Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Biomechanik von Becken- und hüftnahen Frakturen

Zu große Belastung bzw. Kräfte können auch – analog zum Schenkelhals – am Becken Auslöser für Frakturen sein, wobei Beckenfrakturen insgesamt nur etwa 2?8 % aller Frakturen ausmachen [13, 15]. Sind hierbei lasttragende Strukturen des Beckens betroffen, hat das aus biomechanischer Sicht einen gestörten Kraftfluss mit teils völligem Verlust der Kraftleitung zur Folge. Die biomechanisch relevanten und Kraft tragenden Strukturen sind im hinteren Beckenring lokalisiert, sodass Verletzungen hier zu einer Schwächung der Belastungsachse des Beckenringes führen und deshalb häufiger operativ stabilisiert werden müssen. Isolierte Verletzungen des vorderen Beckenringes, wie der Symphyse und der vorderen Schambeinäste, führen in der Regel nicht zu einer substantiellen mechanischen Schwächung des Beckenringes. Diese Bereiche liegen außerhalb der Kraft tragenden Belastungsachse des Beckens und wirken beim normalen Gehen eher als „Stoßdämpfer“ [16].

Niedrigenergetische Traumata: Fragilitätsfrakturen des Beckens

Die meisten Beckenfrakturen treten bei Personen im Alter von über 60 Jahren auf, sind mit einer Osteoporose verbunden und liegen einem inadäquaten Trauma zugrunde, welches bei normaler Knochensubstanz nicht in einer knöchernen Verletzung resultieren würde. Im Gegensatz zur Beckenfraktur beim jungen Menschen im Rahmen von Hochrasanztraumata, wie beispielsweise Verkehrsunfällen oder Stürzen aus großer Höhe, reichen bei diesen Fragilitätsfrakturen Stolperstürze aus. Inzwischen beträgt das Verhältnis von durch hochenergetischen zu niederenergetischen Verletzungsmechanismen bei Beckenverletzungen 1:9 zugunsten der „Niedrigenergie“-Beckenfrakturen – aufgrund der zukünftigen Altersstruktur mit zunehmender Tendenz [9, 16]. Nicht zu unterschätzen ist hierbei insbesondere die Mortalität innerhalb des ersten Jahres von bis zu 27 % [24].

Durch die Osteoporose wird hauptsächlich der hintere Beckenring geschwächt, anatomisch sind dies die dreieckigen Regionen der Basis des Kreuzbeines und die Kreuzbeinflügel. Durch die laterale Kompression bei Sturzereignissen aus niedriger Höhe entstehen so häufig bilaterale Kompressionsfrakturen der Kreuzbeinflügel, wie sie in Abbildung 4 dargestellt sind. Da der Kraftvektor von lateral auf das Becken einwirkt und es sich beim Becken um eine Ringstruktur handelt, führt die Kompression zu einem doppelten Ringbruch und somit zu einem Kollaps des gesamten Beckenringes, im vorderen Beckenring meist zu dislozierten Frakturen der Schambeinäste, im hinteren zur oben genannten Kompressionsfraktur des Sakrum [28]. Die Frakturmuster sind hierbei durch die osteoporotischen „Schwachstellen“ und die regelhafte Krafteinwirkung von lateral sehr ähnlich und werden in einer eigenen Klassifikation als „fragility fractures of the pelvis“ (FFP) charakterisiert [25]. Bei niederenergetischen Traumata, wie etwa einem Stolpersturz beim älteren Menschen, kommt es häufig zu vorderen Beckenringfrakturen, wie etwa Frakturen am oberen und unteren Schambein, aber auch zu nicht-dislozierten Sakrumfrakturen, wobei die Kontinuität der Ringstruktur meist nicht wesentlich beeinträchtigt ist und daher die konservative Therapie im Fokus steht [14].

