Übersichtsarbeiten - OUP 01/2024

Das Iliosakralgelenk
Von der Anatomie zur Therapie

Es sind zahlreiche anatomische Varianten des Iliosakralgelenks in der Literatur beschrieben und sind hauptsächlich in CT-Untersuchungen nachgewiesen [5, 15–17, 34]:

  • 1. Zusätzliche Nebengelenke (extrakapsuläre fibrokartilaginöse Gelenke)
  • 2. Ein „iliosacral complex“, der einem knöchernen Vorsprung vom Ilium ausgehend einer Mulde im Sakrum entspricht
  • 3. Eine 2-teilige Knochenplatte des Iliums
  • 4. Ein halbkreisförmiger Defekt im Bereich der Gelenkfläche des Sakrums bzw. des Iliums
  • 5. Halbmondförmige Gelenkflächen des Iliums (dabei spricht man auch von einer Dysplasie)
  • 6. Ossifikationszentren
  • 7. Isolierte Synostose

Das Auftreten verschiedener anatomischer Varianten führt zu der Überlegung, dass es, insb. bei asymmetrischen Veränderungen, zu einem funktionell gestörten Gelenkspiel im ISG kommt, das Beschwerden in dieser Region auslöst [5, 34].

Anamnese/Beschwerden (Tab. 2)

Typisch sind eher paravertebrale Schmerzen im Bereich des lumbosakralen Übergangs oder des hinteren Beckenrings, teils mit Ausstrahlung in die Leiste, in das laterale oder dorsale Bein und häufig unter Aussparung des lateralen Knies. Die Schmerzen sind häufiger unilateral als bilateral und üblicherweise nicht oberhalb der Gürtellinie lokalisiert [1, 2, 4]. Außerdem sollte in der Schmerzanamnese unruhigem Sitzen mit häufigen Positionswechseln besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aufgrund des variierenden, teils (pseudo-)radikulären klinischen Bildes fehlt derzeit noch eine eindeutig reproduzierbare Kartierung der nozizeptiven Region des ISG in der Literatur [1, 2]. Wie bei allen Schmerzsyndromen muss auch in der Diagnostik und Behandlung des schmerzhaften ISG beachtet werden, dass sich die Pathomechanismen beim akuten, subakuten und chronischen Schmerz unterscheiden. Eine traumatische Genese liegt knapp der Hälfte der Fälle (44 %) zugrunde [1, 4, 6, 34]. So wird z.B. für rund ein Drittel aller Patientinnen und Patienten mit Beckenfraktur eine schmerzhafte posttraumatische ISG-Symptomatik beschrieben. Des Weiteren sollte an Differenzialdiagnosen gedacht werden, die häufig ähnliche Beschwerden verursachen, die entsprechend anamnestisch berücksichtigt werden sollten (Tab. 3).

Untersuchung

Körperliche Untersuchung

Die körperliche Untersuchung sollte die angrenzende Wirbelsäule und das Hüftgelenk mitsamt dem Bewegungsumfang und der aktiven muskulären Stabilisierung durch die pelvitrochantäre Muskulatur (Trendelenburg-Zeichen) beinhalten. Erforderlich ist die Differenzierung radikulärer Syndrome mit neurologischer Untersuchung der Sensomotorik und des Reflexstatus. Radikuläre Beeinträchtigungen werden anhand der Dermatome bzw. der segmentalen Kennmuskeln geprüft. Die ISG-Funktionsstörung wird klinisch festgestellt. Sie war in der Vergangenheit Gegenstand einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen und durchaus kontroverser Diskussionen. Eine Auswahl klinisch etablierter Tests zeigt Tabelle 4 [4]. Als erster Hinweis in der klinischen Untersuchung der Patientinnen und Patienten kann der Fortin-Finger-Test dienen; Patientinnen und Patienten mit einer ISG-Symptomatik können meistens punktgenau (< 1 cm) und reproduzierbar die Schmerzen mit einem Finger zeigen [7, 34].

Die Validität dieser Tests ist jedoch umstritten, insbesondere wenn als Referenzkriterium das Ansprechen auf einen unter Durchleuchtung vorgenommenen diagnostischen Block genommen wird [3, 4]. Schneider et al. diskutieren zum einen, dass ein klinischer Test nicht zwischen intra- und periartikulären Beschwerden zu differenzieren vermag, die intraartikuläre Injektion jedoch gezielt den artikulär generierten Schmerz ausschalte. Zum anderen sei die Genauigkeit klinischer Tests immer von der durchführenden Person abhängig. Patientenseitige Erwartungen kommen hinzu. In ihrer Studie konnten Schneider et al. keine Korrelation zwischen klinischen Tests und dem Ansprechen auf eine Infiltration nachweisen [3]. Die Tests vermögen in der klinischen Praxis nur die Verdachtsdiagnose einer schmerzhaften ISG-Funktionsstörung begründen. Eine Kombination mehrerer Tests (? 3) dagegen hat jedoch das Potenzial, die diagnostische Genauigkeit zu erhöhen. Auch eine unmittelbare Schmerzangabe über dem ISG bzw. den posterioren Bändern kann als klinischer Hinweis gewertet werden [4, 34].

Distraktionstest [18, 19, 34]

In Rückenlage wird die LWS lordosiert z.B. durch Unterlegen der Unterarme der Patientin/des Patienten. Der Untersucher führt mit gekreuzten Armen einen gleichmäßigen Druck auf die Spinae iliacae anteriores superiores aus (Abb. 1).

Faber-Test (4er-Zeichen,
Patrick-Zeichen) [8, 18–20, 34]

In Rückenlage bringt die Patientin/der Patient seinen Fuß auf den gegenseitigen Oberschenkel. Der Untersucher stabilisiert das Becken auf der Gegenseite und übt leichten Druck auf das Knie aus (Abb. 2).

Kompressionstest
[18, 19, 34]

Die Patientin/der Patient liegt in Seitenlage. Der Untersucher steht dorsal und übt Druck auf die Darmbeinschaufel aus (Abb. 3).

Gaenslen-Zeichen [18, 19, 34]

Die Patientin/der Patient liegt in Rückenlage, möglichst nah an der Kante der Untersuchungsliege. Auf der Gegenseite zieht die Patientin/der Patient das Bein in volle Hüftflexion, während auf der betroffenen Seite das Bein neben der Liege abgesenkt wird (Abb. 4).

Vorlaufphänomen [18, 19, 34]

Bei der/dem stehenden Patientin/Patienten werden die Spinae iliacae posteriores superiores getastet. Der Test ist positiv, wenn beim Vornüberbeugen der Patientin/des Patienten die Spina der betroffenen Seite weiter nach vorn gezogen wird (Abb. 5). Dieser Test wird jedoch inzwischen aufgrund des Weichteilmantels vieler Patientinnen/Patienten als wenig valide eingestuft.

Bildgebende Verfahren

Bildgebend besteht bei der Diagnostik des ISG-Schmerzes das Problem der sehr geringen Sensitivität radiologischer Methoden [3]. Die bildgebende Diagnostik dient dem Ausschluss spezifischer Schmerzursachen, welche insb. in Form destruktiver, entzündlicher und degenerativer Veränderungen vorliegen können. Dabei muss die geringe Spezifität der Bilddiagnostik berücksichtigt werden: Bei Kindern und Erwachsenen kann im Rahmen der modernen Bildgebung eine Vielzahl an Normvarianten und Zufallsbefunden im und um das ISG erhoben werden, ohne dass hieraus eine klinische Symptomatik resultieren muss (vgl. o.) [2–4, 34].

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