Übersichtsarbeiten - OUP 07/2019

Craniomandibuläre Dysfunktion – eine oft nicht beachtete Komorbidität des nicht-spezifischen Rückenschmerzes
Retrospektive Praxisstudie mit 652 CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten

Brigitte Losert-Bruggner, Manfred Hülse, Roland Hülse

Methode: Kiefer- und Kopfgelenke bilden eine kybernetische Einheit. Ziel dieser Studie ist es, mögliche Zusammenhänge zwischen der Chronifizierung des nicht-spezifischen Rückenschmerzes und der CMD/CCD zu ermitteln.

Ergebnisse: Von den 652 CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten waren 67,7 % der Patienten weiblich, 32,3 % männlich. 82,8 % erfüllten zusätzlich die diagnostischen Kriterien der AWMF 2012 des Fibromyalgie-Syndroms. Durch die synchrone Therapie der CMD-CCD-FWS konnte bei 85 % der bislang therapieresistenten CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten doch noch eine gute Besserung der Beschwerden im Körper und bei 90 % eine Besserung der Beschwerden im Kiefer erzielt werden.

Diskussion: Die CMD kann als Folge chronischer Schmerzen auftreten. Umgekehrt kann eine CMD auch muskuloskelettale Störungen hervorrufen oder unterhalten. Bei der Diagnose und der Behandlung des nicht-spezifischen Rückenschmerzes muss auch eine CMD untersucht und mitbehandelt werden.

Schlüsselwörter:
nicht-spezifischer Rückenschmerz, chronische Schmerzen, craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), craniocervikale Dysfunktion (CCD), funktionelle Wirbelsäulenstörungen (FWS), Fibromyalgie-Syndrom (FMS), interdiziplinäre myozentrische Aufbissschienentherapie, Manualtherapie, Atlasimpulstherapie
nach Arlen

Zitierweise:
Losert-Bruggner B, Hülse M, Hülse R: Craniomandibuläre Dysfunktion – eine oft nicht beachtete
Komorbidität des nicht-spezifischen Rückenschmerzes. OUP 2019; 8: 428–440
DOI 10.3238/oup.2019.0428–0440

Abstract

Method: Jaw and head joints form a cybernetic unit. The aim of this study is to determine possible relationships between the chronification of non-specific back pain and the CMD / CCD.

Results: Of the 652 CMD-CCD-back pain patients, 67.7 % of the patients were female, 32.3 % were male. In addition, 82.8 % met the diagnostic criteria of AWMF 2012 for fibromyalgia syndrome. Thanks to the synchronous therapy of the CMD-CCD-FWS, 85 % of the previously therapy-resistant CMD-CCD-back pain patients were able to achieve a good improvement of the complaints in the body and 90 % an improvement of the complaints in the jaw.

Discussion: CMD can occur as a result of chronic pain. Conversely, CMD may also cause or sustain musculoskeletal disorders. In the diagnosis and treatment of non-specific back pain, a CMD must also be examined and treated.

Keywords: non-specific back pain, chronic pain, craniomandibular dysfunction (CMD), craniocervical dysfunction (CCD), functional spinal disorders (FWS), Fibromyalgia syndrome (FMS), interdisciplinary myocentric bite splint therapy, manual therapy, Atlas Impulse Therapy according to Arlen.

Citation: Losert-Bruggner B, Hülse M, Hülse R: Craniomandibular dysfunction – often overlooked comorbidity of non-specific back pain. OUP 2019; 8: 428–440 DOI 10.3238/oup.2019.0428–0440

Brigitte Losert-Bruggner: MICCMO, Privatzahnärztliche Praxis für Cranio-Mandibuläre Orthopädie, Lampertheim-Hüttenfeld

Manfred Hülse: Universitäts-Klinik Heidelberg, HNO-Mannheim

Roland Hülse: Universitäts-Klinik Heidelberg, HNO-Mannheim Fakultät für Therapiewissenschaften, SRH Hochschule Heidelberg

