Originalarbeiten - OUP 02/2013

Begutachtung sozialmedizinisch relevanter Aspekte der Schulter

Der Fachgutachter gibt eine Bewertung des verbliebenen Restleistungsvermögens ab: Hier wird zunächst überprüft, ob zeitliche (quantitative) Beeinträchtigungen gegeben sind (vollschichtig, d.h. über 6 Stunden tgl. körperlich einsetzbar/nur noch teilschichtig 3–6 Stunden tgl. belastbar/nur noch weniger als 3 Stunden tgl. auf dem Arbeitsmarkt belastbar). Im Weiteren erfolgt eine sozialmedizinische Überprüfung, ob vorübergehend oder auf Dauer von qualitativen Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens auszugehen ist (schwere/mittelschwere/leichte Tätigkeiten; spezielle Einschränkungen bzgl. der Körperhaltung wie Überkopfarbeiten, des Hebens und Tragens von Lastgewichten oder des beruflichen Umfeldes, mögliche Notwendigkeit längerer Arbeitspausen u.a.m.). Abgegeben wird die Einschätzung des negativen Leistungsbildes (Was kann der Patient nicht mehr?) sowie eines positiven Leistungsbildes (Was ist dem Patienten nicht nur vorübergehend noch zuzumuten?). Hier spielen auch die Befunde der bildgebenden Diagnostik eine wichtige Rolle.

Eine Beeinträchtigung der Wegefähigkeit ist bei Schulteraffektionen in der Regel nicht anzunehmen.

Im Falle degenerativer Veränderungen oder auch nach operativen Eingriffen im Bereich der Schulter ist grundsätzlich auf Dauer von qualitativen Beeinträchtigungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen: Schwere und ausschließlich mittelschwere Arbeitsabläufe sind meist nicht mehr zumutbar, auch keine längeren Tätigkeiten mit häufiger Überkopfhaltung der Arme. Positiv ausgedrückt ist bei den meisten Patienten nach Abschluss der ärztlichen Behandlung und der Rehabilitation wieder von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für leichte bis zumindest gelegentlich mittelschwere Arbeitsabläufe auszugehen.

Gesetzliche
Unfallversicherung

Die gesetzliche Unfallversicherung (Träger: Berufsgenossenschaften) entschädigt – im Falle eines Unfallgeschehens während der Arbeit oder auf dem Hin- bzw. Rückweg zur/von der Arbeitsstelle – unfallbedingte bleibende funktionelle Defizite. Eine Berufserkrankung im Bereich der Schulter ist bisher im Rahmen der Berufskrankheitenverordnung nicht vorgesehen. Die Gradierung der bleibenden Störung erfolgt grundsätzlich prozentual (meist in 10er-Schritten) als sog. Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE); die jeweilige Höhe ist tabellarisch vorgegeben.

Im Falle bleibender posttraumatischer Störungen im Bereich des Schultergelenks werden in erster Linie fortbestehende Funktionseinschränkungen (vor allem Anteversion, Abduktion und Rotation) berücksichtigt, des weiteren persistierende Instabilitäten, eine reduzierte muskuläre Kraftentfaltung im Oberarmbereich, evtl. neurologische Defizite (z.B. N. axillaris), periphere Umlaufstörungen sowie letztendlich die radiologisch-morphologische Situation. Das subjektiv berichtete Ausmaß fortbestehender Beschwerdebilder in Ruhe oder unter Belastungsbedingungen spielt ebensowenig eine Rolle wie die Art der beruflichen Tätigkeit (maßgeblich ist lediglich der sog. allgemeine Arbeitsmarkt).

Unterschieden werden eine (meist großzügigere) Einschätzung der MdE zum Zeitpunkt der Beendigung des primären Heilverfahrens mit dem erstmaligen Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit sowie die oft strengere Bewertung unter sog. Dauerrenten-Gesichtspunkten 3 Jahre nach dem Unfallgeschehen. Die MdE im Falle leichterer funktioneller Beeinträchtigungen liegt bei etwa 10 %; eine rentenrelevante und damit auszahlfähige MdE von 20 % wird nur bei deutlicheren Bewegungsstörungen zugebilligt, bei erheblichen Störungen auch von 30–40 %. Eine gut funktionstüchtige Endoprothese bringt immer eine MdE von 20 % mit sich. Eine höhere MdE von 50 %, die dann mit der Situation einer Unterarmamputation gleichzusetzen wäre, ist allenfalls in Ausnahmefällen (hochgradige Instabilität, persistierende Infektion u.ä.) begründbar (s. Tab. 2).

