Informationen aus der Gesellschaft - OUP 06/2012

Behandlungsoptionen und Perspektiven
60. Jahrestagung in Baden-Baden bot zahlreiche Lösungsansätze für Klinik und Praxis

Wirbelsäulenschmerz, Knie, Infektionen und Sicherheit in Orthopädie und Unfallchirurgie bildeten die Themenschwerpunkte der 60. Jahrestagung, für die der Direktor der Innsbrucker Universitätsklinik für Orthopädie, Univ.-Prof. Prof. Dr. Martin Krismer, die Tagungsleitung übernommen hatte.

Gleich acht Symposien widmen sich den Themen rund um Bandscheibendegenerationen, Skoliosen, Kyphosen, Stenosen und Frakturen. Zum Kongressauftakt ging es unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Andreas Krödel und Prof. Dr. Thomas Niemeyer um Schmerzursachen. Prof. Dr. Ulrich Quint, Hamm, verwies auf den Anstieg an Rückenschmerzen in den vergangenen zehn Jahren von 52 auf 67 Prozent. Er stellte klar, dass mit einem initialen Verschleiß der Bandscheibe (Phasen I und II) mikroskopisch sichtbar zunehmende Zeichen der Degeneration mit einer nachweisbaren Funktionsstörung (ROM, NZ, NZR) einhergehen. Bezüglich der Ergebnisse der operativen Dekompression seien Verbesserungen von 0,36 auf 0,64 innerhalb von 24 Monaten nachgewiesen.

Mit der degenerativen Antero- und Retrolisthesis befasste sich Prof. Dr. Viola Bullmann, Köln. Patienten mit degenerativer Olisthese zeichnen sich durch größere LWS-Lordosen, größerer Pelvic Inzidenz, größeren LWK 4– und 5-VA, kleine Wirbelkörpergröße LWK 4 und eine größere Prävalenz von sagittalen Facettengelenken aus. Bullmann spricht von Instabilität dann, wenn es bei kleinsten Provokationen zu einer Zunahme der klinischen Beschwerden (LBP, ± Radikulopathie, ±Neurologie) komme. Von einer Spinalkanalstenose ist auszugehen bei Claudicatio spinalis-Symptomatik und radikulärer Symptomatik. Bullmanns Therapieausblick besagt, dass Patienten mit präoperativ führendem Beinschmerz mehr von der OP profitieren als solche mit präop Kreuzschmerz. Und: Die Zeit der präop Symptomatik habe keinen Einfluss auf das postoperative Outcome.

Eine Facettengelenksarthrose, so konstatierte Prof. Dr. Andreas Krödel, Essen, sei keine Erkrankung, sondern eine Auswirkung repetitiver Belastungen. Sie könne, müsse aber nicht immer schmerzhaft sein und trete zusammen mit Veränderungen des gesamten Bewegungssegmentes auf. Die Diagnostik ist durch komplizierte Innervation und andere Schmerzursachen erschwert.

Vollendoskopische Dekompressions-OP-Techniken stellte Prof. Dr. Sebastian Rütten, Herne, vor. Indiziert ist der Eingriff bei Symptomen und bestätigten Zeichen einer Radikulopathie, mindestens sechs Wochen persistierender Symptome und korrespondierenden bildgebenden Befunden. Doch mikrochirurgische Techniken führen nicht zu besseren OP-Resultaten, haben aber durch bessere Ausleuchtung und kleinere Zugänge Vorteile, wie Rütten bilanzierte.

In der von Prof. Dr. Raimund Casser, Mainz, moderierten Sitzung über konservative Therapien des WS-Schmerzes wurden injektionsgestützte Verfahren ebenso diskutiert wie physikalische Therapiemaßnahmen. Für den Bereich der chronischen nicht-spezifischen Rückenschmerzen gelte, dass die Bewegungstherapie, aber auch die kognitive Verhaltenstherapie, kurze medikamentöse Interventionen und die biopsychosoziale Gesamtkonzeption, also eine Kombination von Verhaltens- und Bewegungstherapie, bei chronischen Rückenschmerzen wirksam sind. Casser: „Dagegen konnten physikalische Therapiemaßnahmen wie Wärme-/Kältemaßnahmen, Traktion, Laser, Ultraschall, Kurzwelle, Interferenzstrom, Massagen und Korsetts nicht empfohlen werden.“ Casser verwies auf den interdisziplinären Aspekt: Muskelschmerzen könnten auch ursächlich u.a. aus dem rheumatologischen, neurologischen oder psychiatrischen Indikationsfeld stammen.

