Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016

Behandlungsalgorithmus Ellenbogenluxation

Als weiteres Verletzungsmuster ist die von O´Driscoll propagierte „Ringtheorie“ weit verbreitet [16]. Beim Sturz kommt es bei am Boden fixierter Hand durch eine Rotation des Oberkörpers neben einer axialen Kompression außerdem zu einem Valgusstress. Es reißt zunächst der laterale Bandkomplex, dann die ventrale Kapsel und schließlich der mediale Kollateralkomplex. Die Folge ist die vollständige Gelenkluxation, die in 3 Unterkategorien eingeteilt wird:

  • 1. Stadium 3A: Ruptur aller lateralen und medialen Bandstrukturen mit Ausnahme des AMCL-Bündels; Pivotieren des Gelenks um das intakte AMCL
  • 2. Stadium 3B: Komplettruptur des MCL-Komplexes; Valgus-, Varus-, und rotatorische Instabiltät
  • 3. Stadium 3C : Vollständige Dissoziation aller muskulo-ligamentären Verbindungen des Humerus mit dem Unterarm; Reluxation des Gelenks bis 90° Flexion; sichere Ruhigstellung nur in > 90° Beugestellung gewährleistet

Klinische Stabilitätsprüfung

Nach der geschlossenen Gelenkreposition wird mit Hilfe des Bildverstärkers (BV) die Reluxationstendenz sowie die Varus- und Valgusstabilität bewertet und dokumentiert. Die in den meisten Fällen für die Reposition notwendige Analgosedierung bietet dem Untersucher die Möglichkeit, isoliert die ligamentäre Bandstabilität des Ellenbogens zu prüfen, da die muskuläre Gelenkspannung durch die Medikamentengabe aufgehoben ist.

Zur Beurteilung der Integrität der gelenkübergreifenden Muskelgruppen (Mm. biceps und brachialis, M. triceps, Extensor-Supinator-Muskelgruppe und Flexor-Pronator-Muskelgruppe) erfolgt eine dynamische Stabilitätsprüfung (ggf. auch mittels BV) am wachen Patienten im Intervall von 3–5 Tagen. Dabei wird der Patient aufgefordert, den Ellenbogen aktiv zu beugen und zu strecken. Bewegt der Patient schmerzfrei bis zu einer strecknahen Stellung (mindestens 30° oder < 30° Extension) und ohne „Luxationsangst“, kann von einer guten Gelenkzentrierung und Stabilisierung durch die Muskultur ausgegangen werden. Findet sich im Rahmen dieser zweiten Untersuchung eine großflächige, subkutane Einblutung medial oder lateral, ist dies häufig hinweisend für eine höhergradige Muskelverletzung. Vor allem diese zweite aktive Stabilitätsprüfung ist wegweisend für das weitere Therapieregime.

Radiologische
Stabilitätskriterien

Folgende radiologische Zeichen, welche indirekt Hinweise auf eine Gelenkinstabilität geben, sollten in der Röntgenkontrolle nach der Reposition Beachtung finden:

eine Asymmetrie der Gelenklinie („river delta sign“) in der a.p.-Aufnahme bedingt durch eine medialen oder laterale Instabilität oder durch eine Koronoidfraktur,

das sog. „drop sign“: vermehrter ulnohumeraler Abstand > 3 mm im seitlichen Strahlengang als Zeichen einer persistierenden Gelenkinstabilität [17],

eine nach dorsal verschobene Radius-Capitulum-Linie (Stoeren-Linie) in der Seitaufnahme als Anzeichen einer lateralen Bandinstabilität,

eine knöcherne Impression dorsal am Capitulum („Osborne-Cotterill-Lesion“ [18]) als indirekter Hinweis einer lateralen Instabilität.

Fragliche knöcherne Begleitverletzungen sind durch eine Computertomografie (CT) zu verifizieren, da insbesondere Frakturen des Proc. coronoideus im nativen Röntgenbild häufig unterschätzt oder fehlinterpretiert werden. Als Folge können Instabilitäten, Gelenkfehlstellungen und arthrotische Veränderungen persistieren.

MRT-Diagnostik

Entsprechend o.g. Verletzungsmechanismen ist bei der „einfachen“ Ellenbogenluxation sowohl von einer Ruptur des lateralen als auch des medialen Kapsel-Band-Komplexes auszugehen. Demzufolge dient eine MRT-Untersuchung nicht primär dazu, Kapsel-Band-Läsionen zu detektieren, sondern vor allem dazu, fragliche Inkongruenzen und deren Ursachen (Knorpelfragmente, Weichteilinterponate) zu erfassen [19]. Daher sollte eine MRT-Untersuchung heutzutage in jedem Fall durchgeführt werden, um die weitere Therapieentscheidung treffen zu können. Die Untersuchung muss in strecknaher Stellung des Gelenks durchgeführt werden. Nur so können Inkongruenzen und Bandverletzungen sicher beurteilt werden, da erst in extensionsnaher Stellung durch die fehlende aktive muskuläre Führung eine Subluxation der Gelenkpartner resultiert (Abb. 4).

