Übersichtsarbeiten - OUP 01/2024

Das Iliosakralgelenk
Von der Anatomie zur Therapie

Alexander Schuh, Philipp Koehl, Loreto C. Pulido, Inge Unterpaintner, Achim Benditz

Zusammenfassung:
Obwohl die Iliosakralgelenke (ISG) in bis zu 30 % der Fälle Ursache für tieflumbale Rückenschmerzen sind, werden diese oftmals in differenzialdiagnostischen Überlegungen vernachlässigt. Die komplexe Anatomie und das vielfältige Schmerzbild führen häufig zu einer Fehlinterpretation einer symptomatischen ISG-Affektion mit im Verlauf frustranen Therapieversuchen. Bei der körperlichen Untersuchung spielen Untersuchungstechniken aus der manuellen Therapie eine große Rolle. Neben Physiotherapie stellen Infiltrationen einen wichtigen diagnostischen und therapeutischen Baustein dar. Minimalinvasive Radiofrequenzdenervation des ISG ist möglich, wobei die Studienlage bzgl. des therapeutischen Nutzens inhomogen ist. Minimalinvasive Arthrodesen können nach Ausschöpfen des konservativen Therapiespektrums in Einzelfällen mit guten Ergebnissen indiziert sein.

Schlüsselwörter:
Iliosakralgelenk, Anatomie, Untersuchung, Therapie, Fusion

Zitierweise:
Schuh A, Koehl P, Pulido LC, Unterpaintner I, Benditz A: Das Iliosakralgelenk.
Von der Anatomie zur Therapie
OUP 2024; 13: 15–21
DOI 10.53180/oup.2024.015-021

Summary: Although the sacroiliac joints (SIJ) are the cause of deep lumbar back pain in up to 30 % of cases, they are often neglected in differential diagnostic considerations. The complex anatomy and the diverse pain pattern often lead to a misinterpretation of a symptomatic sacroiliac joint affection, which ultimately leads to frustrating attempts at therapy. Examination techniques from manual therapy play a major role in the physical examination. In addition to physiotherapy, infiltrations represent an important diagnostic and therapeutic component. Minimally invasive radiofrequency denervation of the sacroiliac joint is possible, although the evidence regarding the therapeutic benefit is inhomogeneous. Minimally invasive arthrodeses can be indicated in individual cases with good results after the conservative treatment spectrum has failed.

Keywords: Sacroiliac joint, anatomy, examination, therapy, fusion

Citation: Schuh A, Koehl P, Pulido LC, Unterpaintner I, Benditz A: Sacroiliac joint. From anatomy to therapy
OUP 2024; 13: 15–21. DOI 10.53180/oup.2024.015-021

A. Schuh: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion für Muskuloskelettale Forschung, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz

P. Koehl, L. C. Pulido, I. Unterpaintner: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz

A. Benditz: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion für Orthopädie und Wirbelsäulentherapie, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz

Einleitung

Kreuzschmerz mit und ohne Ausstrahlung in die Beine ist eine der häufigsten Erkrankungen in den westlichen Industrienationen. Er entsteht nicht nur in der Region der Lendenwirbelsäule, sondern kann auch aus dem Bereich der Iliosakralgelenke (ISG) generiert werden. Man geht davon aus, dass in bis zu 27 % der Fälle von Kreuzschmerzen die Ursache im ISG zu suchen ist [1–5, 34]. Geschichtlich wurde das ISG zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schmerzursache für lumbalen Schmerz mit und ohne Ischialgie verantwortlich gemacht. In den letzten Jahrzehnten rückte das ISG als Schmerzgenerator wieder vermehrt in den Vordergrund, da nicht alle Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie Schmerzen mit Ausstrahlung in die Beine bildmorphologisch durch Pathologien im Bereich der Lendenwirbelsäule allein erklärt werden konnten. Verschiedene spezifische Pathologien im Bereich des ISG können zu Schmerzen in der ISG-Region führen (Tab. 1) [5, 6, 34].

Ein ISG-Syndrom kann auch während der Schwangerschaft auftreten, in der ein Serumanstieg des Relaxins dazu führt, dass die iliosakrale Beweglichkeit gesteigert wird und somit Schmerzen ausgelöst werden können. Die Symptomatik verliert sich aber post partum in den meisten Fällen, sodass sich dann therapeutische Maßnahmen erübrigen [4, 7, 34].