Komplexe Knieschäden als chirurgische Herausforderung

Von bildgebenden Verfahren über Knieendoprothesen als Primäreingriff bis hin zu Behandlungskonzepten nach Tibiakopffrakturen – das Kniegelenk wurde bereits am ersten Kongresstag detailliert betrachtet. Das Röntgen habe auch bei komplizierten Knieverletzungen keineswegs ausgedient, wie PD Dr. Michael Rieger aus Innsbruck auf der Veranstaltung „Knietrauma bei Erwachsenen“ betonte. Während sich Weichteil- und Gefäßverletzungen am besten per CT bzw. MRT nachweisen ließen, liefere das Röntgen nach wie vor einen guten Überblick und Verlauf. Die Ultraschalldiagnostik spiele dagegen beim „frischen Knietrauma“ eine untergeordnete Rolle.

Prof. Dr. Norbert P. Südkamp, Freiburg, widmete sich den „Tibiakopffrakturen“ und stellte neue Behandlungskonzepte vor. Das Gros dieser Frakturen sei mit um die 60 Prozent auf Verkehrsunfälle zurückzuführen, Stürze im Haushalt folgten mit rund 20 Prozent. Bei der Versorgung komme es vor allem auf die anatomische Rekonstruktion der Gelenkfläche und absolute Stabilität an. Als „eine chirurgische Herausforderung“ bezeichnete Prof. Dr. Dieter Kohn, Homburg/Saar, die sogenannten Multiligamentverletzungen. Meniskus, Knochen, Nerven und Gefäße seien mitverletzt. Deshalb komme der Gefäßversorgung des Unterschenkels höchste Bedeutung zu. Bei Vernachlässigung drohe der Verlust des Unterschenkels, warnte er.

Ist die primäre Endoprothese nach Trauma die OP der Wahl für ältere Patienten? Das untersucht Prof. Dr. Gunther Hofmann aus Halle. Bereits 30 ältere Menschen seien in seiner Klinik entsprechend versorgt worden. Ein Beispiel: Eine 59-jährige Patientin verlor in Folge eines Unfalls beide Kniegelenke. Bereits im Schockraum entschieden Hofmann und sein Team sich für „die Flucht nach vorn“, also für den Primäreingriff. Ergebnis: Die Patientin konnte nur kurze Zeit nach der Insertion wieder laufen – und zwar ohne Krücken.

Protheseninfektionen sind der Super-GAU der Endo-
prothetik

Gleich zwei Symposien beschäftigten sich am ersten Kongresstag mit dem Thema Infektionen. Dabei zeigten sich unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema. Protheseninfektionen sind der Super-GAU der Endoprothetik“, fasste Prof. Dr. Heiko Reichel, Ulm, in seiner kurzen Einführung treffend zusammen. Und die verschiedenen Kollegen gehen unterschiedlich gegen diesen „Größten Anzunehmenden Unfall“ vor. Eines zeigte sich am Ende des ersten Kongresstages und nach zwei Infektionssymposien: „Der Kampf gegen Infektionen erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit“, wie Prof. Dr. Christof Wagner, Ludwigshafen, in seinem Vortrag über „Biofilme – die „heimlichen Herrscher der Welt“ mit Nachdruck betonte.

Deutlich wurde auch, dass die richtige Diagnostik der Protheseninfektion entscheidend ist. Bei klinischem Verdacht empfiehlt Prof. Dr. Peter E. Müller, München, wiederholte Mikrobiologie plus Biopsie und Histologie. Erst wenn man wisse, mit welchen Keimen man es zu tun habe, könne entsprechend gehandelt werden.

Die Therapiestrategien bei periprothetischen Infektionen fasste Prof. Dr. Andrea Meurer, Frankfurt/Main, zusammen. Erforderlich sei dabei zunächst ein kombiniertes chirurgisch-konservatives Vorgehen. Der Prothesenerhalt, ein einzeitiger oder zweizeitiger Prothesenwechsel seien von der Zeitdauer, dem Erreger und verschiedenen Patientenfaktoren abhängig. Meurer empfiehlt zudem eine systematische Antibiotikatherapie, begleitend für alle Verfahren. Man könne auch sein eigenes Antibiotikamittel individuell zusammenstellen, betonte sie. „Aber denken Sie an die Aufklärung des Patienten, wenn Sie ein Medizinprodukt verändern.“

Blieb nur noch die Frage zu klären, ob man beim Wechsel nach einem Infekt einzeitig oder zweizeitig vorgehen sollte. Über diese spannende Frage entstand eine lebhafte Diskussion im Auditorium. Für die Referenten war die Antwort relativ klar: Die einen empfehlen, dass der einzeitige Wechsel bei infizierten Knieteilendoprothesen Standard werden sollte (Dr. Jean-Yves Jenny, Straßburg), die anderen begründen dieses Votum mit der deutlich höheren Infektionsrate von mehr als 90 Prozent bei zweizeitigem Vorgehen (Dr. Heiko Spank, Greifswald).

