlüsselwörter: Fraktur, Apophysenverletzung, Apophysenlösung, Avulsionsverletzungen, Frakturen im Kindes- und
Jugendalter

 

Zitierweise

Nowack K, Schlickewei W: Apophysenverletzungen.
OUP 2013; 12: 588–592. DOI 10.3238/oup.2013.0588–0592

Abstract: The apophysis is an ossification nucleus near tendon insertion, that occurs dependent on the age before the apophysis finally fuse. Stability of the apophysis is influenced by hormonal and mechanical influences, that lead – depending on the age – to an reduced stability of the apophysis.

Apophyseal avulsion fractures are relatively rare injuries. 2 different types of injuries have to be distinguished: acut or chronic avulsion of the ossifying tendeon insertion. Anamnesis, clinical and radiological findings help to make a distinction between the 2 different types of apophyseal avulsion fractures.

This article gives a summary of characteristics of avulsion fractures.

Keywords: apophysis, avulsion fractures, pelvic fractures, acute and chronic avulsive injuries, pediatric fracture

 

Citation

Nowack K, Schlickewei W: Avulsion injuries.
OUP 2013; 12: 588–592. DOI 10.3238/oup.2013.0588–0592

Das Skelettwachstum wird im Bereich von Epi- und Apophysen generiert. Im folgenden Artikel soll auf Besonderheiten und Charakterisika der Apophysenläsionen näher eingegangen werden.

Allgemeines

Pathomechanismus/Charakteristika

Apophysen sind sekundäre Ossifikationszentren, die im Ansatzbereich von Sehnen auftreten. Sie entstehen durch enchondrale Ossifikation [1].

Sie treten, einem biologischen Ater zugeordnet, im 2. Lebensdezennium auf und fusionieren mit dem angrenzenden Knochen im weiteren Altersgang [1, 2]. Dieses Ossifikationszentrum ist mit einer Wachstumsknorpelfuge verbunden, die im Sinne einer Spina Tuber oder Tuberositas konfiguriert und bei Wachstumsabschluss ossifiziert [1].

Besondere Verletzungsgefahr und -anfälligkeit besteht gegen Ende der Apophysenfusion. Insbesondere die beiden letzten Jahre vor der endgültigen Apophysenfugenmineralisation stellen einen Zeitraum erhöhter Vulnerabilität dar [3].

Dafür werden verschiedene Ursachen verantwortlich gemacht:

  • Durch hormonelle Veränderungen – wie eine vermehrte wachstumsassoziierte Ausschüttung des Somatotropen Hormons (STH) – kommt es zu einer Verminderung der mechanischen Belastbarkeit der Apophysenregion [4].
  • Das Längenwachstum der Knochen führt zu einer vermehrten Zugspannung auf den umhüllenden Muskelmantel, die zudem mit einer zunehmenden Dysbalance und vornehmlichen Verkürzung der gelenküberbrückenden Muskulatur vergesellschaftet ist [1].
  • Die biomechanische Belastbarkeit des Sehnenansatzes wird durch den Ossifikationskern im Sehnenansatz verändert, da die einstrahlenden Kollagenfaserbündel der Sehnen durch den Ossifikationskern unterbrochen und umgelenkt werden [1].

Die Apophysen stellen somit einen Locus minoris resistentiae im Wachstumsalter dar [5].

Lokalisation

Die häufigste Lokalisationen der Apophysenschädigungen stellen die Kniegelenkregion (30 %), die Beckenregion (23 %), die Wirbelsäule (20 %) und das proximale Femur (19 %) dar [6].

Schädigungsformen

Im Zusammenhang mit Verletzungen und Schädigungen der Apophysenregionen werden 2 Schädigungsformen unterschieden:

Der Apophysenabriss tritt als akute Verletzung infolge einer ruckartigen maximalen Muskelanspannung auf. Die Apophysenerkrankung/-lösung entwickelt sich als Folge von repetitiven Mikrotraumen bei chronischer Überbelastung.

