Übersichtsarbeiten - OUP 10/2012

Behandlungsfortschritte dezentrierter Hüftgelenke durch die sonografische Frühvorsorge – Ergebnisse einer retrospektiven monozentrischen Kohortenstudie 1978–2007

Die Ergebnisse der vergleichenden retrospektiven Analyse der 3 repräsentativen Kohorten (Kohorte 1: N = 80; Kohorte 2: N = 91; Kohorte 3: N = 91) sind in Tabelle 3 übersichtlich synoptisch aufgelistet (Tab. 3).

Der entscheidende Parameter „Alter bei Diagnosestellung bzw. Therapiebeginn“ konnte in den beiden Sonografie-Kohorten 2 und 3 auf 2 Monate im Vergleich zu Kohorte 1 mit 5,5 Monaten vorverlegt werden. Auch 5 weitere Parameter konnten signifikant optimiert werden: Insbesondere konnte durch die sonografische Frühdiagnose die Notwendigkeit vorbereitender Maßnahmen zur geschlossenen Reposition (Overhead und Adduktorentenotomie) fast vollständig zum Verschwinden gebracht werden und persistierende Hüftkopfnekrosen (Grad 2 nach TÖNNIS [13]) wurden nicht mehr beobachtet. Einzig bei der Rate sekundärer Pfannendachkorrekturen konnte keine statistische Signifikanz festgestellt werden.

Diskussion

Der klinisch entscheidende therapeutisch-prognostische Faktor ist die durch die frühe Sonografie ermöglichte frühe definitive pathomorphologische Diagnose; diese bringt einen doppelten Vorteil: Die Pathomorphologie wird in einem frühen Stadium („Prä-Luxation“) entdeckt und kann sich nicht unbemerkt (= klinisch „stumm“) zu einer schweren Dezentrierung „entwickeln“ (DDH = Developmental Dislocation of the Hip); und die notwendige Therapie kann in der Phase der raschesten Spontanreifung vor der 6. Lebenswoche einsetzen und damit am raschesten zu einer Nachreifung führen („Reifungskurve“ nach Tschauner) [14]. Weil die frühe Therapieeinleitung den wichtigsten Prognosefaktor darstellt, ist ein möglichst früher Zeitpunkt der ersten Sonografie anzustreben: In der BRD stellt deshalb die „U3“ mit der 4.–6 Lebenswoche einen tragbaren Kompromiss [15] dar; allerdings darf dann an der Schnittstelle zum behandelnden Orthopäden kein zeitlicher Reibungsverlust mehr auftreten!

In der vorliegenden Langzeitnachuntersuchung bestätigt sich die Vorverlegung des Diagnosezeitpunktes durch die hüftsonografische Vorsorge in statistisch hochsignifikanter Weise (Tab. 3). Erwartungsgemäß und konsequenterweise ist die Rate konservativ erfolgreicher Behandlungen ohne invasive Vorbehandlungen (Overhead oder Adduktorentenotomie) in den beiden Sonografie-Kohorten 2 und 3 statistisch signifikant höher. Umgekehrt verbleiben heute in Screening-Populationen einzig infolge langfristiger intrauteriner Beckenendlage entstandene echte „kongenitale“ Dezentrierungen vom GRAF-Typ 4 im Einzelfall als Indikationen zur offenen Reposition: In unserer Kohorte 2 ist die einzige offene Reposition eine solche intrauterine Beckenendlage gewesen. Die 4 offenen Repositionen in Kohorte 3 sind gezielte „Fremdzuweisungen“ zur Operation aus Ländern und Regionen mit fehlendem sonografischen Screening!

