Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Arthroseschmerz

Sie haben im normalen Gelenk eine hohe Erregungsschwelle für mechanische Reize. Im normalen Gelenk werden sie nur durch Bewegungen außerhalb des Arbeitsbereiches (z.B. Überdrehungen) aktiviert (hierbei tritt auch sofort heftiger Schmerz auf). Bei Entzündungsprozessen werden Gelenknozizeptoren „sensibilisiert“, d.h. ihre Erregungsschwelle wird abgesenkt, sodass schon bei geringen Reizen (z.B. Bewegungen im Arbeitsbereich) Aktionspotentiale ausgelöst werden („periphere Sensibilisierung“) [24, 27]. In experimentellen Arthrosemodellen wurde, bei einigen Unterschieden im Detail, eine Sensibilisierung peripherer Nozizeptoren gefunden [14, 28]. Patienten klagen über Schmerzen bei normalen Bewegungen. Bei der QST ist eine Abnahme der „Pressure Pain Threshold“ (PPT) am Gelenk zu finden [1]. Geschädigte Nozizeptoren können auch spontan Aktionspotentiale bilden (s.u.).

Die nozizeptiven Nervenzellen im Rückenmark, Thalamus und Gehirn

Sie verarbeiten den nozizeptiven Eingang aus der Peripherie. In diesen zentralnervösen Zellen kann durch neuroplastische Vorgänge eine „zentrale Sensibilisierung“ entstehen. Hierbei antworten die Nervenzellen verstärkt auf den nozizeptiven Eingang, d.h. das Zentralnervensystem verstärkt die Schmerzen. Eine zentrale Sensibilisierung bei Arthrose zeigt sich durch mehrere Charakteristika: Häufig ist der Schmerz nicht auf das betroffene Gelenk beschränkt, sondern wird als ausgedehnt über weitere Bereiche empfunden [24, 27]. Auch eine hohe Schmerzintensität ist ein Hinweis. Bei QST-Testung ist die PPT auch gelenkfern gesenkt, z.B. am Sternum. Ein weiterer Test ist die „Temporal Summation“ (TS). Hierbei wird ein Testreiz in Abständen von ca. 1s wiederholt. Typischerweise kommt es hierbei zu einer sukzessiven Steigerung der Schmerzintensität vom ersten bis zum zehnten Reiz. Bei zentraler Sensibilisierung ist die TS stärker ausgeprägt als bei gesunden Menschen [1].

Absteigende Hemmsysteme

Hierunter versteht man Nervenbahnen, die vom Hirnstamm absteigen und auf der spinalen Ebene die nozizeptive Verarbeitung dämpfen (deszendierende Hemmung). Bei intakter Hemmung antworten Nervenzellen des Rückenmarks weniger stark auf den nozizeptiven Eingang, und daher dämpft dieses endogene Hemmsystem Schmerzen. Eine im Patienten testbare Variante ist die Überprüfung der „Conditioned Pain Modulation“ (CPM). Hierbei wird geprüft, ob die Schmerzantwort auf einen noxischen Testreiz an einer Körperstelle durch einen schmerzhaften Reiz an anderen Körperstellen abgeschwächt wird. Hintergrund ist, dass ein schmerzhafter Reiz generell die absteigende Hemmung aktiviert, sodass nachfolgende Schmerzreize weniger stark empfunden werden. Bei chronischem Arthroseschmerz ist, wie bei anderen chronischen Schmerzen, die absteigende Hemmung häufig geschwächt, wodurch die Rückenmarkzellen stärker auf den noxischen Eingang aus der Peripherie reagieren können [1, 15]. Die CPM kann nach künstlichem Gelenkersatz und dadurch erzielter Schmerzfreiheit wieder hergestellt werden [15].