In der klinischen und gutachterlichen Praxis wird diese Unterscheidung nicht regelhaft angewandt, was zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der gutachterlichen Beurteilung und der Zusammenhangsfrage führen kann.

Akute Apophysenverletzung bzw. Apophysenabriss

Apophysenverletzungen treten meist mit sportlicher Aktivität assoziiert auf. Das Prädilektionsalter liegt zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr. Jungen sind deutlicher häufiger betroffen als Mädchen, was im Vorhandensein vermehrter Muskelmasse, der unterschiedlichen hormonelle Situation und einer geschlechtstypischen Sportausübung begründet ist [1].

Typischerweise sind zweigelenkige Muskeln betroffen. Während ein Gelenk in Endstellung die Muskelgruppe vorspannt, führt eine ruckartige Streckbewegung des anderen Gelenkes zur Schädigung des apophysären Sehnenansatzes (Beispiel Hürdenschritt mit Hüftflexion mit akzentuierter Streckbewegung im Kniegelenk) [1].

Klinisch zeigt sich ein akuter Schmerzbeginn und eine schmerzhafte Funktionseinschränkung. Begleitend zeigen sich ein lokaler Druckschmerz und lokale Schwellungen oder Hämatomverfärbungen. In Folge der Zugbelastung kommt es zur Dislokation, was zumeist einen sicheren radiologischen Nachweis der Verletzung ermöglicht.

Apophysenerkrankung
bzw. -lösung

Bei der Apophysenerkrankung bzw. -lösung liegt ursächlich eine chronische Überbelastung der Apophysenregion vor. Es kommt zu Ossifikationsstörungen mit partieller Abhebung, Frakturierung oder Kondensierung der Apophysen [1]. Die Pathogenese ist vergleichbar mit der der „Epiphysiolysis Capitis Femoris“ [7]. Zu beobachten ist eine vermehrte Knorpelzellteilung mit ausbleibender Zellreifung, was zu einer fehlenden Ausbildung von Knorpelsäulen und einer Desintegration und Störung der Vernetzung der Kollagenfibrillen mit entsprechender Verknöcherungsstörung der Metaphysengrenzen führt. Somit ist die Apophysenlösung als schicksalshaft und im „gutachterlichen Sinne“ als unfallunabhängig einzuschätzen.

Merkmale sind eine im Vergleich zu Apophysenverletzungen eine „längere“ Anamnese und eine „mehrzeitige“ Entstehung. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die fehlende Dislokation der Apophyse, was die radiologische Diagnostik erschweren kann [9]. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Pathomechanismen und Charakteristika bei Apophysenlösungen und Apophysenabrissverletzungen.

Diagnostik

Die Basis der Diagnostik stellt eine exakte Anamnese, die klinische Untersuchung und eine native Röntgenaufnahme der verletzten Region (in 2 Ebenen) dar.

Ergänzend kommen dazu auch radiologische Schnittbildverfahren zur Anwendung (Computertomografie und Kernspintomografie), die eine exaktere Bilanzierung der Verletzung und des Dislokationsgrades zulassen und Aufschluss über evtl. vorliegende zusätzliche Begleitverletzungen (z.B. Kniebinnenverletzungen) geben. Zusätzlich kann mithilfe der Schnittbilddiagnostik – z.B. bei Vorliegen eines Knochenmarködems, lokaler Hämatome, etc. – eine zuverlässige Abgrenzung zwischen der Apophysenlösung und dem akuten Apophysenausriss erfolgen.

Differenzialdiagnosen

Im Falle einer überschießenden Knochenbildung im ehemaligen Apophysenbereich sollte u.a. ein mögliches Vorliegen folgender Differenzialdiagnosen erwogen werden [15]:

Myositis ossificans,

Osteochondrom,

Enchondrom,

Chondrosarkom.

Klassifikation

Klassifikationssysteme existieren u.a. für Apophysenverletzungen im Beckenbereich und im Kniegelenksbereich, siehe Tabellen 1 und 2.

