Übersichtsarbeiten - OUP 02/2022

Ausgedehnte Rotatorenmanschettenläsionen
Typische Indikationen und technische Möglichkeiten für ein gelenkerhaltendes Vorgehen

Eric Tille, Philip Kasten, Jörg Nowotny

Zusammenfassung:
Trotz moderner Therapieverfahren stellt die Rekonstruktion von Rotatorenmanschettenmassenrupturen eine Herausforderung in der Schulterchirurgie dar. Die Pathogenese, Rupturmorphologie und das resultierende Funktionsdefizit können erheblich variieren. Nach Anamnese und Beurteilung des biologischen Zustandes hinsichtlich Atrophie, Degeneration und Retraktion muss, in Abhängigkeit von demographischen Charakteristika, klinischen Begleitfaktoren und bestehenden Funktionsansprüchen gemeinsam mit dem Patienten das individuell bestmögliche Verfahren gewählt werden. Dabei kommen schmerzlindernde Verfahren wie das arthroskopische Débridement mit Tenodese oder Tenotomie der langen Bizepssehne ebenso zum Einsatz, wie partielle Rekonstruktionen, die Implantation subakromialer Platzhalter, Patchplastiken (z.B. Superiore Kapselrekonstruktion) und Muskel-/Sehnentransfers (z.B. M. latissimus dorsi, M. trapezius oder M. pectoralis major). Bei fortgeschrittenen Befunden mit begleitender Defektarthropathie kann zudem die Implantation einer inversen Schulterprothese erwogen werden.

Schlüsselwörter:
Massenruptur der Rotatorenmanschette, InSpace® Ballon, partielle Rekonstruktion,
superiore Kapselrekonstruktion, Patchplastik

Zitierweise:
Tille E, Kasten P, Nowotny J: Ausgedehnte Rotatorenmanschettenläsionen. Typische Indikationen und technische Möglichkeiten für ein gelenkerhaltendes Vorgehen.
OUP 2022; 2: 074–079
DOI 10.53180/oup.2022.0074-0079

Summary: Despite modern treatment options, the reconstruction of massive rotator cuff tears remains challenging for shoulder surgeons. Pathogenesis, rupture morphology and the resulting functional deficit can differ greatly. After anamnesis and evaluation of the biological condition in regard to atrophy, degeneration and retraction, an individual treatment concept must be established in accordance with the patient’s demographic criteria, accompanying pathologies and functional demands. Hereby pain reducing procedures such as debridement and tenodesis or tenotomy of the long biceps tendon as well as reconstructive treatment options like partial reconstruction, patch augmentation (i.e. superior capsular reconstruction), implantation of subacromial spacer and muscle-/tendon-transfers (i.e. latissimus dorsi, trapezius- and pectoralis major transfer) represent viable options. Severe findings can be addressed by inverse shoulder arthroplasty.

Keywords: Massive rotator cuff tear, reconstruction, InSpace® Ballon, partial reconstruction, superior capsule reconstruction, patch-augmented rotator cuff surgery

Citation: Tille E, Kasten P, Nowotny J: Extended rotator cuff tears. General indications and joint-preserving technical approaches.
OUP 2022; 11: 074–079. DOI 10.53180/oup.2022.0074-0079

Eric Tille, Jörg Nowotny: UniversitätsCentrum für Orthopädie, Unfall- und Plastische Chirurgie, Dresden

Philip Kasten: Orthopädisch-Chirurgisches Centrum, Tübingen

Einleitung

Die Rotatorenmanschette besteht aus 4 Muskeln. Dem M. subscapularis (SSC), M. supraspinatus (SSP), M. infraspinatus (ISP) und dem M. teres minor (TM). Rotatorenmanschettenläsionen bezeichnen eine partielle (intratendinös, gelenk- oder bursaseitig) oder komplette (transmurale) Kontinuitätsunterbrechung einer oder mehrerer Sehnen. Die Prävalenz symptomatischer Läsionen steigt mit dem Alter stark an (6. Lebensjahrzehnt ca. 25 %, 7. Lebensjahrzehnt ca. 50 %) [1]. Der Anteil von Rotatorenmassenrupturen (RMR) wird dabei mit 10–40 % angegeben, wobei unter diesen der posterosuperiore Sehnendefekt mit Ausdehnung auf die Supraspinatus- und kraniale Anteile der Infraspinatussehne die häufigste Läsion darstellt (Abb. 1) [2]. Insbesondere unter Berücksichtigung des demographischen Wandels und des zunehmenden Funktionsanspruches älterer Patienten sind daher Behandlungsoptionen auch für komplexe Läsionen von hoher Relevanz für den klinischen Alltag.

