Übersichtsarbeiten - OUP 01/2014

Botulinumtoxin in der Kinderorthopädie
Botulinum toxin A in children’s orthopedics and neurosurgery

R. Placzek1, 4, B. Westhoff2, 4, K. Babin3

Zusammenfassung: Hauptindikation für Botulinumtoxin A in der Kinder- und Neuroorthopädie ist die Therapie von Patienten mit Cerebralparese. Die Behandlung gilt als sicher und effektiv und stellt für dieses Patientengut heutzutage einen unverzichtbaren Therapiepfeiler dar. Ziele sind die Funktionsverbesserung, die Förderung der motorischen Entwicklung, die Kontrakturprophylaxe und die Schmerztherapie. Der alleinigen Injektion kommt dabei nur eine untergeordnete Bedeutung zu, da die wesentlichen Therapiechancen in einem multimodalen Behandlungskonzept aus u.a. Physio-/Ergotherapie, Orthesenversorgung, operativem Therapiespektrum und systemischen Spasmolytika liegen. Moderne Therapiestrategien integrieren die Botulinumtoxin-Therapie sinnvoll in diesen Therapiekanon und entsprechen der Notwendigkeit einer langfristigen Therapieoption.

Schlüsselwörter: ICP, Cerebralparese, Botulinumtoxin, Key-Muscle-Konzept, Spastik

 

Zitierweise

Placzek R, Westhoff B, Babin K: Botulinumtoxin in der Kinderorthopädie.

OUP 2014; 1: 022–026, DOI 10.3238/oup.2014.0022–0026

Abstract: The main indication for Botulinum toxin A in children’s orthopedics and neurosurgery is the treatment of patients with cerebral palsy. The treatment is considered safe and effective for this patient population and is nowadays an indispensable pillar. Therapy goals are to improve function, promote motor development, contracture avoidance and pain therapy. The sole injection has less importance, since the main therapeutic opportunities lay in a multimodal treatment concept, among others physio-/occupational therapy, orthotics, surgery and systemic therapy such as antispasmodics. Modern treatment strategies integrate the Botulinum toxin therapy useful in this canon of therapies and correspond to the necessity for long-term treatment option.

Keywords: CP, cerebral palsy, botulinum toxin, key-muscle-concept, spasticity

 

Citation

Placzek R, Westhoff B, Babin K: Botulinum toxin A in children’s orthopedics and neurosurgery

OUP 2014; 1: 022–026, DOI 10.3238/oup.2014.0022–0026

Einleitung

Die gängige Anwendung von Botulinumtoxin im Bereich der Kinder- und Neuroorthopädie ist die Behandlung der Spastik jeglicher Genese. Behandlungsansätze, auch den Verlauf des M. Perthes günstig zu beeinflussen [1] oder als Ergänzung der Ponseti Methode den kongenitalen Klumpfuß zu behandeln [2], führten bisher zu keiner breiteren Akzeptanz dieser Methoden.

Für die Spastik wurde bereits 1993 durch den amerikanischen Kinderorthopäden Andrew L. Koman die Behandlung des spastischen Spitzfußes bei Kindern mit Cerebralparese durch Botulinumtoxin A (BoNT-A) beschrieben [3]. Seither hat sich die Therapie mit BoNT-A als wichtiger Therapiepfeiler im Behandlungsspektrum bei Patienten mit Spastik etabliert. Therapieziele sind in der Regel die Erleichterung der Physiotherapie/Ergotherapie, die Verbesserung der Orthesenfähigkeit, die Kontrakturprophylaxe bzw. die Erleichterung der konservativen Kontrakturbehandlung und/oder die Verminderung von Schmerzen. Die Therapie gilt als sicher und effektiv. Eine Verminderung der Operationshäufigkeit unter suffizienter BoNT-Injektionstherapie gilt als belegt [4] und sie entspricht in der amerikanischen Literatur den Kriterien der evidenzbasierten Medizin als Behandlungsoption zur Therapie der Spastik von Kindern und Erwachsenen [5].

Grundlagen zur Anwendung

Ursächlich für das klinische Bild der Cerebralparese (CP)/infantilen Cerebralparese (ICP) ist eine nicht progrediente Schädigung des ersten motorischen Neurons. Die Schädigung selbst ist unveränderlich, ihre Folgen aber – insbesondere während des Wachstums – durch adäquate Therapie günstig beeinflussbar. Bei ca. 90 % der betroffenen Kinder führt diese permanente Schädigung zum Bild einer spastischen Cerebralparese, bei ca. 6 % liegt die dyskinetische und bei ca. 4 % die ataktische Form vor. Als direkte, primäre Folgen gelten neben einem abnormen Muskeltonus auch eine Herabsetzung der selektiven Muskelkontrolle, das Fehlen der reziproken Antagonistenhemmung sowie die Störung der physiologischen Körperbalance, welche letztlich zu einer Limitierung der motorischen Entwicklung führen. Als sekundäre Folgen der Spastik gelten strukturelle Kontrakturen – häufig in typischen Mustern mit Betroffenheit der Hüftbeuger, Kniebeuger, Adduktoren und des Triceps surae –, knöcherne Deformitäten wie die Coxa (valga) antetorta, Tibiatorsion und der Knicksenkfuß sowie die spastisch bedingte Hüft(sub)luxation und Skoliose.

Der Wirkmechanismus von BoNT-A beruht auf einer Reduktion der Spastik durch Hemmung der Acetylcholinfreisetzung in den synaptischen Spalt. Bereits strukturell fixierte Kontrakturen lassen sich somit kaum behandeln. Bei der Indikationsstellung zur BoNT-Behandlung muss daher bei der klinischen Untersuchung der Bewegungseinschränkung eine genaue Diskriminierung zwischen der dynamischen Komponente (Spastik) und der strukturellen Komponente (Kontraktur) erfolgen. Wird als Therapieziel eine Förderung der motorischen Entwicklung angestrebt, scheint nach heutigem Stand des Wissens ein früher Therapiebeginn sinnvoll, gleiches gilt auch für die Prophylaxe von strukturellen Kontrakturen [6, 7]. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bei Kindern mit CP die Vertikalisierung und Lokomotion im Rahmen der motorischen Entwicklung meist vor dem 7. Lebensjahr stattfindet [8]. Ca. 60 % der Kinder mit einer bilateralen Spastik (spastische Di-/Tetraparese) erreichen die Gehfähigkeit bis zum 5. Lebensjahr, weitere 10 % bis zum 10. Lebensjahr [9].

Bezüglich der Notwendigkeit zur Integration der BoNT-A Therapie in ein multimodales Gesamtkonzept besteht breiter Konsens [10]. Im klinischen Alltag kann sie häufig bei Indikationsstellung im Rahmen eines integrierenden Therapiemanagements in ein bereits bestehendes Therapieschema integriert werden. Ziel sollte es dabei sein, das sich durch die Reduktion der Spastik ergebende „Therapiefenster“ durch eine Intensivierung der laufenden (Physio-/Ergotherapie)-Therapie optimal zu nutzen. Des Weiteren sollte bei der Behandlung von Kindern das „social setting“, also die soziale Umgebung wie Familie, Schule/Pflegeeinrichtung, Hobbys, Freunde etc., in besonderer Weise beachtet werden. In der Praxis fordert dies eine enge Kommunikation der behandelnden Disziplinen, Flexibilität und Pragmatismus.

Sicherheit

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