Therapie

Die Therapie ist abhängig von der Verletzungsart, der -lokalisation und dem Ausmaß der Dislokation.

Zumeist ist ein konservatives Vorgehen zu empfehlen [14]. Sinnvoll erscheinen initiale Schonung oder Ruhigstellung bzw. eine kurzzeitige Entlastung. Begleitend kommen neben einer physiotherapeutischen Übungsbehandlung antiphlogistische Maßnahmen und eine angepasste Analgesie zur Anwendung [3]. Nach Erreichen der Schmerzfreiheit kann eine vorsichtige und schrittweise Aufbelastung erfolgen. Begleitend sollten dann Bewegungsübungen und ein zunehmender Muskelaufbau durchgeführt werden. Die erneute Sportaufnahme wird durch die klinische Einschätzung von Schmerz, Bewegungsumfang und lokaler Druckdolenz gesteuert, im allgemeinen ist nach 8–12 Wochen die Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität möglich [15].

Ein operatives Vorgehen wird zumeist nicht empfohlen, da eine sichere Refixation kleinerer Apophysenfragmente nicht gelingt [3]. Bei größeren Fragmenten und starker Dislokation (> 2 cm) kann eine Refixation erwogen werden [3]. Bei chronischen Beschwerden durch Ausbildung einer Pseudarthrose (insbesondere bei stark dislozierter Apophyse) und Entwicklung einer Exostose durch überschießende Kallusbildung kann ebenfalls eine operative Revision erwogen werden [15].

Für Apophysenverletzungen mit Gelenk- bzw. Gelenkflächenbeteiligung wird bei Vorliegen einer stärkeren Dislokation die chirurgische Intervention empfohlen. Ziel ist eine anatomische Reposition und eine korrekte Wiederherstellung der Gelenkfläche. Ebenso ist zu bedenken, dass eine ausgedehnte Kallusreaktion lokal zu Beschwerden führen kann [13]. Die Operation sollte zeitnah nach gründlicher Vorbereitung und Verletzungsbilanzierung erfolgen.

Im Bereich des Kniegelenks wir eine offene Reposition und operative Stabilisierung des Fragmentes für Avulsionen mit intraartikulärer Beteiligung und für Dislokationen > 2–3 mm empfohlen [13]. Zumeist kommen auch hier Schraubenosteosynthesen zur Anwendung. Kurz vor bzw. nach erfolgtem Fugenschluss kann auch eine „fugenkreuzende“ Osteosynthese durchgeführt werden, ohne dass relevante Wachstumsstörungen erwartet werden müssen [13]. Der operative Zugangsweg orientiert sich am Dislokationsgrad der Verletzung und an der erforderlichen Reposition. Postoperativ wird eine Ruhigstellung im Oberschenkelgipstutor (angelegt in 5–10° Flexion) für 4–6 Wochen empfohlen, ehe mit dem physiotherapeutischen Aufbautraining begonnen werden kann [13]. Nachfolgend kann eine schrittweise Belastungssteigerung erfolgen. Eine volle Sportfähigkeit wird frühestens ca. 12 Wochen nach dem Unfallereignis erreicht [3].

Fallbeispiele

Die folgende Übersicht zeigt typische Lokalisationen für Apophysen-/Avulsionsverletzungen am juvenilen Beckenskelett [14] (s. auch Abb. 3). Die Abbildungen 4–8 zeigen Fallbeispiele für Apophysenverletzungen am Becken und Kniegelenk.

  • Avulsionsverletzung der Spina iliaca anterior superior.
  • Avulsion der Spina iliaca anterior inferior,
  • Avulsion aus dem Trochanter minor,
  • Avulsion aus dem Trochanter major,
  • Avulsionsverletzung des Tuber ischiadicum des Sitzbeines (Os ischii).

Die Prognose der Avulsionsverletzungen am juvenilen Beckenskelett ist als gut einzuschätzen. In der Regel kann konservativ behandelt werden [14]. Ein operatives Vorgehen kann bei größeren und deutlich dislozierten Apophysenausrissen im Bereich der Spina iliaca anterior superior alternativ in Betracht gezogen werden.