Zu späteren Zeitpunkten muss bei beabsichtigter Höherstufung bzw. Reduzierung der MdE im weiteren Verlauf jeweils eine wesentliche Verschlechterung bzw. Verbesserung der klinischen Situation im Vergleich zur letzten maßgeblichen Begutachtung belegt werden.

Die finanzielle Entschädigung erfolgt durch eine monatliche Rententeilzahlung, deren Höhe sich am zuletzt verdienten Gehalt orientiert. Eine zeitlich begrenzte oder dauerhafte Abfindung (sog. Kapitalisierung) ist möglich.

Private Unfallversicherung

Im Rahmen des privaten Unfallversicherungsrechts wird für die Haltungs- und Bewegungsorgane die sog. Invalidität im Sinne dauerhaft fortbestehender postakzidenteller individueller Beeinträchtigungen der körperlichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit eingeschätzt, wobei – je nach Versicherungsvertrag – in erster Linie die letzte berufliche Tätigkeit zugrunde gelegt wird. Für die oberen Extremitäten gilt hier die sog. Gliedertaxe (Angabe des bleibenden Funktionsdefizits als Bruch, z.B. 1/7, 2/3, 3/4 Armwert), nur für die Wirbelsäule erfolgt eine prozentuale Gradierung.

Die gutachterliche Bewertung sollte nicht vor einem Jahr und nicht später als 2 Jahre nach dem Unfallgeschehen in die Wege geleitet werden. Die gewährte finanzielle Entschädigung erfolgt in aller Regel – unter Zugrundelegung der zuvor festgelegten vollen Versicherungssumme – als einmalige pauschale Abfindung (auch im Hinblick auf möglicherweise sich zukünftig noch ergebende Spätfolgen), nicht als monatliche Rentenzahlung.

Die gutachterlich relevanten Kriterien entsprechen denen der gesetzlichen Unfallversicherung (maßgeblich sind in erster Linie objektiv fassbare Störungen). Im Falle eines posttraumatisch erforderlich gewordenen endoprothetischen Schultergelenkersatzes sollte unter Berücksichtigung des Lebensintegrals des betroffenen Patienten selbst bei optimaler klinischer Situation von einem Invaliditätsfaktor (Armwert) von etwa 5/14 bis 3/7 ausgegangen werden (s. Tab. 2).

Schwerbehindertengesetz

Das Schwerbehindertengesetz beinhaltet Regelungen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme spezieller staatlich gewährter Vergünstigungen für bleibend Behinderte, so z.B. Kündigungsschutz, Einkommensteuerersparnis, KFZ-Steuernachlass, evtl. unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr, Zusatzurlaub u.a.m.

Von einer Schwerbehinderung ist dann auszugehen, wenn der sog. GdB (Grad der Behinderung als absolute Zahl, nicht als Prozentangabe!) 50 oder mehr beträgt. Bei einem GdB von 30 besteht die Möglichkeit der sog. Schwerbehinderten-Gleichstellung, um den Arbeitsplatz des Betroffenen durch das Arbeitsamt zu sichern, wenn infolge der gegebenen Behinderung ein geeigneter Arbeitsplatz ansonsten nicht mehr gefunden oder erhalten werden kann.

Die Einschätzung des GdB – abgestuft in 10er-Schritten – erfolgt durch die Versorgungsämter bzw. Landesversorgungsämter individuell, wobei hier vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung tabellarisch aufgelistete Anhaltspunkte publiziert wurden (2004). Diese berücksichtigen – basierend auf den schriftlichen Mitteilungen der behandelnden Ärzte in erster Linie persistierende (nicht nur vorübergehende) funktionelle Defizite, Instabilitäten, eine beeinträchtigte muskuläre Kraftentfaltung sowie die radiologische Situation (Ausmaß der degenerativen Veränderungen, Implantatsitz), nicht den Ausprägungsgrad subjektiv empfundener Beschwerdebilder. Im Falle einer korrekt einliegenden Alloarthroplastik ohne wesentliche bleibenden Defizite liegt der Einzel-GdB bei zumindest 20 (s. Tab. 2).

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