Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität

Rolf Malessa, Wolfram Kluge

Zusammenfassung:
Die Arthrose unterliegt komplexen pathogenetischen Einflüssen. Eine Diskrepanz zwischen Arthroseschwere und Schmerzausprägung, eine ungewöhnliche Symptomkombination oder unerwartete Therapieresistenz erfordern oft neue und interdisziplinäre diagnostische und therapeutische Ansätze. Das Verständnis neurogener Sensitivierungsprozesse erlangt dabei zunehmende Bedeutung. Durch eine gemeinsame neurologisch-orthopädische Aufarbeitung können die verschiedenen Faktoren der Arthrose- und Schmerzentstehung besser differenziert werden, um auch in scheinbar therapieresistenten Fällen eine Linderung zu erreichen, Operationen, wo möglich, zu vermeiden und eine Schmerzchronifizierung zu verhindern.

Schlüsselwörter:
Arthrose, neurogene Sensitivierung, neuropathischer Gelenkschmerz, neurologisch-orthopädische Arthrosetherapie, interdisziplinär

Zitierweise:
Malessa R, Kluge W: Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und
neurologische Komorbidität
OUP 2022; 11: 201–207
DOI 10.53180/oup.2022.0201-0207

Summary: Arthritis and its symptoms are triggered by multifactorial pathogenetic mechanisms. Pain expressed by patients does not always relate to orthopaedic diagnostic findings and therapeutic management might be unsuccessful. Multidisciplinary diagnostic evaluation promotes a better understanding of neuroinflammation and chronic pain developing via central sensitization in patients suffering from arthritis. This paper illustrates our neuro-orthopaedic approach to cases apparently not responding to conventional treatment. Thereby, we hope to avoid potentially unsuccessful surgery and development of chronic pain.

Keywords: Arthritis, central sensitization, neuropathic joint pain, neuro-orthopedic therapy, multidisciplinary approach

Citation: Malessa R, Kluge W: Osteoarthritis – Clinical aspects, neurogenic pain and neurological comorbidity
OUP 2022; 11: 201–207. DOI 10.53180/oup.2022.0201-0207

R. Malessa, W. Kluge: Neurologisch-Orthopädische Nervenschmerz-Spezialstation (NONPain-Unit), Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar

Einleitung

Dieser Artikel soll wichtige klinische Aspekte der Arthrosebehandlung zusammenfassen und auf die therapeutische Bedeutung neurogener Sensitivierungsprozesse eingehen, die auf den Arthroseschmerz erheblichen Einfluss nehmen können. Dabei greifen die Autoren sowohl auf neuere Kenntnisse zur Pathogenese der Arthrose zurück, als auch auf ihre klinischen Erfahrungen, die sie in der interdisziplinären Zusammenarbeit auf der Neurologisch-Orthopädischen Nervenschmerz-Spezialstation (NONPain-Unit) am Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar in den letzten 10 Jahren sammeln konnten.

Bei deutlicher Diskrepanz zwischen Arthroseschwere und Schmerzausprägung oder ungewöhnlicher Symptomkombination sowie in Fällen mit unerwarteter Therapieresistenz eröffnet der interdisziplinäre Blick oft neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Für Patienten kann sich dadurch auch nach längerem Leidensweg doch noch eine Klärung und Linderung der Beschwerden ergeben, was überdies dem natürlichen Kausalitätsbedürfnis entgegenkommt und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient stärkt. Häufig können dann herkömmliche Analgetika eingespart oder unnötige Operationen vermieden werden. Gerade das Erkennen und die gezielte Behandlung einer neuropathischen Schmerzkomponente bieten vielfältige Möglichkeiten der Behandlungsoptimierung, auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll.

Klinisch relevante Aspekte aus orthopädischer Sicht

Arthrose kann bisher nicht durch Wiederherstellung normaler Gelenkphysiologie therapiert werden. Versuche der Eindämmung von Schmerz, Instabilität oder Bewegungseinschränkung ruhen auf den Säulen der operativ fusionierenden/mobilisierenden Gelenkentfernung bzw. des künstlichen Teilersatzes und der konservativen Behandlung. Die Einschränkungen der Lebensqualität durch Arthrose werden damit erträglich. Schmerzmittel und nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind Medikamente mit nachgewiesener lindernder Wirkung. Physiotherapeutische Behandlungen, gelenknahe Injektionen mildern ebenso wie Orthesen die Beschwerden.