Die vorliegenden Vergleichsdaten eines einzelnen Referenzzentrums vor und nach Einführung der generellen sonografischen Vorsorge in Österreich (1992) decken sich mit Erfahrungen aus der BRD und mit den offiziellen Daten des österreichischen Gesundheitsministeriums: Eine bis 2 offene Repositionen auf 10.000 Geburten [6–8, 16] und die erstaunlich eindeutige Rückläufigkeit funktioneller Beugespreizbehandlungen von primär 12 % auf nunmehr unter 3 % [persönliche Mitteilung von THALLINGER & GRILL 2011]! Der Vorwurf einer Hüftsonografie-induzierten „Überbehandlung“, wie er immer wieder in der angloamerikanischen Literatur als „overtreatment“ [17, 18] postuliert wird, kann zumindest durch die eben zitierten österreichischen Daten widerlegt werden. Die anhaltende Voreingenommenheit in den USA gegenüber einer generellen sonografischen Hüftvorsorge beruht unserer Einschätzung nach vor allem auf 2 Faktoren: Erstens fehlt dort vielfach die methodische Kohärenz der GRAF´schen Klassifizierung und konsequente Standardisierung mit der daraus resultierenden Fehleinschätzung „not reliable; und zweitens lassen die privatwirtschaftlich kalkulierten Tarife für Ultraschalluntersuchungen in den USA ein Screening als „too expensive“ erscheinen.

Unter den Rahmenbedingungen des österreichischen und bundesrepublikanischen öffentlichen Gesundheitswesens führt die sonografische Hüftvorsorge keinesfalls zu einer Kostenexplosion, sondern ist im Gegenteil sehr kosteneffizient [9]; das Geld wird in die frühe sonografische Vorsorge investiert und braucht nicht mehr für die teure (chirurgische) Behandlung ausgegeben werden. Dies ist nicht nur kosteneffizient, sondern auch human, weil den Familien eine Menge psychologischer Belastungen erspart werden.

Schlussfolgerung

Mit unserer eigenen Langzeitnachuntersuchung [11] und den Erfahrungen der frühzeitigen generellen sonografischen Hüftvorsorge im deutschen Sprachraum bestätigen sich die Aussagen des Doyens der deutschen Hüftorthopädie TÖNNIS, der bereits in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in seiner Monografie [13] sinngemäß festgestellt hat: „Heute sind die Vorteile der Frühbehandlung wohlbekannt: bessere Ergebnisse in kürzerer Zeit mit weniger Komplikationen.“

Danksagung

Die Durchführung dieser Langzeitnachuntersuchung wurde großzügig durch die “Deutsche Arthrosehilfe e.V.” gefördert.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Christian Tschauner

Allgemeines und orthopädisches
Landeskrankenhaus Stolzalpe

Abteilung für Orthopädie

A-8852 Stolzalpe

christian.tschauner@lkh-stolzalpe.at

Literatur

1 Graf R. The diagnosis of congenital hip-joint dislocation by the ultrasonic Combound treatment. Archives of orthopaedic and traumatic surgery Archiv fur orthopadische und Unfall-Chirurgie. 1980; 97(2): 117–133. Epub 1980/01/01.

2. Graf R. The ultrasonic image of the acetabular rim in infants. An experimental and clinical investigation. Archives of orthopaedic and traumatic surgery Archiv fur orthopadische und Unfall-Chirurgie. 1981; 99: 35–41. Epub 1981/01/01.

3. Graf R. Ultraschalldiagnostik bei Säuglingshüften. Orthopädische Praxis. 1982; 18: 583–624.

4. Graf R. New possibilities for the diagnosis of congenital hip joint dislocation by ultrasonography. J Pediatr Orthop. 1983; 3: 354–359.

5.Graf R. Ultraschalldiagnostik bei Säuglingshüften. Orthopädische Praxis. 2007; 43: 411–435.

6. Ihme N, Altenhofen L, von Kries R, Niethard FU. [Hip ultrasound screening in Germany. Results and comparison with other screening procedures]. Orthopade. 2008; 37: 541–546,. Epub 2008/05/21. Sonographisches Hüftscreening in Deutschland. Ergebnisse und Vergleich mit anderen Screeningverfahren.

7. von Kries R, Ihme N, Oberle D, Lorani A, Stark R, Altenhofen L et al. Effect of ultrasound screening on the rate of first operative procedures for developmental hip dysplasia in Germany. Lancet. 2003; 362: 1883–1887.

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