Neuronale Schaltkreise der
kognitiven und emotionalen Verarbeitung

Das Gehirn bewertet Reize und Vorgänge nach ihrer Relevanz. Dies findet in einem umfassenden kortikalen und subkortikalen Netzwerk statt. Schmerzempfindungen haben nicht nur eine sensorisch-diskriminative Komponente (Wo ist der Schmerz?, wann ist er aufgetreten?, wie stark ist er? etc.), sondern eine emotional-affektive Komponente (eine Furcht- und Leidenskomponente). Letztere wird in den Strukturen des limbischen Sytems, z.B. in der Insula und im Gyrus anterior cinguli (ACC) erzeugt. Gehirn-Imaging-Studien zeigen Aktivierungen [11, 16] und morphologische Veränderungen in solchen Arealen [12], was darauf hinweist, dass Patienten mit chronischen Arthroseschmerzen auch auf dieser Ebene Veränderungen haben können. Diese Vorgänge sind reversibel, wenn durch Gelenkersatz der Schmerz beseitigt wird [24]. Da die kognitive und emotionale Verarbeitung personenspezifische Merkmale einbezieht, wird der Schmerz am besten durch ein biopsychosoziales Modell beschrieben, in dem neben den nozizeptiven Vorgängen auch psychologische und soziale Aspekte relevant sind. Diese Faktoren haben zweierlei Bedeutung. Erstens, Patienten verarbeiten ihre Schmerzen unterschiedlich. So neigt ein Teil der Patienten zur Katastrophisierung, was die Schmerzproblematik verschärft. Zweitens, Schmerztherapie muss den ganzen Menschen umfassen und Komorbiditäten berücksichtigen (z.B. Depression). So ist neben medikamentösen Maßnahmen z.B. auch die Edukation der Patienten erforderlich, in der mit dem Patienten über das Krankheitsbild, therapeutische Ziele und Maßnahmen ausführlich gesprochen wird. Außerdem bilden diese kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozesse auch eine rationale Basis für die schmerzlindernde Wirkung von Verfahren, die der Komplementärmedizin zugeordnet werden, z.B. Akupunktur [29].

Eine neuropathische
Schmerzkomponente bei
Arthroseschmerzen

Wie oben angedeutet, kann eine neuropathische Schmerzkomponente hinzukommen. Hinweise auf eine neuropathische Schmerzkomponente kann der Schmerzfragebogen „PainDetect“ bieten. Hierbei werden Besonderheiten der Schmerzempfindung abgefragt. In experimentellen Arthrosemodellen konnten Anzeichen neuropathischer Mechanismen gefunden werden, z.B. das Auftreten des Markers ATF3 in sensorischen Neuronen. ATF3 wird exprimiert, wenn in geschädigten Nervenzellen Regenerationsvorgänge ablaufen[13]. Eine neue Übersichtsarbeit gibt an, dass bei Kniearthrose 40 % der Patienten eine neuropathische Komponente aufweisen, bei Hüftgelenkarthrose 29 % [12]. Die genaue Ursache der neuropathischen Schmerzen ist allerdings unklar. Ob die o.g. Zerstörungen des subsynovialen Kapillar- und Nervengeflechts [8] dafür verantwortlich sein könnten, ist unbekannt. Zu bemerken ist, dass auch Aussprossungen von Nervenfasern beschrieben wurden. In einigen osteochondralen Kanälen, die sich in Arthrosegelenken zwischen der subchondralen Knochenschicht und dem darüber liegenden Knorpel ausbilden, wurden sowohl Blutgefäße als auch vereinzelt Nervenfasern gefunden [2]. Ob diese wenigen neuen Nervenfasern in den unteren Knorpelschichten einen signifikanten Beitrag für Arthroseschmerzen ausmachen, ist unbekannt. Die Lysophosphatidsäure (LPA) wurde als Bindeglied zwischen Arthrose und neuropathischem Schmerz ins Spiel gebracht. In der Synovialflüssigkeit steigt die LPA bei Intensivierung der Erkrankung an. Experimentell verursacht LPA im Gelenk eine Abnahme des Myelinisierungsgrades von Nervenfasern und eine ATF3-Hochregulation, und eine pharmakologische Blockade der LPA-Rezeptoren hemmt den Schmerz [18].

Molekulare Vorgänge der Schmerzentstehung im
Gelenk

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