2018 haben Steinmeyer et al. [14] an dieser Stelle eine ausführliche Darstellung der medikamentösen Therapie der Gonarthrose mit Bezug zu den aktuellen Leitlinien veröffentlicht, welche prinzipiell für andere Gelenke übernommen werden kann und heute unverändert gültig ist.

Gelenkknorpel kann sich selbst nicht defektfrei erneuern – so unsere bisherige Lehrmeinung. Die aktuelle Grundlagenforschung vermittelt immer wieder Hoffnung auf Eigenregeneration spezifischer Knorpel. Untersuchungen zum Proteinumsatz im Knorpel zeigen bspw. belastungs- und lageabhängige Gradienten mit dem höchsten Umsatz im Sprunggelenk, gefolgt vom Knie und am geringsten in der Hüfte [9]. Spektroskopische Untersuchungen der Autoren finden die stärksten Stoffwechselaktivitäten direkt unter der Knorpeloberfläche und dies vor allem bei arthrotisch geschädigtem Knorpel. Die Autoren schließen daraus, dass ein dynamischer Anabolismus der Extremitätenknorpel existiert, welcher Ausdruck eigenregenerativer Fähigkeit des menschlichen Knorpels ist. Eine leichte Entzündungsreaktion im minimal verletzten Gelenk kann Heilung des Knorpels fördern, langanhaltende starke Entzündung den Knorpel jedoch zerstören. Es ist bekannt, dass intraartikuläre Frakturen von einer fulminanten Synovialitis begleitet werden. Diese Immunantwort kann zur degenerativen Zerstörung des Gelenkes führen und wird durch Makrophagen (M1-Typ entzündungsfördernd und M2-Typ entzündungshemmend) moderiert [1]. Unterdrückung dieser starken Entzündungsreaktion bietet einen therapeutischen Ansatz zur Limitierung posttraumatischer Arthrose.

Genetische Disposition beeinflusst die Ätiologie der Arthrose. Eine tierexperimentelle Studie [12] konnte zeigen, dass regenerative oder degenerative Phänotypen existieren. Die Identifikation von Genen für regenerative Vorgänge im Knorpel könnte therapeutischen Nutzen erbringen. Wie diese wenigen ausgewählten Beispiele zeigen, vermittelt die Forschung zwar immer neue Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathogenese der Arthrose, doch zeichnen sich aktuell keine bahnbrechenden Verbesserungen der Arthrosetherapie hin zu einem kausalen Ansatz ab.

Die Phase zwischen milden degenerativen Veränderungen und dem operativ erfolgreich zu behandelnden Endstadium der fortschreitenden Arthrose stellt eine Herausforderung für Ärzte und Patienten dar. Vor der Entscheidung zu einer Operation müssen differenzialdiagnostisch mögliche Schmerzverstärkungen durch sich überlagernde Krankheitsbilder ausgeschlossen werden. Dafür ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nach unserer Erfahrung außerordentlich hilfreich. Ein Fallbeispiel, dass die komplexen Verknüpfungen muskuloskelettaler mit nervalen Pathologien verdeutlichen soll, findet sich im vorletzten Abschnitt des Textes.

Auch wenn die Entscheidung zur Operation gefallen ist, sollte psychischen Komorbiditäten besondere Beachtung geschenkt werden. Xiao et al [15] konnten zeigen, dass eine gezielte psychologische Intervention in der perioperativen Phase der Knieendoprothetik bei depressiven Patienten nicht nur zu signifikant höherer Patientenzufriedenheit führt, sondern auch zu objektiv besseren Ergebnissen. In der orthopädischen Sprechstunde stellen sich nicht selten Menschen vor, die ihr Arthroseleiden als primär ursächlich für eine ihnen ausweglos erscheinende Lebenssituation interpretieren. Die subjektiv überhöhte Bedeutung des Arthroseleidens kann in solchen Fällen tatsächlich zu einer Schmerzverstärkung beitragen und den Wunsch zu einer Operation bestärken. Auch in derartigen Fällen kommt einer psychologischen Intervention eine besondere Bedeutung zu und kann mitunter den dringenden Wunsch zu einer Operation relativieren.

