Übersichtsarbeiten - OUP 07/2019

Craniomandibuläre Dysfunktion – eine oft nicht beachtete Komorbidität des nicht-spezifischen Rückenschmerzes
Retrospektive Praxisstudie mit 652 CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten

121 (18,5 %) Patienten beklagten keine Beschwerden im Kiefer, obwohl eine CMD nachweisbar war. Durch die Einbeziehung der stummen CMD in das interdisziplinäre therapeutische Konzept konnte bei 85,0 % (n = 102) der bislang therapieresistenten Patienten doch noch eine gute bis sehr gute Besserung der Beschwerden im Körper insgesamt und bei 81,7 % (n = 98) eine Besserung der Beschwerden im Rücken herbeigeführt werden (Tab. 8). Vorstellbar ist dieser Sachverhalt, da aufgrund der fehlenden CMD-Schmerzen häufig eine Untersuchung auf CMD-Symptome unterbleibt (Tab. 9) und in Folge dessen auch nicht in die Therapie miteinbezogen wird. Einzelheiten zu CMD-Zeichen, zum Beschwerdebild und dessen Besserung sind den Tabellen 8 und 9 zu entnehmen.

Bemerkenswert ist auch, dass bei 42,0 % (n = 274) der 652 CMD-Rückenschmerzpatienten bereits ein oder mehrere Aufbissschienentherapien ohne Beschwerdebesserung durchgeführt wurden. Nur bei 4,2 % (n = 12) erfolgte diese Schienentherapie zeitgleich und kombiniert zu Entspannungsmaßnahmen. Bei 95,8 % wurde die Schienentherapie isoliert durchgeführt, was mit ein Grund dafür sein könnte, dass diese Therapie nicht zur Besserung beitragen konnte (Tab. 10).

Diskussion

Die craniomandibuläre Dysfunktion ist heute, besonders auch unter Heranziehung der apparativen Zusatzuntersuchungen, ein klar definiertes Krankheitsbild mit einer anerkannten und erfolgreichen Behandlungsmöglichkeit [5]. In der vorliegenden Untersuchung wurden 652 Rückenschmerzpatienten mit der gesicherten Diagnose CMD analysiert. Da Kiefer- und Kopfgelenke eine kybernetische Einheit darstellen, war bei allen 652 Patienten auch eine craniocervicale Dysfunktion ausgeprägt nachweisbar, sodass eine Manualtherapie der Kopfgelenkblockierung erforderlich war. Eine subjektive Beschwerdesymptomatik bei der CMD ist kaum einmal auf das Kiefergelenk lokalisiert, sondern in den meisten Fällen sehr viel weiter ausgedehnt. Cooper und Kleinberg [4] publizierten die Beschwerdebilder von 4528 Patienten mit einer CMD. 82,4 % ihrer Patienten beschrieben Ohrbeschwerden, 42,2 % Hals- und Kehlkopfbeschwerden, 79,3 % Kopfschmerzen, 51,3 % Nackenschmerzen und 41,5 % Rückenschmerzen. Im Patientengut von Losert-Bruggner et al. [18] mit 708 CMD-CCD-Patienten mit FMS finden sich neben den Schmerzen im Kiefer-, Gesichts- und Kopfbereich auch Schmerzen im Nacken-/Schulterbereich (95 %), im Rückenbereich (78 %), im Hüftbereich (41 %) und in 42 % auch im Kniebereich. Dass diese angegebenen Schmerzsymptome im kausalen Zusammenhang mit der CMD und der CCD gesehen werden müssen, ist mit den guten Behandlungserfolgen einer myozentrisch durchgeführten Schienentherapie zeitgleich und kombiniert zu manualtherapeutischen Maßnahmen zu belegen [18].

