Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität

Um einer neuropathischen Schmerzkomponente auf die Spur zu kommen, kann die Verwendung des painDETECT-Fragebogens erste wichtige Indizien liefern [8]. Anamnestisch achtet man auf die Angabe brennender, stechender oder elektrisierender Schmerzen, insbesondere, wenn sie spontan oder besonders in der Ruhephase wahrgenommen werden. Auch die Angabe von Kälte- und Wärme-Missempfindungen, die offensichtlich nicht entzündlich oder ischämisch ausgelöst werden, sind immer hochverdächtig auf eine neuropathische Schmerzkomponente. Darüber hinaus lassen sich oft auch sehr unangenehme, drückende Fehlempfindungen erfragen („wie bandagiert“, „wie geschwollen“).

Bei der klinischen Untersuchung achtet man auf eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) und/oder eine Schmerzangabe bei Applikation per se nicht schmerzhafter Reize (Allodynie) im Bereich des betroffenen Gelenkes. Repetitive Spitzreize mit einer Frequenz von 1 Hz lassen bei positiven Summationseffekt ebenfalls eine Hypersensitivität annehmen. In der Multicenter Osteoarthritis Study wurde dafür z.B. ein 60 g von Frey Monofilament verwendet.

Im Zweifel sollte ein schmerzerfahrener Neurologe oder Schmerztherapeut zurate gezogen werden. Keinesfalls ist es so, dass erst bei fortgeschrittener Arthrose mit Mechanismen einer neuropathischen Sensibilisierung zu rechnen ist.

Weitere Differenzialdiagnosen neuropathischer Schmerzverstärkung bei
Arthrose

„Vor die Therapie hat Gott die Diagnose gestellt.“ Bevor die Grundzüge einer antineuropathischen Therapie dargestellt werden, sollen deshalb einige Differenzialdiagnosen, die ebenfalls zu einer neuropathischen Schmerzkomponente führen könne, kursorisch dargestellt werden. Aus ihnen können sich relevante Änderung der therapeutischen Strategie, mitunter auch neue kausale Therapieansätze ergeben.

Arthroseschmerz und
Polyneuropathie

Eine Polyneuropathie muss nicht sehr ausgeprägt sein, um über eine neuropathische Schmerzkomponente einen Arthroseschmerz zu verstärken. Zum Teil ist sie vorher klinisch überhaupt nicht relevant in Erscheinung getreten. Speziell bei Vorhandensein einer sog. small fiber-Komponente, also einer Schädigung im Bereich der schmerz- und temperaturleitenden Nervenfasern, werden neuropathische Sensitivierungen begünstigt und zwar nicht nur in den Arealen, die klinisch am deutlichsten betroffen sind (Füße, Unterschenkel, Hände), sondern im gesamten Körper, da es sich bei Polyneuropathien in der Regel um systemische Erkrankungen handelt. Da small fiber-Beteiligungen bei Polyneuropathie und insbesondere eine isolierte small fiber-Neuropathie nicht immer leicht zu diagnostizieren sind, ist eine neurologische Konsultation bei der Abklärung ungewöhnlich ausgeprägter arthrotischer Schmerzen ratsam. Eine unauffällige Neurografie schließt übrigens das Vorliegen einer small fiber-Neuropathie keineswegs aus. Ohne eine gezielte Überprüfung der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung und ggf. eine Hautbiopsie, wird eine small fiber-Neuropathie auch von Neurologen leicht übersehen.

Neuropathischer
Gelenkschmerz nach
Interventionen

Neuropathische Schmerzen nach invasiven Maßnahmen im Bereich der Gelenke entstehen z.T. erst mit einer zeitlichen Latenz von Wochen bis Monaten, selten Jahren. Bei entsprechender genetischer Prädisposition oder vorbestehender Polyneuropathie können selbst kleine Narben nach Operation oder Arthroskopie durch lokale Hautastläsion zu außergewöhnlich intensiven neuropathischen Schmerzen führen, die nicht nur unter Belastung zunehmen, sondern typischerweise auch in der Ruhe nach Belastung oder vor dem Einschlafen. Da die kleinen Narben auf den ersten Blick meist völlig unauffällig aussehen und sich sensibilisierte Areale oft nur mit gezielter Untersuchung finden lassen, wird diese Bagatellursache häufig übersehen.