Nicht unerwähnt bleiben sollen auch seltene Fälle, in denen psychologische Faktoren in besonderer Weise zu einer Fehlinterpretation der Befundlage führen können. So wurde uns eine Patientin fachärztlich zur Arthroskopie vorgestellt wegen einer vermeintlich sekundär infizierten posttraumatischen Gonarthrose. Bei der klinischen Aufnahmeuntersuchung zeigten sich bei ihr jedoch außer großen, um die Kniescheibe verteilten Hämatomen keine pathologischen Veränderungen des Gelenkes. Eigenanamnestisch sei das Gelenk seit einem mehrere Monate zurückliegenden Bagatelltrauma (Arbeitsunfall: Anstoßen an einer Türe) unverändert schmerzhaft bewegungseingeschränkt. Zwei ambulant durchgeführte MRT zeigten keine Binnenpathologie. Eine Vielzahl physiotherapeutischer Behandlungen blieb erfolglos. Klinisch ergab sich bei nur äußerlich geschädigtem Gelenk der Verdacht auf wiederholte Selbstverletzungen. Eine psychosomatische Vorstellung und Behandlung führte letztlich zur vollständigen Heilung.

Bemerkenswert ist, dass manche Patienten mit dem fachärztlichen Rat, ihre Arthrose konservativ und nicht wie erwartet operativ zu behandeln, unzufrieden sind. Dies kann mitunter in dem Vorwurf der Inkompetenz gipfeln.

Bereits leichter Arthroseschmerz wird gelegentlich gleich mit Krankheit assoziiert. Für Krankheit bietet die moderne und ökonomisierte Medizin die vielfach propagierte Aussicht auf Heilung, besonders schnell und gründlich durch operativen Ersatz des verschleißenden Körperteiles [11]. So die Meinung bspw. auch der Menschen, die den selektiven endoprothetischen Teilersatz des nur unikondylär arthrotischen Kniegelenkes ablehnen und stattdessen gleich die „richtige“ Totalendoprothese fordern. Diesem mechanistischen Denken nachzugeben, erscheint vielleicht manchmal einfacher und für den Patienten subjektiv zielführend. Hier gilt es jedoch, sich Zeit zu nehmen und in einem ruhigen Gespräch die Begründung für ein konservativeres Vorgehen ausführlich darzulegen. Dies ist allemal weiser, als der Griff nach der vermeintlich schnelleren umfassenden chirurgischen Lösung. Zumal schlechte Ergebnisse rekonstruktiver Chirurgie statistisch am deutlichsten mit der Anzahl vorangegangener Eingriffe am gleichen Körperteil assoziiert sind [10, 13].

Je nach Patientenklientel kann aber auch eine unbegründete Zurückhaltung gegenüber chirurgischer Intervention im Vordergrund stehen. Als Beispiel sei ein durch beidseitige ankylosierende Coxarthrose an Gehstützen gebundener kreislaufgesunder Akademiker mittleren Alters genannt, der sich unermüdlich von stationärer Schmerztherapie zu psychologischer Beratung und wieder zurück hangelte. Er war getrieben durch seine Angst vor der Endoprothetik, die sich aus zahlreichen medizinkritischen Artikeln nährte und durch seine Skepsis gegenüber Ärzten, die die schmerzhafte Bewegungseinschränkung seiner Hüften zunächst fehlinterpretiert hatten.

Neurogene
Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität

Bei ungewöhnlicher Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der Gelenkveränderungen und der geschilderten Schmerzintensität oder bemerkenswerter Therapieresistenz können selbst für den erfahrenen Kliniker große Schwierigkeiten bestehen, die zugrundeliegenden Schmerzursachen zu interpretieren und im Einzelnen zuzuordnen. Liegt eine Komorbidität oder gar eine völlig andere Genese vor? Oder ist der Patient einfach sehr empfindlich, besteht eine funktionelle Komponente oder gar ein Rentenbegehren?

Heute wissen wir, dass in einem relevanten Anteil dieser Fälle differenzialdiagnostisch eine neuropathische Schmerzverstärkung in Frage kommt. Neuere Studien legen nahe, dass bei mehr als 25 % der Patienten mit Coxarthrose und bei sogar mehr als 30 % (- 68 %) der Patienten mit Gonarthrose eine bedeutsame neuropathische Schmerzkomponente vorliegt.