Obwohl die ISG in bis zu 30 % der Fälle Ursache für tieflumbale Rückenschmerzen sind, werden diese oftmals in differenzialdiagnostischen Überlegungen vernachlässigt. Die komplexe Anatomie und das vielfältige Schmerzbild führen häufig zu einer Fehlinterpretation einer symptomatischen ISG-Affektion mit im Verlauf frustranen Therapieversuchen. ISG-Beschwerden treten gehäuft posttraumatisch, nach der Ausübung gewisser Sportarten, während oder nach der Schwangerschaft oder im Rahmen entzündlicher Arthropathien auf. Außerdem entwickeln bis zu 75 % aller Patientinnen und Patienten mit lumbaler Fusion nach 5 Jahren eine signifikante Degeneration der Iliosakralgelenke [1–3, 8, 9, 34].

Anatomie

Das ISG ist per Definition ein echtes Gelenk mit einer Gelenkkapsel und Gelenkflüssigkeit, das jedoch nur einen begrenzten Bewegungsumfang besitzt [2, 3, 9]. Die gelenkbildenden Flächen setzen sich aus den sakralen Segmenten S1–S3, bestehend aus dickem hyalinem Knorpel, und dem Os Ilium, bestehend aus einer dünnen Faserknorpelschicht, zusammen. Beim ISG handelt es sich um eine sog. Amphiarthrose, eine Kombination von Synarthrose und Diarthrose [2, 3, 10, 11, 34]. Als Verbindungsglied zwischen der Wirbelsäule und der unteren Extremität ist das ISG besonderen Belastungen ausgesetzt und bedarf daher einer hohen Stabilität. Die mechanische Funktion des ISG besteht hauptsächlich in einer allgemein anerkannten Vorwärtsbewegung (Nutation) und einer Rückwärtsbewegung (Gegennutation) des Sakrums in der sagittalen Ebene. Studien konnten eine minimale Bewegung im ISG mit 4°-Rotation (im Wesentlichen um die Transversalachse) und 1,6 mm Translation nachweisen [2, 3, 5, 34]. Charakteristisch ist die hohe Stabilität bei geringer Beweglichkeit. Ursächlich für diese Stabilität sind der stark ausgeprägte Kapsel-Band-Apparat und die unregelmäßige aurikuläre Architektur der Gelenkflächen. Mehrere myofasziale Strukturen stabilisieren zusätzlich das ISG: Die Wichtigsten sind der M. latissimus dorsi über die thorakolumbale Faszie, der M. gluteus maximus und M. piriformis [2, 3, 12, 13, 34]. Durch eine Funktionsstörung im Gelenk kann es zudem in den genannten Muskelgruppen sowie der Bauchmuskulatur, des M. iliopsoas oder der ischiocruralen Muskulatur zu einer reflektorischen Anspannung und Verkürzung kommen. Das Ausmaß der Beweglichkeit im ISG ist zudem individuell äußerst variabel, grundsätzlich aber bei Frauen größer aufgrund anatomischer Unterschiede und hormoneller Einflüsse [2, 3]. Einige Studien zeigen die Empfindlichkeit des ISG gegen axiale Stauchung und axiale Rotationskräfte [2]. Dies könnte das erhöhte Auftreten iliosakraler Dysfunktionen bei Athleten, vor allem Läufern und Arbeitern mit sich wiederholenden unidirektionalen Scherkräften erklären. Unfallmechanismen, wie ein direkter Sturz auf den Glutealbereich, motorisierter Unfall mit einem Bein auf der Bremse oder ein Tritt ins Leere können ebenfalls beschriebene funktionelle Störungen verursachen. Die komplexe Innervation des Gelenks stammt aus dem Plexus lumbalis und den sakralen Segmenten [2, 14, 34]. Die rein nozizeptive Versorgung des Gelenks erfolgt durch die Rami dorsales der Nervenwurzeln S1–S4. Auch die benachbarten Ligamente werden von schmerzleitenden Nervenfasern innerviert und bündeln sich mit denen des Gelenks [2, 5, 14].

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