Übersichtsarbeiten - OUP 01/2014

Botulinumtoxin in der Kinderorthopädie
Botulinum toxin A in children’s orthopedics and neurosurgery

Besonders anfällig für das Auftreten von Nebenwirkungen sind schwer betroffene CP-Patienten (GMFCS level V) [11, 12]. Grenzwertig kompensierte Organsysteme dieser Patienten können durch bereits geringfügige Schwächung dekompensieren und somit unerwünschte Effekte herbeiführen. Daher wird insbesondere bei schwer betroffenen Kindern bzgl. der Dosierung die Beachtung der Herstellerangaben für die Spastik spezifischen Zulassungen im europäischen Ausland (20 Einheiten/kg KG für Abo-BoNT-A, z.B. Dysport) bzw. konservativer Dosierungsempfehlungen (12 Einheiten/kg KG für Botox [13] empfohlen.

Neben der Gesamtdosis wird auch die Art der Sedierung bzw. Narkose als Risikofaktor für das Auftreten schwerwiegender Komplikationen diskutiert [11].

Anmerkung der Verfasser

Auf Initiative der amerikanischen Federal Drug Administration (FDA) werden die unterschiedlichen Handelsnahmen der Botulinumtoxin-A-Präparate der einzelnen Hersteller zunehmend herstellerspezifisch und neutral benannt:

  • Firma Allergan (derzeit Botox® und Vistabel®): Ona-BoNT
  • Firma Ipsen Pharma (derzeit Dysport® und Azzalure®): Abo-BoNT
  • Firma Merz (derzeit Xeomin® und Bocouture®): Inco-BoNT

Therapiestrategie

Die zwischenzeitlich propagierte Hochdosis-Multilevel-Therapie mit dem Ziel, jeden spastischen Muskel zu adressieren, ist mittlerweile weitgehend verlassen worden. Gründe hierfür mögen zum einen in der Zurücknahme der in Konsensus-Statements empfohlenen Höchstdosen [10, 14] liegen, und zum anderen auch in nachgewiesenen langfristigen Veränderungen in Muskeln gesunder Erwachsener [15].

Ziel moderner Therapiestrategien ist daher neben einer GMFCS-adaptierten Höchstdosierung [16] die individuelle und therapiezielorientierte Injektion bestimmter Muskeln unter Fortführung eines multimodalen interdisziplinären Behandlungskonzepts. Als mittlerweile etablierter Vertreter dieser modernen Konzepte gilt das Key-Muscle-Konzept [17, 18]. Hierbei werden zur Verbesserung der motorischen Entwicklung bzw. zur Kontrakturprophylaxe besonders in den Wachstumsschüben bestimmte und an definierten motorischen Meilensteinen orientierte Muskelgruppen – die Key-Muscles – injiziert (s. Tab. 1).

Als Key-Muscles sind hierbei Muskeln definiert, welche

  • a) durch ihre Spastizität das Erreichen des nächsten „motor milestone“ verhindern,
  • b) Muskeln mit akuter Kontrakturgefährdung.

Spastische Muskeln ohne eine relevante funktionelle Beeinträchtigung, ohne akutes Risiko für die Ausbildung struktureller Kontrakturen oder solche, die durch ihren Tonus sogar Kompensationsmechanismen ermöglichen, müssen nicht zwangsläufig injiziert werden.

Tabelle 1 zeigt die einzelnen motorischen Meilensteine und die hierbei besonders zu bedenkenden – weil Entwicklung limitierenden – Muskelgruppen.

Bei der Injektion von Muskeln mit dem Primärziel der Kontrakturprophylaxe bzw. der Therapie leichter Kontrakturen ist die Kombination mit Redressionsgipsen möglich. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit des Entstehens von Druckstellen besteht und viele Kinder aufgrund ihrer Behinderung kaum in der Lage sind, Beschwerden adäquat mitzuteilen. Auch erfordert das zur höheren Effizienz erforderliche Nachgipsen nach 4–7 Tagen einen recht hohen logistischen Aufwand. Bisher liegt keine Standardisierung vor und zum idealen Anlagezeitpunkt der Redressionsgipse d.h. ca. 2 Wochen vor, bei oder bis zu 2 Wochen nach der BoNT-Injektion finden sich keine fundierten Studien [19]. Um eine zu starke Inaktivitätsatrophie auch der nicht spastischen Muskulatur zu vermeiden, wird empfohlen, die Gipse keinesfalls länger als 2 Wochen anzulegen [20].