Eine mögliche Ursache ist die lokale Sensitivierung von Nervenstrukturen durch neurovaskuläre Entzündungsreaktionen im Gelenk. Die Schmerzschwelle wird entsprechend gesenkt, sodass vermehrte, mitunter sogar spontane Schmerzimpulse zum Rückenmark geleitet werden und dort eine neuronale Hyperexzitabilität induzieren. Inhibitorische Interneurone auf Rückenmarksebene und das deszendierende inhibitorische System werden durch den vermehrten nozizeptiven Input letztlich dysfunktional mit weiterer Disinhibition und Verstärkung der zentralen Sensibilisierung. Mechanische Allodynie und Hyperalgesie im betroffenen Areal sind die klinische Folge. Das schmerzhafte Areal kann sich dadurch klinisch sogar über das Innervationsgebiet der primär geschädigten Nervenfasern ausdehnen (sekundäre Hyperalgesie), was nicht selten zu Fehlinterpretationen führt und an der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeschilderung zweifeln lassen kann. Dieser klinische Eindruck wird bei Vorliegen von psychischen Belastungsfaktoren oft noch bestärkt.

Die heute bekannte Schmerzmatrix des Gehirns umfasst diverse Areale vom Hirnstamm bis zum frontalen Kortex, die für die Schmerzbewertung, -intensivierung und -chronifizierung eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere limbischen Arealen, die für die emotionale Schmerzqualität verantwortlich sind, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Liegt eine emotionale Belastung vor, etwa durch Angst oder Depression, wird die Schmerzwahrnehmung i.d.R. verstärkt, Dabei handelt es sich aber nicht um eine „erhöhte Empfindsamkeit“ des Patienten, sondern, um eine tatsächlich verstärkte neuronale Aktivierung im Gyrus cinguli, in dem die Aversivität des Schmerzes codiert wird. Um ein Anspringen dieses Sensitivierungsnetzwerkes zu verhindern, sollten neuropathische Schmerzkomponenten möglichst frühzeitig detektiert und ungünstige emotionale Begleitfaktoren berücksichtigt und, wenn möglich, auch mitbehandelt werden. Die frühzeitige Diagnose und Anbehandlung ist der wichtigste Schutz vor Schmerzchronifizierung mit all ihren z.T. desaströsen Folgen für Arbeit, soziale Kontakte, Familie und Partnerschaft. Entsprechend sollte früh eine fachübergreifende Beurteilung durch Orthopäden, Schmerztherapeuten, Neurologen und ggfs. Psychologen erfolgen, um möglichst viele Einzelfaktoren, die zur Chronifizierung beitragen, zu identifizieren und eine individuelle angepasste Therapie abzustimmen oder eine multimodale Schmerztherapie zu ermöglichen.

Die Neigung zur Ausbildung neuropathischer Schmerzen nach Nervenschädigung ist bekanntermaßen selbst bei völlig identischem Schädigungsausmaß sehr unterschiedlich ausgeprägt – offenbar aufgrund einer spezifischen genetischen Disposition. Dies spiegelt sich auch in der interindividuell sehr unterschiedlichen Präsentation neuropathischer Schmerzkomponenten bei Arthrose wider. Dass neuropathische Sensitivierungen bei einem relevanten Anteil der Arthrosepatienten eine Rolle spielen, wurde bereits in der Multicenter Osteoarthritis Study (MOST) ausführlich dargestellt. Eine vermehrte Sensitivierbarkeit durch repetitive mechanische Reize und eine erniedrigte Druckschmerzschwelle bei Gonarthrose fanden sich signifikant assoziiert mit der Arthroseschmerzintensität, nicht jedoch mit der Dauer der Gonarthrose oder der radiologischen Ausprägung der Gelenkveränderungen. Eine neuropathische Sensitivierung bei Gelenkschmerz spiegelt demnach eine spezifische, am ehesten genetisch determinierte Eigenschaft des Betroffenen wider und ist primär keine Funktion der Arthroseschwere. Diese Erkenntnisse verändern zwangsläufig unseren klinischen Blick und Beurteilungsmaßstab.

