Arzt und Recht - OUP 04/2014

Arzthaftung: Thromboseprophylaxe nicht auf Verdacht

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Fachanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe

Einleitung

Gemäß § 630a Abs. 2 BGB besteht die ärztliche Pflicht, die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu leisten. Die Grenzen dieser Pflicht sind bei der Behandlung akuter Beschwerden tendenziell klarer, als bei der Frage nach dem Erfordernis vorbeugender Maßnahmen gegen zukünftige Beschwerden.

Während bei der Behandlung akuter Beschwerden der aktuelle Status quo zugrunde gelegt werden kann, ist bei der Entscheidung über das Erfordernis vorbeugender Maßnahmen auch eine Prognose anzustellen, wobei die mit den konkreten vorbeugenden Maßnahmen verbundenen Risiken im Rahmen einer Abwägung einzubeziehen sind. Untätigkeit kann genauso zur Haftung führen, wie übermäßige Behandlung, soweit dem Patienten ein Schaden entsteht (Verletzung, Verhinderung der Gesundung, überflüssige Belastung der Befindlichkeit, etc.).

Der allgemein anerkannte fachliche Standard bemisst sich nach dem zum Zeitpunkt der Behandlung aktuellen Stand der medizinischen Forschung. Die Ärztin/der Arzt muss jedoch nicht jede Veröffentlichung sämtlicher Fachzeitschriften der Welt kennen – maßgeblich ist die herrschende Meinung in den gängigen Fachzeitschriften. Diese wird sich auch in den Leitlinien der Fachgesellschaften widerspiegeln, die jedoch lediglich der Orientierung dienen. Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses dienen der Abrechenbarkeit von Leistungen der vertragsärztlichen Versorgung und stellen als solche deshalb ebenfalls lediglich ein Indiz dar. Die Verbindlichkeit von Richtlinien der Ärztekammer ist umstritten. Als Grundsatz in der Praxis kann deshalb an dieser Stelle festgehalten werden: Leit- und Richtlinien dienen als Indizien für den allgemein anerkannten fachlichen Standard; dieser kann jedoch auch weitergehende Anforderungen stellen.

Die Ärztin/der Arzt muss bei dem möglichen therapeutischen Weg größtmögliche Sicherheit, Patienteninteresse auf Befreiung von der Krankheit, Risiken der möglichen Maßnahmen, besondere Sachzwänge des konkreten Falls und Heilungsprognose abwägen. Für eine solche Abwägung im Bereich vorbeugender Maßnahmen (Thromboseprophylaxe) gibt die folgende Entscheidung eine Orientierung.

Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 18.10.2013,
Az. I-26 U 119/12, 26 U 119/12

Zum Sachverhalt

Der Kläger macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche wegen vermeintlich fehlerhafter ärztlicher Behandlung seiner verstorbenen Ehefrau geltend.

Am 26.2.2009 erlitt die Ehefrau des Klägers während eines Skiurlaubs in Italien einen Unfall, bei dem eine Distorsion beider Kniegelenke mit Innenbandläsion im linken Kniegelenk auftrat. Sie wurde noch am Unfallort ärztlich mit zwei Gehhilfen und einer Kniemanschette versorgt. Am 28.2.2009 fuhren der Kläger und seine Ehefrau nach Deutschland zurück. Wegen einer starken Schwellung im Knie suchte die Ehefrau des Klägers am 02.03.2009 die Praxis des beklagten Orthopäden auf. Nach Entfernung der Manschette und Untersuchung stellte der beklagte Orthopäde die Diagnose und überwies die Ehefrau des Klägers zur weiteren Abklärung an eine radiologische Praxis, durch die am 13.03.2009 ein MRT erfolgen sollte. Bereits am 04.03.2009 erlitt die Ehefrau des Klägers jedoch aufgrund einer Thrombose eine Lungenembolie und kollabierte. Sie wurde durch den Notarzt wiederbelebt und mit dem Rettungswagen in das Städtische Klinikum verbracht. Nach Entwicklung eines ausgeprägten Hirnödems verstarb die Ehefrau des Klägers dort am 10.03.2009.

Der Kläger hat Schmerzensgeld, Ersatz der Beerdigungskosten sowie den Ersatz eines Haushaltsführungsschadens mit der Begründung geltend gemacht, der beklagte Orthopäde habe fehlerhaft eine ausreichende Thromboseprophylaxe unterlassen.

Das Landgericht hat nach Einholung eines fachorthopädischen Sachverständigengutachtens und dessen mündlicher Erläuterung die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe den ihm obliegenden Beweis für eine fehlerhafte Behandlung seiner verstorbenen Ehefrau durch den beklagten Orthopäden nicht geführt.

Hiergegen richtete sich die Berufung des Klägers, der sein erstinstanzliches Begehren weiter verfolgte. Zur Begründung trug er vor, wegen der starken Schmerzen, die seine Ehefrau im Knie gespürt habe, hätte die Ursache der Schwellung weiter abgeklärt werden müssen. Daher hätte eine sofortige Kernspinuntersuchung veranlasst werden müssen. Außerdem hätten Gefäßuntersuchungen durchgeführt bzw. angeordnet werden müssen, denn es hätten eindeutige Hinweise auf eine beginnende Thrombose vorgelegen. Da seine Ehefrau seit dem Unfall nicht mobilisiert gewesen sei, hätte ein erhöhtes Thromboserisiko vorgelegen. Es hätte durch eine nichtinvasive Blutuntersuchung, z.B. durch die Bestimmung des D-Dimere-Wertes, das Vorliegen einer Thrombose abgeklärt werden müssen. Eine früh-funktionelle Therapie mit Kniebelastung habe es nicht gegeben, weil es seiner Ehefrau unmöglich gewesen sei, ohne die Hilfsmittel zu gehen. Wegen der eingeschränkten Mobilität habe zumindest ein mittleres Thromboserisiko bestanden, das eine medikamentöse Therapie erforderlich gemacht habe. Der Kläger trug weiterhin vor, es sei nicht berücksichtigt worden, dass seine Ehefrau schon bei dem Arztbesuch über starke Schmerzen und Übelkeit geklagt habe. Sie habe dies gegenüber Zeugen geäußert und auch darauf hingewiesen, dass die Schwellung zugenommen hatte. Es sei aber nur das Knie und die Wade klinisch untersucht worden. Die Thrombose sei aber bereits durch die Anlage des Tutors in Italien entstanden und deshalb behandlungsbedürftig gewesen. Die Abnahme der Orthese sei nicht ausreichend gewesen, um das Risiko zu verringern. Es hätte vielmehr die Mobilisierung seiner Ehefrau sichergestellt werden müssen. Da der beklagte Orthopäde selbst von einer Blutung ausgegangen sei, hätte auch deshalb eine ausreichende Prophylaxe erfolgen müssen. Zudem sei das Alter seiner Ehefrau zu berücksichtigen gewesen. Schon weil sie über 60 Jahre alt gewesen sei, habe ein mittleres Thromboserisiko bestanden. Im Zusammenhang mit der langen Rückfahrt, den Schmerzen und der Schwellung sei sogar von einem hohen Risiko auszugehen gewesen. Es sei deshalb neben einer medikamentösen Therapie auch versäumt worden, Thrombosestrümpfe zu verordnen. Darin liege ein grober Behandlungsfehler.

Aus den Gründen

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