Hochenergetische Traumata: AO-Klassifikation

Dem gegenüber stehen hochenergetische Verletzungen, welche etwa bei Stürzen aus großer Höhe oder bei PKW-Kollisionen auftreten und die in etwa 15 % der Fälle eine Unterbrechung des Beckenringes und somit eine Beeinträchtigung der Stabilität des Beckenringes zur Folge haben [7]. Hier sind – verglichen zu den niedrigenergetischen Traumata – die Kraftverhältnisse in Richtung und Impakt sehr unterschiedlich sowie die einwirkende Kraft viel höher, sodass die Frakturmuster nicht vergleichbar sind und die oben genannte Klassifikation nicht anwendbar ist. Hier spielt bei der Einteilung und Stabilitätsbeurteilung dieser Frakturen viel mehr die AO-Klassifikation des Beckens in Anlehnung an Tile und Pennal [26] eine Rolle:

Typ-A-Verletzungen

Typ-A-Verletzungen resultieren üblicherweise aus punktuellen Krafteinwirkungen oder lokalen Zugkräften und führen hierdurch meist zu unifokalen Frakturen im Randbereich des Beckens wie beispielsweise einer oberen Schambeinast- oder einer apopyhsären Abrissfraktur oder am Steißbein zu Frakturen unterhalb des Iliosakralgelenkes. Da hierdurch die Biomechanik des Beckens im lasttragenden Bereich und somit auch der Kraftfluss nicht wesentlich beeinflusst werden, ist eine operative Stabilisierung dieser Frakturen nicht zwingend notwendig.

Typ-B-Verletzungen –
Laterale Kompression

Häufigste Ursache einer Typ-B-Verletzung ist die seitliche Krafteinwirkung auf das Becken. Hierbei werden die beiden Ossa coxae zusammengepresst, was bei gleicher einwirkender Kraft aufgrund der geringeren Fläche und hierdurch resultierender höheren Spannung zu Frakturen am vorderen Beckenring im Schambeinbereich und nur zu partiellen Läsionen am hinteren Anteil des Beckens führt. Am posterioren Anteil des Beckens sind aufgrund der kräftigen Ausbildung der dorsalen sakroiliakalen Bänder vor allem die ventralen knöchernen Anteile der das Iliosakralgelenk bildenden Strukturen betroffen. Folge ist daher eine horizontale Instabilität bei erhaltener vertikaler Stabilität im hinteren Anteil des Beckens. Die Behandlung verbleibt hier meist konservativ.

Typ-B-Verletzungen – anterio-posteriore-Kompression

Typische Krafteinwirkung bei dieser Form der B-Verletzung, welche eine Rotation einer oder beider Seiten des Beckens zur Folge hat, ist eine über das gebeugte Femur von distal einwirkende Kraft auf den Beckenring, sodass hierdurch ein ventrales Aufklappen des hinteren Beckenringes mit Kontinuitätsunterbrechung der Symphyse verursacht wird. Diese Typ-B1-Frakturen werden auch der Frakturmorphologie entsprechend als Open-Book-Frakturen beschrieben und haben eine horizontale Instabilität bei erhaltener vertikaler Stabilität des posterioren Anteils des Beckens – aufgrund des noch intakten dorsalen Anteils der sakroiliakalen Bänder – zur Folge. Diese Verletzungen sollten einer operativen Stabilisierung zugeführt werden.

Typ-C-Verletzungen –
vertikale Scherfraktur

Typ-C-Verletzungen haben eine Verletzung des Sakrums oder der Iliosakralgelenke bei gleichzeitiger Läsion des vorderen Beckenringes im Sinne einer vorderen Beckenringfraktur oder einer Symphysensprengung zur Folge. Zugrundeliegender Mechanismus ist meist eine von distal in axialer Richtung auf eines der beiden Ossa coxae einwirkende Kraft, wie etwa bei der Landung auf einem Bein nach einem Sturz aus größerer Höhe, welche zur Verschiebung eines Os coxae nach kranial führt. Häufige lokale knöcherne Begleitverletzungen sind hierbei Frakturen der ipsilateralen lumbalen Processi transversi, welche zwar von nur untergeordneter klinischer Relevanz sind, jedoch zur Stabilitätsbeurteilung der Beckenverletzung als indirektes Zeichen bei gegebenenfalls bereits stattgehabter Reposition und liegendem Beckengurt herangezogen werden können. Insgesamt resultiert durch diese Krafteinwirkung eine translatorische vertikale und horizontale Instabilität des posterioren Anteils des Beckens, welche aufgrund der vollständigen Unterbrechung des Kraftverlaufes im Beckenring dessen kompletten Verlust der Tragfähigkeit zur Folge hat [10]. Die operative Therapie ist bei diesen Verletzungen als essenziell anzusehen.

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