Erfassung einer neuropathischen Sensitivierung

Um einer neuropathischen Schmerzkomponente auf die Spur zu kommen, kann die Verwendung des painDETECT-Fragebogens erste wichtige Indizien liefern [8]. Anamnestisch achtet man auf die Angabe brennender, stechender oder elektrisierender Schmerzen, insbesondere, wenn sie spontan oder besonders in der Ruhephase wahrgenommen werden. Auch die Angabe von Kälte- und Wärme-Missempfindungen, die offensichtlich nicht entzündlich oder ischämisch ausgelöst werden, sind immer hochverdächtig auf eine neuropathische Schmerzkomponente. Darüber hinaus lassen sich oft auch sehr unangenehme, drückende Fehlempfindungen erfragen („wie bandagiert“, „wie geschwollen“).

Bei der klinischen Untersuchung achtet man auf eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) und/oder eine Schmerzangabe bei Applikation per se nicht schmerzhafter Reize (Allodynie) im Bereich des betroffenen Gelenkes. Repetitive Spitzreize mit einer Frequenz von 1 Hz lassen bei positiven Summationseffekt ebenfalls eine Hypersensitivität annehmen. In der Multicenter Osteoarthritis Study wurde dafür z.B. ein 60 g von Frey Monofilament verwendet.

Im Zweifel sollte ein schmerzerfahrener Neurologe oder Schmerztherapeut zurate gezogen werden. Keinesfalls ist es so, dass erst bei fortgeschrittener Arthrose mit Mechanismen einer neuropathischen Sensibilisierung zu rechnen ist.

Weitere Differenzialdiagnosen neuropathischer Schmerzverstärkung bei
Arthrose

„Vor die Therapie hat Gott die Diagnose gestellt.“ Bevor die Grundzüge einer antineuropathischen Therapie dargestellt werden, sollen deshalb einige Differenzialdiagnosen, die ebenfalls zu einer neuropathischen Schmerzkomponente führen könne, kursorisch dargestellt werden. Aus ihnen können sich relevante Änderung der therapeutischen Strategie, mitunter auch neue kausale Therapieansätze ergeben.

Arthroseschmerz und
Polyneuropathie

Eine Polyneuropathie muss nicht sehr ausgeprägt sein, um über eine neuropathische Schmerzkomponente einen Arthroseschmerz zu verstärken. Zum Teil ist sie vorher klinisch überhaupt nicht relevant in Erscheinung getreten. Speziell bei Vorhandensein einer sog. small fiber-Komponente, also einer Schädigung im Bereich der schmerz- und temperaturleitenden Nervenfasern, werden neuropathische Sensitivierungen begünstigt und zwar nicht nur in den Arealen, die klinisch am deutlichsten betroffen sind (Füße, Unterschenkel, Hände), sondern im gesamten Körper, da es sich bei Polyneuropathien in der Regel um systemische Erkrankungen handelt. Da small fiber-Beteiligungen bei Polyneuropathie und insbesondere eine isolierte small fiber-Neuropathie nicht immer leicht zu diagnostizieren sind, ist eine neurologische Konsultation bei der Abklärung ungewöhnlich ausgeprägter arthrotischer Schmerzen ratsam. Eine unauffällige Neurografie schließt übrigens das Vorliegen einer small fiber-Neuropathie keineswegs aus. Ohne eine gezielte Überprüfung der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung und ggf. eine Hautbiopsie, wird eine small fiber-Neuropathie auch von Neurologen leicht übersehen.

Neuropathischer
Gelenkschmerz nach
Interventionen

Neuropathische Schmerzen nach invasiven Maßnahmen im Bereich der Gelenke entstehen z.T. erst mit einer zeitlichen Latenz von Wochen bis Monaten, selten Jahren. Bei entsprechender genetischer Prädisposition oder vorbestehender Polyneuropathie können selbst kleine Narben nach Operation oder Arthroskopie durch lokale Hautastläsion zu außergewöhnlich intensiven neuropathischen Schmerzen führen, die nicht nur unter Belastung zunehmen, sondern typischerweise auch in der Ruhe nach Belastung oder vor dem Einschlafen. Da die kleinen Narben auf den ersten Blick meist völlig unauffällig aussehen und sich sensibilisierte Areale oft nur mit gezielter Untersuchung finden lassen, wird diese Bagatellursache häufig übersehen.