Lagerungsschienen, welche zur Physiotherapie leicht abgenommen werden können und deren Nutzung über einen längeren Zeitraum erfolgen kann, bilden eine Alternative. Über einstellbare Gelenke lässt sich zudem eine tagesindividuelle Passgenauigkeit erreichen.

Früher Therapiebeginn

Die Rationale einer möglichst frühen Therapie beruht auf der Erkenntnis, dass bereits im ersten Jahr der motorischen Entwicklung willkürliche Bewegungen um Verhaltensziele organisiert werden. Hierbei versuchen Kinder eine Kombination von Manövern, um ans Ziel zu gelangen, und erlernen so neue und schnellere Bewegungen sowie deren Koordination. Zum Erreichen einer beständigen Funktion ist eine repetitive Durchführung notwendig. Bei Kindern mit Cerebralparese kann es zu einer falschen Kombination von Bewegungen kommen. In der Folge führen vielfache Wiederholungen zu unphysiologischem Lernen, d.h. zu einer unphysiologischen motorischen Entwicklung oder auch zur Vernachlässigung der betroffenen Extremität. Es wird diskutiert, dass unphysiologische Bewegungen in einem sich entwickelnden Gehirn zu dauerhaften Effekten führen [21]. Bei ausreichend früher Therapie werden unphysiologische Bewegungsmuster so gar nicht erst erlernt, und motorische „Sackgassen“ können vermieden werden. Im Key-Muscle-Konzept wird die Bedeutung der ersten beiden Lebensjahre besonders berücksichtigt, in der physiologischen Entwicklung werden in dieser Zeit alle 5 „motor milestones“ erreicht,. Ebenso ist eine frühe Behandlung zur Prophylaxe fixierter Kontrakturen und der spastisch bedingten Hüftlateralisaton und Luxation empfohlen [22, 23].

Das Risikoprofil für die genannten Dosierungen unterscheidet sich bei Kindern unter 2 Jahren nicht von denen älterer Kinder [7]. Essenziell für den Erfolg dieser frühen Therapie ist die suffiziente physiotherapeutische Betreuung [24]. Die aktuell diskutierte Annahme einer Verbesserung der motorischen Entwicklung bei frühem Therapiebeginn auf dem Boden einer dann noch potenteren Neuroplastizität scheint plausibel. Allerdings wird diese komplexe Fragestellung in der aktuellen Literatur so gut wie gar nicht behandelt, sodass diesbezüglich keine evidenzbasierten Daten vorliegen [25].

Lange Therapieoption

Grundvoraussetzung für eine lange Therapieoption ist die Vermeidung von sekundärer Non-response und Antikörperbildung. So werden im Rahmen des Key-Muscle-Konzepts Multilevel-Injektionen unter konsequenter Einhaltung bewährter Dosierungsempfehlungen durchgeführt (für Abo-BoNT bei Erstinjektion: 20 Einheiten/kg KG, Folgeinjektionen: 10–30 Einheiten/kg KG, Gesamtdosis 1000 Einheiten (europäische Zulassung). Für Ona-BoNT: bis 12 Einheiten/kg KG, Gesamtdosis: 300 Einheiten [13].

Zusammenfassung

Die Botulinumtoxin-Behandlung von Kindern mit Cerebralparese ist sicher, sofern die Empfehlungen und Dosierungsrichtlinien beachtet werden. Ihr mittel- bis langfristiger Therapieerfolg hängt wesentlich von der richtigen Indikation und der Integration in ein multimodales Gesamtkonzept ab, welches alle weiteren notwendigen Bestandteile wie Orthesenversorgung, Physiotherapie, Ergotherapie, Medikation etc. enthält. Es gilt: Kein „Entweder-oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch“.

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