Fazit

Apophysen sind sekundäre Ossifikationszentren, die – altersabhängig – im Ansatzbereich von Sehnen auftreten und durch enchondrale Ossifikation entstehen. Bedingt durch hormonelle und mechanische Einflüsse besteht altersabhängig eine verminderte mechanische Belastbarkeit der Apophysenregion. Apophysenverletzungen sind selten. Voneinander abzugrenzen sind 2 Verletzungsformen: Der Apophysenausriss, der als akute Verletzung infolge einer ruckartigen maximalen Muskelanspannung entsteht und die Apophysenlösung, die ihren Ursprung in Folge repetitiver Mikrotraumen bei chronischer Überbelastung findet.

Häufigste Lokalisationen sind die Kniegelenksregion und das Becken. Im Bereich des Beckens ist zumeist ein konservatives Vorgehen möglich, bei Verletzungen der Kniegelenksregion ist bei Dislokation auch ein operatives Vorgehen mit Rekonstruktion der Gelenkfläche und des knöchernen Ansatzes des Bandapparates indiziert. Bei adäquater Durchführung der Therapie lassen sich Apophysenverletzungen zumeist mit guten Ergebnissen behandeln.

 

Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors bestehen.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Klaus Nowack

RKK Klinikum

St. Josefskrankenhaus Freiburg

Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Kindertraumatologie

Sautierstraße 1, 79104 Freiburg

Klaus.Nowack@rkk-klinikum.de

Literatur

1. Nehrer S, Huber W, Dirisamer A et al.. Apophysenschäden bei jugendlichen Sportlern. Radiologe 2002; 42: 818–822

2. Pöschl M. Juvenile Osteochondronekrosen. In: Pöschl M (Hrsg) Handbuch der medizinischen Radiologie, Bd V/4. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1971; 824

3. Ruffing T, Danko T, Muhm M et al. Traumatische Apophysenlösung des Trochanter Minor. Unfallchirug 2012; DOI 10.1007/s00113–012–2165–4

4. Morscher M, Desaulles PA. Die Festigkeit des Wachstumsknorpels in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht . Schweiz Med Wochenschr 1964; 17: 582

5. Ogden JA, Hempton RF, Southwick WO. Development of the tibial tuberosity. Anat Rec 1975; 182: 431

6. Segesser B, Morscher E, Goesele A. Störungen der Wachstumsfugen durch sportliche Überlastung. Orthopäde 1995; 24: 446–456

7. Steinbrueck A, Hocke S, Heimkes B. Apophyseolysis of the greater trochanter through excessive sports: a case report. Am J Sports Med 2011; 39: 195–198

8. Schröter F. Kausalitätsprüfung bei Apophysenschäden: Ablösung versus Ausriß. Med Sach 2013; 109–115

9. Siebert W, Wegner U. Schädigung der Apophysen und Epiphysen. Prakt Orthop 1993; 23: 207–217

10. Nowack K, Schlickewei W. Beckenring- und Apophysenverletzungen im Kindes- und Jugendalter. Eingereicht zur Publikation, Der Unfallchirurg, Springer Verlag

11. McKinney B, Nelson C, Carrion W et al. Apophyseal avulsions fractures of the hip and pelvis. Orthopedics 2009; 32 (1): 42

12. Rose S. Kniegelenk. In: Praxis der Kinder- und Jugendtraumatologie. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2011: 377–407

13. Schneidmueller D, Gercek E, Lehnert M et al. Frakturen der proximalen Tibia. Unfallchirurg 2011; 114: 396–402

14. Uhl M, Geiger J, Strohm P C. Skeletttraumatologie im Wachstumsalter. Radiologie 2011; 51: 719–736

15. Wolff R. Apophysenausrisse. Deutsche Zeitung für Sportmedizin 2000; 51 (9): 305–306

Fussnoten

1 St. Josefskrankenhaus Freiburg

2 Bruder-Klaus-Krankenhaus Waldkirch

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