Auffälliger wird eine neuropathische Schmerzkomponente, wenn es periinterventionell zu einer Kompromittierung von Nervengewebe gekommen ist (z.B. durch Zug, Quetschung, Blutung) mit entsprechenden neurologischen Defiziten. Auch hier kann sich nach dem primären Verletzungschmerz eine sekundäre neuropathische Schmerzkomponente einstellen und in den Folgewochen, -monaten oder -jahren weiter steigern. Die Änderung der Wesensgrundlage des Hauptschmerzes im Zeitverlauf ist im Nachhinein anamnestisch nicht immer leicht nachzuvollziehen. Je frühzeitiger eine neuropathische Dynamik entdeckt wird, desto effektiver kann eine weitere Schmerzsteigerung und -chronifizierung verhindert werden.

Schmerzinterferenz durch eine lokale neuropathische Komobidität

Differenzialdiagnostisch ebenfalls bedeutsam sind Überschneidungen eines Arthoseschmerzes mit Schmerzen, i.R. anderer neurologischer Erkrankungen im gleichen Körperareal. An diese Möglichkeit muss gedacht werden, wenn die Schmerzausprägung und -Dynamik und/oder die Symptomkombination ungewöhnlich ist, z. B. Gelenkschmerzen mit zusätzlicher Angabe von Muskelschmerzen, hinzutretenden Paresen, Parästhesien, Pelzigkeit, brennenden oder drückenden Fehlempfindungen im betroffenen Areal oder distal davon. Derartige Sensibilitätsstörungen können so im Hintergrund der Beschwerdesymptomatik stehen, dass speziell danach gefragt und in der körperlichen Untersuchung gezielt gesucht werden muss. Typische Ursachen dafür sind Mono- und Polyneuritiden, besonders aber Neuritiden des Plexus lumbosacralis und Plexus zervikobrachialis. Schmerzüberlagerungen speziell im Bereich des Schulter- oder Ellenbogengelenkes oder auch im Bereich des Iliosakral-, Hüft- und/oder Kniegelenkes sehen wir hier bei therapieresistenten Schmerzen relativ häufig.

Diese entzündlichen, zum Teil multiplexartig auftretenden Affektionen des peripheren Nervensystems treten gelegentlich spontan auf, häufiger aber nach körperlicher Belastung, postinfektiös oder auch postvakzinal, in letzter Zeit entsprechend auch häufiger nach Corona-Infektion oder -Impfung. Nach meist subakutem Beginn und einer Schmerzexazerbation über Tage bis Wochen (mit oder ohne nachfolgender Parese) gibt es viel häufiger als angenommen auch Verläufe, die über Monate und Jahre fluktuieren, rezidivieren und sogar chronifizieren. Eine intensivierte Physiotherapie führt dann häufig sogar zur Symptomverstärkung.

Diese oft immunogen vermittelten Nervenentzündungen können primär auch durch operative Eingriffe (z.B. an Schulter, Wirbelsäule, Hüfte, Knie) induziert werden, meist mit einer Latenz von wenigen Tagen bis einigen Wochen (z.B. während der Rehabilitation bei vermehrter Beübung) – eine schwierige Differenzialdiagnose, insbesondere, wenn sich die neue Schmerzsymptomatik mit dem Beschwerdebild, das zur Operation geführt hat, überschneidet (z.B. Hüft-TEP und Neuritis des Plexus lumbosakralis). Erfahrungsgemäß ist hier nur durch aufwendige neurologische und elektrophysiologische Untersuchungen eine diagnostische Klärung möglich. Bei Vorliegen einer entzündlichen Nervenaffektion kann eine kausale immunmodulatorische Therapie zu einer relevanten Verbesserung der Schmerzsymptomatik führen, mitunter selbst in Fällen mit bereits seit Jahren bestehender Schmerzsymptomatik. Entsprechend sollten ungewöhnlich resistente oder sogar progrediente Schmerzzustände trotz lege artis durchgeführter Operation nicht zuletzt an diese Differentialdiagnosen denken lassen. Dies gilt insbesondere auch für Patienten mit Diabetes mellitus, die eine überdurchschnittliche Prädisposition zur Ausbildung von Immunneuritiden aufweisen. Auch die bekannte diabetische Amyotrophie ist letztlich nichts anderes, als eine Neuritis des Plexus lumbosacralis i.R. einer Mikrovaskulitis.

Pragmatische
antineuropathische Therapie

Wenn sich keine kausalen Therapieansätze ergeben, sollte bei Patienten, bei denen eine neuropathische Sensitivierung nachzuweisen ist, frühzeitig eine antineuropathische Medikation versucht werden. Die inzwischen doch recht vielfältigen medikamentösen Optionen finden sich mit ihren Dosierungen und klinisch relevanten Nebenwirkungen in Tabelle 1 aufgeführt (Tab. 1).