Einleitung

Nicht-spezifische muskuloskelettale Erkrankungen sind die mit Abstand häufigsten Ursachen für Wirbelsäulenerkrankungen und chronische Schmerzen. Muskuloskelettale Erkrankungen sind weltweit ein belastendes Problem, das sich auf den Menschen selbst mit Behinderungen und auf die Gesellschaft mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem auswirkt. Der überwiegende Teil dieser Erkrankungen ist unspezifischer Natur, man kann keine ausreichende organische Ursache finden. Der am meisten betroffene Bereich ist der Rücken, und Rückenschmerzen verursachen den größten Teil der Gesundheitskosten für chronische Schmerzen und die meisten Behinderungen für die Betroffenen und deren soziales Umfeld [3, 6, 9, 30].

In den neuen, 2017 veröffentlichten Nationalen Versorgungsleitlinien nicht-spezifischer Kreuzschmerz für Deutschland wird berichtet, dass 85 % der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben Kreuzschmerzen bekommen. Jede vierte Frau und jeder sechste Mann hatten zum Zeitpunkt der Befragung 2009/2010 im Jahr zuvor unter Kreuzschmerzen gelitten, die mindestens 3 Monate anhielten und sich nahezu täglich bemerkbar machten [3].

Einer retrospektive Querschnittsstudie von Romanelli et al. zufolge, die für das ganze Jahr 2012 elektronische Gesundheitsdaten von 1.784.114 Patienten ausgewertet hat, berichten 120.481 (6,8 %) der amerikanischen Erwachsenen über mindestens 2 Arten von chronischen Schmerzen, wobei Rücken- und Nackenschmerzen mit 49 % vertreten waren [25].

Breivik et al. berichtet in einer Telefonumfrage mit 46.394 erwachsenen Befragten (Ablehnungsrate 46 %) aus 15 europäischen Staaten und aus Israel darüber, dass 19 % der Befragten seit 6 Monaten chronische Schmerzen angaben, mehrmals in der vorhergehenden Woche. 61 % waren vermindert oder ganz unfähig, außerhalb des Zuhauses zu arbeiten. 19 % hatten ihre Arbeit verloren, und 13 % hatten schmerzbedingt ihre Arbeitsstelle gewechselt. 60 % der Befragten konsultierten ihren Arzt wegen der Schmerzen 2- bis 9-mal in den letzten 6 Monaten [2].

Eine Prävalenz mit 31 % für die 3-Monats-Prävalenz von Rücken- und/oder Nackenschmerzen in den USA wird von Strine et al. in einer querschnitts- und bevölkerungsbasierten Gesundheitsumfrage von 29.828 Erwachsenen veröffentlicht [28].

Über ähnlich hohe Prävalenzen chronischer Rückenschmerzen wird auch in Finnland [12], Brasilien [19], England [29], Japan [20] und den Niederlanden [16] berichtet.

2000 fand sich eine Forschergruppe der WHO zur Ermittlung der globalen Belastung durch muskuloskelettale Erkrankungen zusammen, deren Ergebnisse 2003 veröffentlicht wurden. Nicht-spezifische muskuloskelettale Erkrankungen sind die mit Abstand häufigsten Ursachen für Wirbelsäulenerkrankungen und haben den größten Einfluss auf Einzelpersonen, Gesundheitssysteme und Gesellschaften insgesamt. 1995 beliefen sich die Gesamtkosten für muskuloskelettale Erkrankungen in den USA auf 214,9 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 1963 beliefen sich die Gesamtkosten für muskuloskelettale Erkrankungen in den USA auf etwa 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Ab 1980 war ein sprunghafter Anstieg der Kosten zu verzeichnen. Der Gesamtaufwand für Erkrankungen des Bewegungsapparats erreichte 1992 2,5 % des BIP und 1995 fast 3 % [30].

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