In der Literatur werden vielfältige Komorbiditäten bei Rückenschmerzen erwähnt [1, 3, 15, 23]. Nakamura et al. berichten in einer Querschnittsstudie mit 11.507 erwachsenen Personen der japanischen Bevölkerung, dass 15,4 % unter chronischen muskuloskelettalen Schmerzen leiden, wobei die häufigsten Lokalisationen neben Rückenschmerzen auch Nacken, Schulter und Knie sind [20]. Webb et al. erforschten die Prävalenz und Prädiktoren klinisch signifikantem Rückenschmerz in England über eine Fragebogenaktion, an der 5752 Erwachsene aus 3 Praxen für Allgemeinmedizin einbezogen wurden. Prävalenzschätzungen wurden berechnet und auf die allgemeine Bevölkerung extrapoliert. Die 1-Monats-Prävalenz aller berichteten Rückenschmerzen betrug 29 %. 75 % der Patienten mit Rückenschmerzen und 89 % der Patienten mit Nackenschmerzen berichteten auch von Schmerzen in weiteren Körperbereichen [29]. Bei der Betrachtung der Komorbiditäten bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen finden die CMD und die orofazialen Schmerzen aber keinen Platz, auch nicht die Empfehlung des Einbeziehens der CMD in das interdisziplinäre, multimodale Therapiekonzept. Da die CMD zu den 3 häufigsten chronischen Schmerzkrankheiten gezählt werden muss – neben Kopf- und Rückenschmerzen – und die CMD eine komplexe Pathophysiologie mit signifikanten Assoziationen zu einer Vielzahl von anderen chronischen Schmerzzuständen hat, z.B. der Fibromyalgie, fordern Ghurye et al., dass Ärzte in der Lage sind, CMD korrekt zu diagnostizieren und beim Vorliegen von Komorbiditäten einer multidisziplinären Therapie zuzuführen. Besonders auch vor dem Hintergrund, dass chronische CMD die Lebensqualität negativ beeinflusst und zu einer bedeutenden Belastung des Gesundheitssystems beiträgt [7].

Schindler et al. berichten, dass in der überwiegenden Zahl der CMD-Patienten mit Myoarthropathien eine Aufbissschienentherapie helfen kann. Sie erwähnen auch, dass die hohe Komorbidität zwischen myoarthropathischen Schmerzen und Nacken-Schulter-Rückenschmerzen ursächlich einer weiteren Abklärung bedarf. Die Autoren vermuten einen Zusammenhang mit zentralen Sensibilisierungsvorgängen, die zur Verringerung der Reizschwelle für Schmerzen führen und infolge dessen weitere Körperegionen erfasst werden können. Auch können in Folge der verringerten Reizschwelle subakute Läsionen aktiviert werden, z.B. Triggerpunkte [26, 27]. In diesem Zusammenhang müssen die Empfehlung der RDC/TMD (Research Diagnostic-Criteria for Temporomandibular Disorders) oder der nachfolgenden neuen DC/TMD (Diagnostic-Criteria for Temporomandibular Disorders) bezüglich therapeutischer Empfehlungen, wie von Schindler und Türp 2017 beschrieben, betrachtet werden.

Als nicht therapiebedürftig werden schmerzfreie Kiefergelenkgeräusche, korrigierte Seitenabweichung beim Öffnen des Munds, unterschiedlich weite Seitbewegungen des Kiefers, Palpationsempfindlichkeit der Kiefermuskulatur und der Kiefergelenke angesehen, ohne dass diese im täglichen Leben schmerzen [26, 27]. Die Ergebnisse der Autoren haben gezeigt, dass bei 121 Patienten mit nicht schmerzhafter, stummer CMD bei 85 % eine Besserung der Schmerzen im Körper insgesamt erzielt werden konnte, und speziell bei 81,7 % eine Besserung der Rückenschmerzen durch das Einbeziehen der CMD in das multimodale therapeutische Konzept. Auch bei stummer CMD sollte bei therapieresistenten chronischen Schmerzen eine Untersuchung auf CMD erfolgen, und es sollte mit einfachen Testungen, wie z.B. dem Aqualizer-Test, die Auswirkung der Kieferstellung auf die Körperperipherie untersucht werden [13].

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