Dabei gehören Antikonvulsiva vom Kalziumskanal-Typ wie Pregabalin und Gabapentin zu den Medikamenten der ersten Wahl. Beide reduzieren den aktivierenden Kalziumeinstrom auf peripheren und zentralen nozizeptiven Neuronen [2]. Trizyklische Antidepressiva und selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wirken antinozizeptiv durch die Aktivierung absteigender noradrenerge inhibitorische Bahnen [7]. Darüber hinaus blockieren trizyklische Antidepressiva auch periphere Natriumkanäle und hemmen dadurch spontane ektopische Entladungen.

Beide Substanzgruppen werden oft als Co-Analgetika bezeichnet. Für die Behandlung neuropathischer Schmerzen sind Sie jedoch die am stärksten analgetisch wirksamen Medikamente, während übliche Nicht-Opioidanalgetika (NSAR, Cox-2-Hemmer, Paracetamol und Metamizol) keinen hinreichenden Effekt, aber ein erhebliches Nebenwirkungsspektrum (Blutungen, Nierenschäden etc.) aufweisen.

Diese Informationen sind für den Patienten sehr wichtig und sollten ihm vor Beginn der Behandlung in verständlicher Weise vermittelt werden. Er muss verstehen, warum er mit einem Epilepsiemittel und/oder einem Mittel gegen Depression behandelt wird und dass die ihm bekannten und bewährten Schmerzmittel bei dieser Schmerzart nicht hinreichend wirksam und nebenwirkungsträchtig sind. Darüberhinaus sind Patienten darauf hinzuweisen, dass je nach Ausprägung und Chronifizierungsgrad des neuropathischen Schmerzes eine Schmerzreduktion von >= 30 % ein realistisches therapeutisches Ziel darstellen und eine komplette Schmerzlinderung häufig nicht möglich sein wird. Ungewohnt ist für Patienten auch, dass sich ein analgetischer Therapieeffekt etwa bei Pregabalin erst nach 4-wöchiger Behandlung hinreichend sicher eingeschätzten lässt. Nebenwirkungen zeigen sich dagegen insbesondere zum Behandlungsbeginn, lassen im Verlauf aber oft nach oder können durch eine Dosisanpassung oder Medikamentenumstellung eliminiert werden. Sedierende, schlaffördernde und anxiolytische Nebeneffekte können dagegen durchaus erwünscht sein und therapeutisch genutzt werden [3].

Für Opioide ergibt sich insgesamt eine relativ schwache antineuropathische Evidenzlage. Tramadol und hochpotente Opioide kommen als Mittel der 3. Wahl in Betracht. Opioidtypische Nebenwirkungen, die Entwicklung einer Toleranz und die Dependenzgefahr müssen beachtet werden.

Bei ausgeprägter Symptomatik und Chronifizierungstendenz ist strategisch eine Kombinationsbehandlung anzustreben, um über unterschiedliche Mechanismen einen synergistischen Effekt zu erzielen. Dabei wird man versuchen, die jeweiligen Einzeldosierungen und somit auch die Nebenwirkungen möglichst niedrig zu halten.

Bei ausgeprägter lokaler Sensitivierung kann man in einigen Fällen auch durch die lokale Anwendung von hochkonzentriertem Capsaicin positive Effekte erzielen, die meist über ca. 2–3 Monate, vereinzelt aber auch über mehr als 6 Monate anhalten [4]. Eine Wiederholung der Behandlung ist bei Bedarf möglich. Als off Label-Therapie kommt außerdem die lokale Anwendung eines 5 %igen Lokalanästhetika-Pflasters in Betracht [5].