Arthroskopie
nach Ellenbogenluxation

In jüngster Zeit wird die Arthroskopie als additive Diagnostik nach akuter Ellenbogenluxation zunehmend eingesetzt [20–22]. Obgleich die Arthroskopie aktuell noch kein wissenschaftlich evaluiertes Verfahren nach stattgehabter Ellenbogenluxation darstellt, bietet sie die Möglichkeit der direkten Stabilitätsprüfung der einzelnen Gelenkpartner (humeroulnar, humeroradial, radioulnar), um Bandinsuffizienzen des betroffenen Gelenkabschnitts sicher zu beurteilen. Aufgrund der Formschlüssigkeit des Ellenbogengelenks unter physiologischen Bedingungen ist ein Eindringen mit einem Wechselstab zwischen die jeweiligen Gelenkpartner nur bei Vorliegen einer Bandinsuffizienz bzw. Ruptur überhaupt möglich (Abb. 5).

Konservative versus
operative Therapie

Das therapeutische Ziel nach stattgehabter Ellenbogenluxation ist die Gewährleistung einer ausreichenden Gelenkstabilität für eine frühestmögliche aktive Beübung, um damit sekundäre Bewegungseinschränkungen bzw. eine Gelenksteife zu verhindern. Voraussetzung für eine konservative Therapie ist nach unserem Dafürhalten eine isolierte laterale oder mediale Instabilität und eine sichere aktive, muskuläre Zentrierung des Gelenks innerhalb des funktionellen Bogens.

Die nachfolgend aufgeführten Checklisten und der Algorithmus geben eine Hilfestellung bei der Therapieentscheidung zwischen konservativer oder operativer Behandlung (Abb. 6).

Checkliste:

Konservative Therapie

Geschlossene Gelenkreposition möglich

Keine Reluxationstendenz im funktionellen Bogen zwischen 30° und 130° Flexion

Kongruente Gelenkführung durch aktive muskuläre Kompensation möglich

Ausschluss freier Gelenkkörper oder Weichteilinterponate im MRT

Checkliste: Operative Therapie

Offene Luxationsverletzung

Begleitender Gefäß-Nervenschaden

Keine geschlossene Reposition möglich

Reluxationstendenz innerhalb des funktionellen Bogens

Keine aktive Gelenkzentrierung verifizierbar („Luxationsangst“)

Persistierende Subluxation im MRT durch Weichteilinterponate oder Knorpelfragmente

Extensionsnahe Reluxationstendenz (< 30°) bei Patienten mit hohem funktionellen Anspruch

Bei gleichzeitig vorliegender medialer und lateraler Instabilität ist die sichere Gelenkzentrierung nicht selten nur in einem deutlich reduzierten Bewegungsausmaß (> 30° Extensionslimit) zu gewährleisten. Langzeituntersuchungen beschreiben hohe Raten persistierender Beschwerden und Gelenksteifen nach konservativer Therapie mit längerfristiger Ruhigstellung innerhalb des funktionellen Bogens [23]. Wird also eine kongruente Gelenkartikulation nur durch die Einstellung eines Extensionslimits von 30° oder mehr erreicht, sollte gerade bei Patienten mit sehr hohem funktionellen Anspruch (beruflich oder im Sport) eher das operative Vorgehen indiziert werden. Postoperativ kann dann die funktionelle Beübung im gesamten Bewegungsausmaß des Ellenbogens (nicht nur innerhalb des funktionellen Bogens!) frühzeitig freigegeben werden und so chronischen Instabilitäten und/oder Bewegungseinschränkungen vorgebeugt werden. Allerdings ist diesbezüglich anzumerken, dass für die primäre Stabilisierung einfacher Luxationen in früheren Langzeitstudien kein Vorteil gegenüber einer konservativen Therapie gezeigt werden konnte [24]. Bis heute wurde bislang lediglich eine randomisiert-kontrollierte Studie veröffentlicht [25], die die operative Therapie der konservativen Behandlung nach einfacher Ellenbogenluxation gegenübergestellt hat. Signifikante Unterschiede im funktionellen Outcome konnten dabei nicht gezeigt werden.

Konservative Therapie

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