Dass die Situation nicht besser wird, je größer das Implantat ist, zeigten Dr. Peter Herrmann, Ludwigshafen, und Prof. Dr. Rudolf Ascherl, Chemnitz, in Vorträgen zur Infektion von Megaimplantaten von Knie- und Hüfttotalprothesen. „Die Revisionszahlen werden hier immer größer“, lautet ihr Fazit.

Fallvorstellungen Hüfte und Schulter: Risikopatienten
intensiv kontrollieren

Wie beliebt und praxisnah die Fallvorstellungen beim VSOU-Kongress sind, zeigte sich auch in diesem Jahr. Der Seminarraum war restlos gefüllt, viele Teilnehmer hatten nur noch Stehplätze bekommen.

Den Anfang machten die „Fallvorstellungen schwierige Hüfte“, moderiert von Prof. Dr. Werner Siebert, Kassel. PD Dr. Hans Gollwitzer, München, zeigte einen Fall einer weiblichen Patientin mit Juveniler Arthritis, fünf Jahre nach Implantation und beschwerdefrei. Was sei zu tun? Getan wurde gar nichts, aufgrund fehlender Auffälligkeiten. Die Rechnung kam drei Jahre später in Form eines großen Beckendefekts und dem Revidieren des Implantats. Gollwitzer wollte mit seinem Fall vor allem auf den Wert der Laboruntersuchung hinweisen. „Zwar sieht man nicht immer sofort, ob ein Wechsel in Betracht gezogen werden sollte, aber zumindest könnten die Werte einen dazu veranlassen, engmaschiger zu beobachten“, sagte Gollwitzer.

Seine „Take-Home-Message“: Bei Patienten mit niedrigem Risiko reicht die Standardkontrolle. Aber bei Risikopatienten empfiehlt sich die zusätzliche Ionenspiegelbestimmung, Sono und MRT.

Die Diskussion eines Falls von Dr. Holger Haas, Bonn, zeigte zwei völlig unterschiedliche Sachlagen im Röntgenbild des Patienten liegend und stehend. „Achten Sie vor allem bei Patienten mit entsprechender Rückenproblematik darauf, dass er beim Röntgen steht“, lautete der Tipp von Haas.

Hohes Alter ist keine Kontraindikation

Den Vorsitz bei den Fallvorstellungen schwierige Schulter hatte Dr. Sepp Braun, Freiburg, übernommen. Referenten und Teilnehmer tauschten klinische Erfahrungen anhand nicht ganz alltäglicher Fälle aus. So zeigte etwa PD Dr. Jens Agneskirchner, Hannover, dass trotz des Alters von 72 Jahren eines Patienten die anatomische Wiederherstellung nach einem Rotationsmanschettenriss das Ziel der Behandlung sein kann. Trotzdem betonte auch Agneskirchner: „Eine gute Partialrekonstruktion ist besser als eine schlechte (vermeintliche) anatomische Rekonstruktion.“

Assistentenprogramm:
Nachwuchs im Fokus

Das VSOU-Engagement für die Weiterbildung kommt an: Sehr gut angenommen wurde das vielfältige Programmangebot für die Weiterbildungsassistenten. Ergänzt wurde der Vortragsteil durch das Trainieren am Modell. Das zeigte sich bei der Veranstaltung „Update Knietrauma“. Unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Peter Angele, Regensburg, und Dr. Dirk Holsten, Koblenz, lockten die Themen rund um Knorpelverletzungen und Kreuzbandriss zahlreiche Assistenz-, aber auch gestandene Fachärzte. „Knorpel ist wertvoller als Gold“, unterstrich Angele. Der Grund: Knorpel kann sich nicht selbst regenerieren. Einen Knorpelschaden verglich er mit einem Fußabdruck. Der Schaden liefere direkte Informationen über die Belastung. Als weitere Themen standen die Meniskus-Resektion und ihre Folgen, der Meniskusersatz sowie Kreuzbandverletzungen im Fokus.

OP-Trainingskurse

Auf große Resonanz stießen auch die OP-Trainingskurse. Hier konnten Assistenzärzte unter Anleitung von erfahrenen Operateuren am Modell üben. Beim OP-Trainingskurs „Knieendoprothetik“ zeigte Prof. Dr. Carsten O. Tibesku, Straubing, nach einer theoretischen Einführung das praktische Vorgehen. Ziel sei, den Assistenten das handwerkliche Können zu vermitteln, sagte er. Die meisten der Kursteilnehmer hatten zuvor nur ein- oder zweimal bei einer OP zuschauen dürfen.

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