Auffälliger wird eine neuropathische Schmerzkomponente, wenn es periinterventionell zu einer Kompromittierung von Nervengewebe gekommen ist (z.B. durch Zug, Quetschung, Blutung) mit entsprechenden neurologischen Defiziten. Auch hier kann sich nach dem primären Verletzungschmerz eine sekundäre neuropathische Schmerzkomponente einstellen und in den Folgewochen, -monaten oder -jahren weiter steigern. Die Änderung der Wesensgrundlage des Hauptschmerzes im Zeitverlauf ist im Nachhinein anamnestisch nicht immer leicht nachzuvollziehen. Je frühzeitiger eine neuropathische Dynamik entdeckt wird, desto effektiver kann eine weitere Schmerzsteigerung und -chronifizierung verhindert werden.

Schmerzinterferenz durch eine lokale neuropathische Komobidität

Differenzialdiagnostisch ebenfalls bedeutsam sind Überschneidungen eines Arthoseschmerzes mit Schmerzen, i.R. anderer neurologischer Erkrankungen im gleichen Körperareal. An diese Möglichkeit muss gedacht werden, wenn die Schmerzausprägung und -Dynamik und/oder die Symptomkombination ungewöhnlich ist, z. B. Gelenkschmerzen mit zusätzlicher Angabe von Muskelschmerzen, hinzutretenden Paresen, Parästhesien, Pelzigkeit, brennenden oder drückenden Fehlempfindungen im betroffenen Areal oder distal davon. Derartige Sensibilitätsstörungen können so im Hintergrund der Beschwerdesymptomatik stehen, dass speziell danach gefragt und in der körperlichen Untersuchung gezielt gesucht werden muss. Typische Ursachen dafür sind Mono- und Polyneuritiden, besonders aber Neuritiden des Plexus lumbosacralis und Plexus zervikobrachialis. Schmerzüberlagerungen speziell im Bereich des Schulter- oder Ellenbogengelenkes oder auch im Bereich des Iliosakral-, Hüft- und/oder Kniegelenkes sehen wir hier bei therapieresistenten Schmerzen relativ häufig.

Diese entzündlichen, zum Teil multiplexartig auftretenden Affektionen des peripheren Nervensystems treten gelegentlich spontan auf, häufiger aber nach körperlicher Belastung, postinfektiös oder auch postvakzinal, in letzter Zeit entsprechend auch häufiger nach Corona-Infektion oder -Impfung. Nach meist subakutem Beginn und einer Schmerzexazerbation über Tage bis Wochen (mit oder ohne nachfolgender Parese) gibt es viel häufiger als angenommen auch Verläufe, die über Monate und Jahre fluktuieren, rezidivieren und sogar chronifizieren. Eine intensivierte Physiotherapie führt dann häufig sogar zur Symptomverstärkung.

Diese oft immunogen vermittelten Nervenentzündungen können primär auch durch operative Eingriffe (z.B. an Schulter, Wirbelsäule, Hüfte, Knie) induziert werden, meist mit einer Latenz von wenigen Tagen bis einigen Wochen (z.B. während der Rehabilitation bei vermehrter Beübung) – eine schwierige Differenzialdiagnose, insbesondere, wenn sich die neue Schmerzsymptomatik mit dem Beschwerdebild, das zur Operation geführt hat, überschneidet (z.B. Hüft-TEP und Neuritis des Plexus lumbosakralis). Erfahrungsgemäß ist hier nur durch aufwendige neurologische und elektrophysiologische Untersuchungen eine diagnostische Klärung möglich. Bei Vorliegen einer entzündlichen Nervenaffektion kann eine kausale immunmodulatorische Therapie zu einer relevanten Verbesserung der Schmerzsymptomatik führen, mitunter selbst in Fällen mit bereits seit Jahren bestehender Schmerzsymptomatik. Entsprechend sollten ungewöhnlich resistente oder sogar progrediente Schmerzzustände trotz lege artis durchgeführter Operation nicht zuletzt an diese Differentialdiagnosen denken lassen. Dies gilt insbesondere auch für Patienten mit Diabetes mellitus, die eine überdurchschnittliche Prädisposition zur Ausbildung von Immunneuritiden aufweisen. Auch die bekannte diabetische Amyotrophie ist letztlich nichts anderes, als eine Neuritis des Plexus lumbosacralis i.R. einer Mikrovaskulitis.

Pragmatische
antineuropathische Therapie

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