Erstmals wurden Verletzungen der Rotatorenmanschette 1934 durch Codman hinsichtlich Entität, Diagnostik und Therapie beschrieben [3]. Seitdem hat sich eine differenziertere Betrachtungsweise hinsichtlich Morphologie, Symptomatik sowie Behandlungskonzepten etabliert. Während einfache Rupturen der Rotatorenmanschette, sofern frühzeitig diagnostiziert, in der Regel mit guten Ergebnissen therapiert werden können, stellen ausgedehnte Defekte mit einer Beteiligung mehrerer Sehnen weiterhin eine Herausforderung für die moderne Schulterchirurgie dar. Massenrupturen werden dabei inhomogen definiert und klassifiziert. Cofield et al. sprechen von einer Massenruptur bei einer anterio-superioren Rupturausdehnung von > 5 cm [4]. Demgegenüber klassifiziert Gerber et al. die Massenruptur als vollständige Ruptur von 2 oder mehr Sehnen der Rotatorenmanschette [5].

Unabhängig von der Definition kommt es bei ausgedehnten Verletzungen der Rotatorenmanschette häufig zu einem gestörten Kräfteverhältnis der gelenkstabilisierenden Muskulatur der Schulter (engl. „force couple“) [6]. Neben der Einteilung nach Lokalisation und Anzahl beteiligter Sehnen können Rupturen der Rotatorenmanschette nach ihrem Verlauf als chronisch, akut oder akut auf chronisch klassifiziert werden. Chronische Rupturen sind dabei in der Regel auf degenerative Prozesse und rezidivierende Mikrotraumata zurückzuführen. Akute Rupturen entstehen indes im Rahmen eines direkten oder indirekten Traumas. Akut auf chronisch wiederum beschreibt Läsionen, welche über einen längeren Zeitraum entstanden und klinisch stumm oder kompensiert sind und durch ein plötzliches Ereignis aggraviert oder klinisch manifest werden. Bleibt die Läsion unbehandelt, kann es zu einer Funktionsstörung mit zunehmender Dezentrierung des Gelenkes kommen. Es resultiert ein Gelenkverschleiß mit Humeruskopfhochstand sowie einer zunehmenden Deformierung der Gelenkflächen und des Acromions, der sog. Azetabularisierung. Dies wird als Defektarthropathie bezeichnet. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, ist eine frühzeitige Diagnosestellung mit nachfolgender individualisierter Therapie empfehlenswert.

Diagnostik

Charakteristische Symptome einer
Rotatorenmanschettenruptur sind Schmerzen bzw. schmerzhafte Bewegungseinschränkungen mit einer zunehmenden Intensität bei Über-Kopf-Bewegungen, Nachtschmerzen, einer Kraftminderung sowie resultierend einer eingeschränkten Lebensqualität. Das klinische Bild kann dabei von Beschwerdefreiheit mit vollständiger Beweglichkeit bis zur Pseudoparalyse differieren. Die Anamnese muss diese Charakteristika ebenso erfassen wie ein mögliches ursächliches Trauma, das bisherige Aktivitätsniveau (berufliche Tätigkeit und sportliche Aktivität), Risikofaktoren (Nikotinabusus) und eventuell bestehende Begleitpathologien. Weiterhin sollten Schmerzcharakter und -intensität (z.B. visuelle Analogskala,) sowie der Verlauf (Crescendo/Decrescendo) beurteilt werden. Hiernach erfolgt die klinische Diagnostik. Diese umfasst die Inspektion nach sichtbaren Muskelatrophien und die Palpation nach lokalen Druckdolenzen. Wichtig ist die Objektivierung des aktiven und passiven Bewegungsumfangs. Anschließend sollten zur weiterführenden Differenzierung spezifische Tests der einzelnen Muskeln der Rotatorenmanschette (z.B. SSP: Jobe-Test, drop-arm Test, SSC: Bear-hug Test, Belly-press Test und ISP: Kraft für ARO in 0°-Abduktion und 90° gebeugten Ellenbogen, Hornblower-Zeichen) durchgeführt werden.

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