Interdisziplinäres
Fallbeispiel

Abschließend soll anhand eines aktuellen Fallbeispiels die komplexe Interaktion zwischen Arthroseschmerzen und Nervenschmerz dargestellt werden. Der pflegerisch tätige junge Mann wurde wegen zunehmender Schmerzen und sensomotorischer Defizite sowie einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung im linken Bein der hohen physischen und psychischen Anforderung in seinem Beruf nicht mehr gerecht. Die hausärztliche Untersuchung ergab eine fortgeschrittene Coxarthrose und eine diffuse Muskelschwäche des betroffenen Beines. Schließlich erfolgte aufgrund einer ausgeprägten Schmerzexazerbation im Bereich des linken Knies mit Schmerzausstrahlung in den linken lateralen Unterschenkel bis in die Digiti IV und -V die Vorstellung in der Notfallambulanz unserer Klinik. Zudem wurde über eine Schwäche im linken Knie geklagt. Neurologisch fand sich eine 4/5-Schwäche der Hüftbeuger, Hüftstrecker sowie Kniestrecker und -beuger linksseitig, wobei eine algogene Schmerzkomponente zusätzlich anzunehmen war. Darüber hinaus zeigte sich eine Fußsenker- und Zehensenkerschwäche links und eine Hypästhesie und Hypalgesie am linken lateralen Unterschenkel und an der lateralen Fußseite, die Digiti III und -IV einbeziehend. Kernspintomografisch ergab sich kein Hinweis auf eine relevante Kompression der L5– und/oder S1-Wurzel links. Es erfolgte eine stationäre neurologische Abklärung, bei der sich unter Berücksichtigung der elektrophysiologischen Befunde der V.a. eine Neuritis des Plexus lumbosacralis links ergab, sodass eine hochdosierte Methylprednisolonstoßbehandlung durchgeführt wurde mit prompter Regredienz der Schmerzen von VAS 9 auf VAS 3, was die Annahme einer immunvermittelten Plexusneuritis bestätigte. Nach einigen Monaten kam es erneut zu einer Schmerzverstärkung, die sich nun eindeutig auf das linke Hüftgelenk beziehen ließ mit Bewegungshemmung der Hüfte sowie Leisten- und Oberschenkelschmerzen, sodass der endoprothetische Ersatz des Hüftgelenkes vorgenommen wurde. Das operative Ergebnis entsprach nach Rekonvaleszenz den orthopädischen Erwartungen, doch kam es nicht zu der erhofften Schmerzfreiheit, vielmehr entwickelte sich ein tiefer, schlecht zu lokalisierender Beinschmerz mit Muskelschwäche, sodass an eine postoperativ getriggerte Reaktivierung der Beinplexusneuritis zu denken ist. Eine mechanische Irritation nervaler Strukturen konnte sicher ausgeschlossen werden. Entsprechend ist nun die neurologische Reevaluation ggf. mit einer erneuten immunmodulatorischen Therapie vorgesehen.

Resümee

Die Gemengelage ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Unsere Patienten erwarten umfassendes ärztliches Verständnis und Fachkompetenz zur Beurteilung ihres Arthroseleidens. Dies erfordert ärztliches Einfühlungsvermögen und spezialisierte Sachkenntnis. Spezialisierung ist für den Behandler somit einerseits Voraussetzung, um spezifische Differenzialdiagnosen und Maßnahmen gegeneinander abzuwägen, sie birgt andererseits aber auch die Gefahr der fachspezifischen Fokussierung, die leicht den Blick über den Tellerrand hinaus verstellen kann. Patienten wiederum kann es kaum gelingen, den Dschungel der vielfältigen medizinischen Angebote zielgerichtet zu durchdringen.

Unser Wissen um das Können unserer Kolleginnen und Kollegen aus dem eigenen und anderen Fachgebieten, die freimütige Kommunikation miteinander und mit unseren Patienten kann letztlich für alle Beteiligten zur Zufriedenheit und zum therapeutischen Erfolg beitragen. Lassen Sie uns gemeinsam die verschiedenen Faktoren, die zur Arthrose- und Schmerzentstehung führen, besser verstehen, um auch in scheinbar therapieresistenten Fällen eine Linderung zu erreichen, Operationen wo möglich zu vermeiden und einer Schmerzchronifizierung entgegenzuwirken.

Interessenkonflikte:

R. Malessa: Honorare für Vorträge, Teilnahme an Advisory boards, Studien für die Firmen Biogen, Grünenthal, Lilly, Lundbeck, Novartis, Teva

W. Kluge: keine angegeben

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Rolf Malessa

Neurologisch-Orthopädische

Nervenschmerz-Spezialstation

(NONPain-Unit)

Sophien- und Hufeland-Klinikum

Henry-van-de-Velde-Straße 2

99425 Weimar

r.malessa@klinikum-weimar.de

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